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Holocaust-Gedenktag
"Hass bekämpft man durch Bildung"

Besuche junger Menschen in ehemaligen KZ hält Haim Korsia für sehr nützlich. Schüler sollten allerdings selbst über die Teilnahme entscheiden, sagte der Oberrabbiner von Frankreich im Dlf. Er schlägt vor, eine europäische Agentur gegen Antisemitismus auf den Weg zu bringen.

Haim Korsia im Gespräch mit Christoph Heinemann | 26.01.2018
    Haim Korsia im Porträt
    Der Oberrabbiner von Frankreich, Haim Korsia, plant eine europäische Agentur gegen Antisemitismus (imago / Leemage)
    Christoph Heinemann: Was antworten Sie Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Frankreich, die eine Auswanderung nach Israel nicht ausschließen?
    Haim Korsia: Jeder ist frei. Im Allgemeinen ist es im Leben allerdings intelligenter, wenn man Dinge tut, weil man sie tun möchte und nicht aus Angst. Wenn jemand Frankreich verlässt, weil er sich hier nicht wohl oder nicht zugehörig fühlt, dann stellt sich für Frankreich eine Frage. Eine solche Flucht ist ein großes Problem für Frankreich, nicht für die jüdische Gemeinde. Für das Land.
    Heinemann: Haben Sie den Eindruck, dass die Politik in Frankreich dieses Problem ernst nimmt?
    Korsia: Selbstverständlich. Das ist unstrittig.
    Heinemann: In ausreichender Weise?
    Korsia: Vor drei oder vier Jahren wurde dem in herausragender Weise Rechnung getragen, mit einem Plan zum Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, der mit 100 Millionen Euro für drei Jahre ausgestattet wurde. Das ist viel Geld und wir haben Ergebnisse erzielt. Die Anzahl der antisemitischen Taten hat sich verringert, auch wenn sie sich immer noch auf einem inakzeptablen Niveau bewegen. Eine einzige solche Tat ist schon nicht hinnehmbar.
    Ich habe kürzlich den österreichischen Bundeskanzler getroffen, der in sechs Monaten die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Ich habe ihm vorgeschlagen, eine europäische Agentur gegen den Antisemitismus auf den Weg zu bringen. Denn die großen antisemitischen Bewegungen sind europäische. Im Osten gibt es die Tendenzen, die einen gegen die anderen aufzubringen, Sündenböcke zu suchen. Zumindest in Frankreich wurden Maßnahmen ergriffen und begonnen, das Problem einzudämmen. Und dabei geht es nicht nur um eine Antwort der einen oder andern auf den Antisemitismus, sondern allgemein um eine Antwort auf Nichtverstehen und die Negation dessen, was die Republik und unsere Gesellschaften ausmacht.
    "Rassismus beginnt mit Vorurteilen. Die muss man aufbrechen"
    Heinemann: Besteht ein Unterschied zwischen dem traditionellen Antisemitismus – etwa eines Jean Marie Le Pen – und dem Antisemitismus muslimischer Einwanderer?
    Korsia: Ich unterscheide nicht. Wenn Sie auf der Straße herabgewürdigt werden, dann besteht kein Unterschied, ob das von dem einen oder dem anderen ausgeht. Und was den neuen Antisemitismus betrifft: darüber spricht man seit etwa 20 Jahren. Ganz gleich woher: Antisemitismus ist unerträglich. Es gibt keine Abstufungen. Den Hass bekämpft man durch Bildung. Und zuvor durch Entschlossenheit und klare Repression solcher antisemitischer Taten. Wenn das gewährleistet ist, kann man mit Bildungsprogrammen für die künftigen Generationen arbeiten. Wir verfügen alle über Vorurteile. Und dort beginnt Rassismus. Diese Vorurteile muss man aufbrechen.
    Heinemann: Was raten Sie den Behörden in Deutschland?
