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Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben

Giorgio Agamben hat mit "Homo sacer" eine wuchtige Studie zum Begriff der Souveränität vorgelegt. Sie richtet das Augenmerk vor allem auf die biopolitischen Gewaltakte, die sich mit ihm verbinden. Agamben identifiziert den Souverän mit Carl Schmitt als denjenigen, der über den Ausnahmezustand entscheidet und damit die Bestimmung des politischen Feldes, und vor allem dessen, was außerhalb bleibt, vornimmt. Außerhalb, im Sinne der abendländischen Trennung von Politik und Leben, stehe dabei zunächst das "nackte Leben", die bloß leibliche Existenz.

Johan Hartle | 10.09.2002
    Dieses rechtlose, weil außerhalb des Rechts stehende, "nackte Leben" bleibe als solches auch schutzlos und ist im besagten Ausnahmefall quälbares und tötbares bloßes Leben unter dem Blick des Souveräns. So öffnen sich an der Grenze zum scheinbar entpolitisierten Leben die Pforten zum Konzentrationslager, weil die souveräne Konstruktion des Politischen den Ausnahmefall zur logischen Voraussetzung hat und ihn als Grenzfall mit sich führt.

    Die Logik der Ausnahme, durch die das "nackte Leben" in das politische Feld eingegliedert wird, ist für Agamben die eines versteckten Zentrums - die Ausnahme nur das immanente Andere der Regel. Wie das nicht repräsentierbare Singuläre in der Philosophie von Alain Badiou sei sie eben dadurch eingeschlossen, dass sie ausgeschlossen ist. Oder, mit Carl Schmitt gesprochen: "die Einnahme des Außen heißt Ausnahme." Das gemahnt an dialektische Logik, klingt paradox und ist nicht leicht nachzuvollziehen - aber weil daran das Verhältnis von politischer Existenz und "nacktem Leben" hängt, aus dem alles weitere folgt, sind die politischen Probleme mit Giorgio Agamben vor allem logische Probleme mit Sentenzen solcher Art.

    Der Flüchtling im Abschiebegefängnis und das entrechtete Leben des Lagerinsassen, die sich jenseits der politisch-rechtlichen Festlegungen bewegen, sind die Allegorien, die Agambens Essays den nötigen Nachdruck verleihen. Das Konzentrationslager, so die Schlüsselthese, sei das "biopolitische Paradigma der Moderne", gerade weil die traditionellen politischen Kategorien bis heute den Blick vor dem politischen Charakter des "nackten Lebens" verschließen. Agambens politische Philosophie widersetzt sich der politischen Spaltung des Menschen, insofern diese dessen Entrechtung im Ausnahmezustand des Lagers als verborgenes Zentrum mit sich führt. Die provokante Grundthese von "Homo sacer" lässt sich nur so verstehen. Dass sein Projekt in den Formulierungen jedoch überzogen ist, kann auch eine wohlwollende Interpretation kaum leugnen.

    Entscheidend ist der theoriepolitische Schachzug, traditionelle und vor allem liberalistische Kategorien des Politischen, die Politik in einer öffentlichen Sphäre, jenseits des "nackten Lebens" beginnen lassen, aus den Angeln zu heben. Agamben ist der Historiograph ihres Scheiterns -von der antiken Trennung von zoe und bios über die bürgerliche Unterscheidung von homme und citoyen, bis zur heute populären Trennung von Humanitärem und Politischen, die dann ebenfalls - in einer Logik der Ausnahme - den politischen Krieg legitimiert. Immer wenn unpolitisches Leben ausgewiesen werde, sei höchste Skepsis geboten.

    Die schillernde Stellung des "nackten Lebens" illustriert Agamben mit der antiken Rechtskategorie des "homo sacer". Er könne, so der refram, getötet aber nicht geopfert werden. Seine Ermordung eigne sich nicht zum rituellen Opfer, weil er sich jenseits des Feldes politischer Thematisierung befinde. Mit dieser Akzentuierung geht Agamben nicht zuletzt gegen die Rationalisierung des nationalsozialistischen Massenmords als "Holocaust" an, der ja buchstäblich und etymologisch nichts anderes als ein Opferritual bezeichnet. "Die Dimension," schreibt Agamben, "in der die Vernichtung stattgefunden hat, ist weder die Religion, noch das Recht, sondern die Biopolitik." Und erst die Schärfüng der politischen Aufmerksamkeit auf die Politisierung des nackten Lebens lässt das hervortreten. Es ist nicht das geringste Verdienst von Agamben, daraufhinzuweisen.

    Die Gewaltsamkeit einer souveränen Bestimmung der Grenzen des Politischen betrifft nicht nur die Bestimmung des "nackten Lebens" des Einzelnen, sondern auch die des Kollektivs. In einem Lehrbeispiel postmoderner Theoriebildung diskutiert Agamben den Begriff des Volkes, indem er an die notwendige Zerrissenheit in dessen Bestimmung erinnert. Biopolitische Konstruktionen eines "Volkskörpers" erzeugen immer und notwendig auch Freaks und Außenseiter. Kein Kollektiv, kein Volk sei denkbar ohne die Erzeugung eines immanenten Anderen, ohne die Fortschreibung eines politischen Konfliktes. Agamben verwehrt sich dagegen, homogene Einheiten zu postulieren. Mit der Perspektive einer Gemeinschaft von staatlich "Unrepräsentierbarem" weist er über diesen "Bürgerkrieg" hinaus. Der Gedanke des Patchworks im Sine von Gilles Deleuze oder Jean-Francois Lyotard ist darin nicht zu überhören.

    Die politische Intention hinter Agambens Thesen ist vor allem in "Mittel ohne Zweck" versteckt. Agambens Projekt ist insgesamt, wie darin deutlich wird, ein Plädoyer für eine Politik, die dem Menschen auf den Leib geschrieben steht, die hinter die Teilung in qualifizierte politische Existenz und bloßes Leben zurückgeht. "Ein politisches Leben", schreibt er in "Mittel ohne Zweck" "ist allein ausgehend von der Emanzipation von dieser Spaltung, von der unwiderruflichen Abwendung von jeder Souveränität denkbar." "Politik als Lebens-Form" ist das Motto, das die Erfahrungen des biopolitischen Zeitalters in den Akt bewusster Inbesitznahme der eigenen politischen und biologischen Existenz umzudrehen sucht. Politik müsse Lebens-Form werden, um den Grund der souveränen Macht zu unterlaufen.

    Die Abstraktion des politischen Lebens erscheint zudem, wie Agamben mit Verweis auf den französischen Situationisten Guy Debord formuliert, als Enteignung des öffentlichen Ausdrucks und damit auch als Enteignung von Sprache und Kommunikation: Sprache werde medienwirksam spektakultär und spontaner Ausdruck disqualifiziert. Dem hält "Mittel ohne Zweck" eine performative Politik der Geste entgegen. Die praktische Einheit von Körper, Denken und Lebensform wird als Ausweg aus der staatszentrierten und souveränen Bestimmung des Politischen gewiesen. Sie sei "reine Praxis". Die Einheit von Leben und politischer Form in der politischen Lebensform dreht sich ihrer eigenen biopolitischen Spaltung entgegen und aus der Konstitution durch die souveräne Macht heraus: Sie ist subversiv und anarchisch. Sie ist nicht schlichtweg defätistisch, nicht konservativ und nicht bloß kulturpessimistisch. Agambens Beitrag zur politischen Theorie ist eine kritische Batterie.