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Hungern gegen die Korruption

Der 74-jährige Anna Hazar wird von einer Welle der Sympathie getragen. Sein Hungerstreik gegen die Korruption fasziniert Millionen von Inder. Hazare prangert an, was den Alltag bestimmt: Ohne Schmiergeld geht nichts im Land.

Von Jürgen Webermann | 20.08.2011
    Am Ende musste Manmohan Singh dann doch reden. Zu groß der Aufruhr auf den Straßen, zu groß auch der Druck im indischen Parlament, der Lok Sabha. Während die Parlamentssprecherin Mühe hat, den Saal überhaupt zu beruhigen, unterbrechen Abgeordnete auch Singh immer wieder mit lauten Zwischenrufen. Doch der Premier will standhaft bleiben, das ist seine Botschaft:

    "Unsere Regierung will sich auf keinen Fall gegen eine Bevölkerungsgruppe oder sonst wen stellen. Aber wenn einige Gruppen unsere Autorität herausfordern, dann sind wir gezwungen, Ruhe und Ordnung herzustellen"

    Und während der Premier redete, schwoll draußen der Protest auf den Straßen an. Nicht nur in Neu Delhi, auch in anderen Städten wie Mumbai. Zehntausende reagierten auf den Versuch der Regierung Singh, Ruhe und Ordnung herzustellen. Ziel war der Sozialaktivist Anna Hazare. Der hatte zum Unabhängigkeitstag Anfang der Woche einen Hungerstreik angekündigt, um für schärfere Anti-Korruptionsgesetze zu demonstrieren. Zur Not werde er sich zu Tode fasten, so Hazare. Die Behörden mussten mit Aufruhr rechnen und schritten ein. Sie nahmen Hazare zwischenzeitlich fest. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Anna Hazare, der weiß, wie man Medien einbindet, hatte vorsorglich eine Botschaft an seine Anhänger aufgenommen:

    "Liebe Landsleute, der zweite Freiheitskampf in Indien hat begonnen. Und glaubt Ihr, dieser Kampf ist zu Ende, wenn sie mich festnehmen? Das müsst Ihr verhindern! Wir haben Millionen Menschen hinter uns und genug weise Mitkämpfer, die meinen Platz einnehmen werden!"

    Korruption – das ist in Indien ein gewaltiges Alltagsproblem. Praktisch jeder ist davon betroffen. Doch es waren die großen Skandale, die die Menschen aufrüttelten. Eine Schmiergeldaffäre um die Vergabe neuer Mobilfunklizenzen, die den Staat um viele Milliarden Euro brachte. Misswirtschaft und Schummeleien bei der Organisation der Commonwealth Games im vergangenen Jahr – ein Sportereignis, das beinahe zur peinlichen Angelegenheit für Indien wurde. Und Appartments, die nicht wie angekündigt Soldatenwitwen, sondern hohe Bürokraten erhielten. Dagegen hatte Anna Hazare bereits im Frühjahr mit einem öffentlichkeitswirksamen Hungerstreik mitten in Neu Delhi protestiert. Er forderte ein neues Anti-Korruptionsgesetz. Die Regierung gab nach – und brachte Anfang August einen Entwurf im Parlament ein. Der aber sah unter anderem vor, dass zum Beispiel höchste Regierungsmitglieder von Korruptionsermittlungen ausgenommen werden sollen. Die Empörung war groß, wie bei diesem Demonstranten in Mumbai:

    "Wissen Sie, nach den Bombenanschlägen im Juli hier mussten die Menschen Schmiergeld zahlen, um die Leichen ihrer Angehörigen abholen zu können. Das Korruptionsproblem hat sich hier wirklich verschlimmert in den vergangenen Jahren. Und jetzt fordern wir ein Gesetz, aber nicht das, was die Regierung darunter versteht. Deshalb demonstrieren wir!"

    Die Unterstützung für Anna Hazare und seinen friedlichen, außerparlamentarischen Protest geht durch alle Bevölkerungsgruppen, die Nachrichtensender kannten zwischenzeitlich kein anderes Thema mehr. Intellektuelle, Künstler, Schauspieler, sie alle nahmen Teil an den Lichterketten und Solidaritätskundgebungen. Es ist vor allem der Mittelstand, der zunehmend aufbegehrt – und selbstbewusster auftritt. Wie Captain Gopinath, er ist Unternehmer in der Luftfahrtbranche:

    "Das ist die Bewegung, die dieses Land gebraucht hat. Es geht nicht gegen die regierende Partei, sondern gegen das System. Die Bundesregierung ist korrupt, die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten sind korrupt, und sie waren es schon immer. Wir sind selbst schuld, denn wir haben das akzeptiert. Wir haben bestochen und uns bestechen lassen."

    Gut möglich, dass jetzt doch ein anderes Anti-Korruptionsgesetz als bisher geplant das Parlament passieren wird. Denn in der Lok Sabha präsentierte sich die Opposition so einmütig wie selten – die rechtsgerichtete Hindupartei Shiv Shena an der Seite der Kommunisten. Der Chef der Shiv Shena, Uddav Thackeray:

    "Es ist an der Zeit, etwas gegen die Regierung zu unternehmen. Wenn wir im Kampf gegen die Korruption Einigkeit zeigen, dann wird die Kongresspartei ihre Position nicht halten können."

    Doch viele Inder misstrauen auch der Opposition. Beobachter weisen immer wieder darauf hin, dass die Gesetze nicht das eigentliche Problem seien – sondern ihre Umsetzung. Und da sei nicht nur die Regierung gefragt. Im Grunde müsse jeder Bürger ein Signal setzen – und weder Schmiergeld zahlen noch welches annehmen.