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Holocaust-Überlebender warnt vor Erstarken des Faschismus

Simon: Schil Hellberg war siebzehn als er nach Auschwitz kam. Der Junge im deutsch-belgischen Grenzgebiet aufgewachsen, hatte gehofft, seine Eltern würden verschont bleiben, wenn er gehe und hatte sich für den Transport gemeldet. Aber so kam es nicht. Hellbergs Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Er selber durchlitt Auschwitz und zehn andere Konzentrationslager bis er im Frühjahr 1945 endlich befreit wurde. Als Hellberg nach Brüssel zurückkam, war er 20 und ganz allein. Er musste arbeiten, an ein Studium, das seine Akademikereltern für ihn vorgesehen hatten, war nicht mehr zu denken. Schil Hellberg und seine Frau, auch sie einzige Überlebende ihrer Familie, haben selber nie Kinder bekommen. Das war unmöglich. Aber er sucht seit Jahren den Kontakt, spricht in Schulen über das, was er in den Lagern erlebt hat, reist mit Klassen nach Auschwitz. Auch in dieser Woche. Vor seiner Abreise zur Gedenkfeier in Auschwitz habe ich mit Schil Hellberg gesprochen.

Moderation: Doris Simon | 25.01.2005
    Hellberg: Ich fahre mit sehr schwerem Gefühl da hin, weil meine Eltern auch in Auschwitz vernichtet worden sind, in Birkenau. Auch meine Schwiegereltern. Ich habe keinen anderen Friedhof für meine Eltern.

    Simon: Ist das Ihre erste Reise nach Auschwitz?

    Hellberg: Nein, ich fahre jedes Mal mit Lehrlingen und so kann ich in Auschwitz erklären, was da geschehen war.

    Simon: Herr Hellberg, Sie sagen, es fällt Ihnen sehr schwer nach Auschwitz zu fahren. Trotzdem fahren Sie immer mit Schülern, mit Lehrlingen dort hin. Warum?

    Hellberg: Weil es nicht vergessen werden darf, weil es noch mal vorfallen kann. Der Mensch muss wissen, was dort geschehen ist, wie man die Juden vernichtet hat. Auch Deutsche sind vernichtet worden, nicht nur Juden alleine. Als ich in Buchenwald gewesen bin, habe ich Herrn Schneider kennengelernt. Das ist der Onkel von Romy Schneider und er war Kapo, das ist der Hauptarbeiter, der auf uns aufpasste und der war sehr gut. Das war ein Deutscher und er war schon zehn Jahre als Kommunist in Buchenwald und er hat uns gut gepflegt. Als wir in Buchenwald angekommen waren, hatten wir nicht mehr als 35 Kilo, noch weniger. Wir hatten nicht genug und er hat für uns gesorgt, dass wir wieder ein bisschen Mensch werden. Das muss ich Herrn Schneider verdanken. Er wurde nach dem Krieg Bürgermeister von Halle. Ich kann ihn niemals vergessen, da muss man nicht sagen, alle Deutschen waren schlecht.

    Simon: Herr Hellberg, Sie sind selber an der deutsch-belgischen Grenze aufgewachsen, auf der belgischen Seite. Dieses "nicht alle Deutschen waren schlecht", wie stehen Sie heute, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Deutschen gegenüber?

    Hellberg: Solang wie Blut in den Händen fließt, muss man jeden Mann respektieren. Ich habe niemals Hass gegen Deutsche gehabt, weil ich viele deutsche Freunde vor dem Kriege gehabt habe. Weil ich sechs Kilometer von Aachen wohnte, kamen meine Freunde von Aachen spielen bei mir als ich klein war. Ich habe nie den Unterschied gesehen. Ich habe Hass gegen den Faschismus.

    Simon: Herr Hellberg, Sie sagen, Sie haben Hass gehabt gegen die Faschisten. Wenn Sie heute erleben, dass rechtsradikale Positionen wieder stark werden, wie reagieren Sie darauf? Macht Sie das besorgt?

    Hellberg: Das macht mich sehr besorgt und ich kann das nicht verstehen nach der ganzen Schande, die Deutschland gehabt hat, dass das wieder aufkommt, dass man das zulässt, das kann ich nicht verstehen.

    Simon: Sie meinen, die Politik müsste doch mehr tun?