    Korsia: Ich habe Deutschland bewundert, das so viele Menschen aufgenommen hat, ohne Diskussion. Diese Aufnahme ist der erste Reflex. Natürlich heißt das nicht, dass man Bösewichte ins Land lassen sollte. Das muss man kontrollieren und denen, die kommen, sagen: Das ist unser Gesellschaftsmodell, und das müsst ihr akzeptieren. Und in keinem Modell, jedenfalls nicht in unserem, darf irgendjemand gering geschätzt werden, etwa Frauen. Sollte der Wille zur Integration fehlen, muss das Folgen haben. Nur sollte man nicht sagen, wir lehnen Menschen ab, nur weil sie aus einer bestimmten Gegend kommen und man vermutet, dass sie Werte vertreten, die denjenigen unserer Gesellschaften negativ gegenüber stehen.
    "Wenn wir den Zeitzeugen zuhören, werden wir zu deren Zeugen"
    Heinemann: In Deutschland wird gegenwärtig darüber diskutiert, ob alle Schülerinnen und Schüler ab einem gewissen Alter verpflichtend ein ehemaliges Konzentrationslager besuchen sollten. Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, hat sich in unserem Sender dafür ausgesprochen. Ist das ein Mittel, um ein Abgleiten in den Antisemitismus verhindern zu können?
    Korsia: Merkwürdig. Ich glaube, alles, was obligatorisch ist, funktioniert nicht. Es ist ein hervorragender Vorschlag. Ich organisiere in jedem Jahr eine Reise nach Auschwitz. Mit jungen Menschen, Schülern, Studenten, Priestern, Pastoren, Imamen, Rabbinern. Und ich bin überzeugt, dass dies sehr stark wirkt, etwa um - wie man heute sagt: Fake News zu zerstören, vom Negationismus bis zum Revisionismus. Und unter den Mitgliedern dieser Gruppen entsteht Nähe. Das ist großartig. So werden aus jungen Menschen Zeugen der Zeitzeugen. Denn, glauben Sie mir, eine wichtige Frage der kommenden Jahre wird lauten: wie können wir die Erzählungen derjenigen weitergeben, die von uns gehen. Elie Wiesel hat es gesagt: wenn wir den Zeitzeugen zuhören, werden wir zu deren Zeugen. Ich halte solche Reisen für sehr wichtig. Wenn Sie damit konfrontiert werden, was aus einer einfachen Beleidigung im allerletzten Stadium entstehen kann, geraten Sie ins Nachdenken.
    Heinemann: Aber nicht als verpflichtende Reise …
    Korsia: Es hat mehr Gewicht, wenn junge Menschen selbst entscheiden können.
    Heinemann: Besteht nicht das Risiko, dass diejenigen, die eine solche pädagogische Arbeit dringend benötigen, nicht dorthin fahren?
    Korsia: Das ist richtig. Aber es gehört zu den Aufgaben der für die Bildung Zuständigen, zu erklären, warum das so wichtig ist.
    "Wenn jemand sagt, wir gedenken zu viel, heißt das, dass man noch nicht genug getan hat"
    Heinemann: In Deutschland fordert der AfD-Politiker Björn Höcke eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Wie reagieren Sie auf eine solche Forderung?
    Korsia: Ich möchte mich über diese Information, die Sie mir mitteilen, nicht äußern. Ich halte sehr viel von Gedenken, ich bin Generalsekretär der Organisation 'Souvenir Francais'. Ich kann Ihnen sagen, dass zu den bewegendsten Augenblicken, die ich erlebt habe, diejenigen mit unserer deutschen Schwesterorganisation Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge gehören, die sich um die Gräber der deutschen Soldaten kümmert, die für Deutschland gestorben sind. Wir haben gemeinsame Gedenkveranstaltungen organisiert.
    So auch in der Gemeinde Sissonne im Departement Aisne, wo sich einer dieser unzähligen Friedhöfe mit schwarzen Grabsteinen befindet. Erstaunlich übrigens, bei uns Franzosen sind die Kreuze weiss, bei den Deutschen schwarz. Ich möchte mich nicht an einer internen deutschen Debatte beteiligen. Ich weiss allerdings, wie wichtig ein dauerhaftes Gedenken ist. Immer wenn Ihnen jemand sagt, wir gedenken zu viel, heißt das, das man noch nicht genug getan hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.