    Hellberg: Sicher, die dürfte das nicht zulassen, weil Deutschland eine Schande für die ganze Welt war! Jetzt muss die Jugend darunter leiden und das darf man nicht!

    Simon: Die Arbeit, die Sie selber machen mit Jugendlichen. Sie fahren ja nicht nur mit Jugendlichen nach Auschwitz, Sie sind auch in Brüssel sehr aktiv, gehen dort in Schulklassen, versuchen zu berichten über das, was Sie und andere erlebt und erlitten haben. Hat das Ihnen selber geholfen?

    Hellberg: Ja, das hilft mir. Die Jugend versteht mich und die fragen mich. Das tut mir gut, weil einer dem anderen geben muss. Es gibt noch Generationen nach mir und die neue Generation muss wissen, was geschehen ist und dass so etwas nie mehr wiederkommt. Sie können mich gut verstehen. Ich leide, wenn ich höre, dass die Nazis wieder aufkommen.

    Simon: Herr Hellberg, wenn Sie selber, der ein Konzentrationslager, - nicht nur eines sondern viele erlebt und erlitten hat -, wenn Sie einen Jugendlichen oder einen anderen Menschen selber erleben, der sagt, ich glaube nicht, dass es das überhaupt gegeben hat, wie reagieren Sie?

    Hellberg: Dann müssen sie mal nach Auschwitz fahren oder nach Buchenwald fahren oder nach Dachau fahren, dann werden sie verstehen. Wenn sie nur die Bilder sehen. Was sie jetzt sehen, ist gar nichts. In jedem Konzentrationslager ist ein Museum und da sind echte Bilder, die gemacht worden sind von SS-Menschen. Dann werden sie verstehen, was damals war. Wenn die Jugend von Deutschland mal dahin kommt, nur einmal im Jahr, wird das nie mehr aufkommen.

    Simon: Herr Hellberg, das ist wahrscheinlich schwer einzuschätzen, aber wenn Sie an die 60 Jahre zurückdenken, die Zeit, seit Sie wieder wie ein Mensch leben konnten. Wie sehr hat das, was Sie erlebt haben in den Lagern, in Auschwitz, Ihr Leben bestimmt und das Ihrer Familie?

    Hellberg: Ich bin der einzig Überlebende. Von meiner Familie sind 40 Mann vernichtet worden. Meine Frau ist ganz alleine. Ich habe noch eine Nichte, die in Israel lebt, das ist alles. Meine Frau ist ganz alleine, die war zehn Jahre alt als ihre Eltern nach Malin weggeführt wurden, nach Birkenau, Auschwitz, wo sie vernichtet worden sind. Können Sie sich das vorstellen? Mein ganzes Leben, ich hab das noch im Kopf, weil ich doch Eltern gehabt hab wie jeder andere. Ich habe eine Mutter und einen Vater gehabt wie jeder andere. Meine Mutter und mein Vater haben mir das ganze Leben gefehlt. Das müssen Sie gut verstehen. Darum spreche ich, dass ein anderes Leben ankommt, dass das nie mehr geschehen kann. Dass jeder, der eine den anderen respektieren muss und jeder, schwarz, weiß oder rot, das ist immer dasselbe Blut. Hier in Belgien ist eine deutsche Schule, da gehe ich einmal im Jahr hin, eine Europaschule, wo man Deutsch lernt und wo deutsche Schüler sind, da gehe ich einmal im Jahr sprechen. Ich habe viel Briefe bekommen, das tut mir gut.

    Simon: Herr Hellberg, ich habe nur eine Frage, die ich gerne noch stellen würde. Sie sind ja in dieser Woche in Auschwitz und werden dort am Donnerstag mit dem belgischen König Albert auch an der Gedenkfeier teilnehmen. Diese Gedenkfeier in Auschwitz, viele Politiker aus ganz Europa, von anderswo, ist das ein wichtiges Datum oder ist das nur eine Feier, ein Anlass?

    Hellberg: Das ist ein wichtiges Datum. Ich gehe da hin, ich muss denen dort zeigen, dass es noch Überlebende gibt, dass noch nicht alle tot sind.

    Simon: Herr Hellberg, vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mit uns zu reden.

    Hellberg: Ich danke euch allen.