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Hungersnot statt Wachstum

Die Kommunistische Partei Chinas wollte die Volksrepublik nach ihrer Gründung nicht nur in einen sozialistischen Staat, sondern auch in eine führende Industriemacht verwandeln. Dazu propagierte die Parteiführung 1958 den "Großen Sprung nach vorn": Das Zentralkomitee erklärte am 29. August des Jahres die Errichtung von Volkskommunen zur offiziellen Politik. Der "Große Sprung" sollte eines der opferreichsten Experimente in der Geschichte der Volksrepublik werden.

Von Otto Langels | 29.08.2008
    Im Oktober 1949 verkündete Mao Zedong in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens: Die Volksrepublik China ist gegründet. Unter Führung ihres Vorsitzenden strebte die Kommunistische Partei Chinas in den folgenden Jahren eine grundlegende Veränderung der Besitz- und Produktionsverhältnisse nach dem Vorbild der Sowjetunion an. Sie verstaatlichte Industrie und Handel, enteignete Großgrundbesitzer und verteilte das Land an arme Bauern, die es gemeinsam bewirtschaften sollten.

    1958 schlug die Parteiführung jedoch mit dem so genannten "Großen Sprung nach vorn" einen eigenen, radikalen Weg ein. Liu Shaoqi, zweiter Mann der KP Chinas, erklärte im Mai auf einer Parteikonferenz:

    "Der derzeitige mächtige Sprung nach vorn im sozialistischen Aufbau ist das Ergebnis der korrekten Umsetzung der Generallinie der Partei, um größere, schnellere, bessere und wirtschaftlichere Ergebnisse zu erzielen."

    Der Kommunismus sei keine Frage der fernen Zukunft mehr, behauptete die chinesische Parteiführung und setzte sich das ehrgeizige Ziel, das rückständige Land in kürzester Zeit in eine moderne Industrienation zu verwandeln und führende westliche Staaten wie Großbritannien einzuholen.

    Dazu war der weitere Ausbau der städtischen Schwerindustrie vorgesehen, zugleich aber sollten überall auf dem Land Minihochöfen wie Pilze aus dem Boden schießen. Nach Sonnenuntergang liege über ganz China ein gespenstischer Feuerschein, berichteten später Reisende.

    Außerdem plante die Kommunistische Partei als einschneidende Maßnahme die straffe Organisierung der Landbevölkerung. Am 29. August erklärte das Zentralkomitee die Errichtung von Volkskommunen zur offiziellen Politik.

    "Die Menschen verpflichten sich, sich nach militärischen Grundsätzen zu organisieren und ein kollektives Leben zu führen. Die Mitglieder haben sämtliche kleineren Landstücke in privater Hand, privates Hauseigentum und andere Produktionsmittel wie Vieh- und Baumbestände dem gemeinschaftlichen Besitz der Volkskommune zu übergeben. Die Kommunen werden sich zu den grundlegenden sozialen Einheiten in der kommunistischen Gesellschaft entwickeln."

    Die Volkskommunen waren nicht nur landwirtschaftliche Produktionseinheiten, sie übernahmen auch Versorgungs- und Erziehungsaufgaben. Dazu dienten Kindergärten und Altenheime, Volksküchen und gemeinsame Waschräume. Lebensmittel erhielten die Mitglieder kostenlos, unabhängig von der Arbeitsleistung des Einzelnen.

    Gleichzeitig aber erhöhte sich der Druck auf die Bauern. Ohne zusätzlichen Lohn mussten sie nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Bergbau und Bauwesen arbeiten.

    " "Organisiert euch nach militärischen Gesichtspunkten. Führt die Dinge so aus, wie Schlachtbefehle ausgeführt werden. Die Arbeitsinstrumente sind Waffen und das Feld ein Schlachtfeld", "

    forderte die Parteizeitung "Peking-Rundschau."

    Die Kampagne schien Früchte zu tragen. Ende des Jahres war nach offiziellen Angaben nahezu die gesamte Landbevölkerung in Volkskommunen zusammengeschlossen. Berichte lokaler Parteikader versprachen eine Rekordernte, so dass die Verantwortlichen in Peking immer höhere Wachstumsprognosen verkündeten.

    Im Ausland verbreitete das englischsprachige Programm von Radio Peking Erfolgsmeldungen u.a. aus der Provinz Shanxi.

    " Seit Gründung der Volkskommunen wurden 78 Industriepumpen und über 900 Tonnen Kunstdünger hergestellt sowie mehr als 10.000 Bewässerungsgräben gezogen. Daraufhin ist die Getreideproduktion gegenüber dem vergangenen Jahr um ein Drittel gestiegen. "

    Doch die Angaben beruhten meist auf geschönten Zahlen lokaler Parteifunktionäre. Tatsächlich führte der "Große Sprung nach vorn" in eine Katastrophe. Rohstoffe, Energie und menschliche Arbeitskräfte wurden in Hunderttausenden von Kleinprojekten massenhaft verschwendet. Die Kommunen litten unter Versorgungsengpässen, fehlender Infrastruktur, mangelhafter Koordination und katastrophalen hygienischen Zuständen.

    Im Verlauf des Jahres 1959 wurde offensichtlich, dass dem Land eine schwere Hungersnot bevorstand. Nach unterschiedlichen Schätzungen starben bis 1961 zwischen 20 und 40 Millionen Menschen. Daraufhin brach die kommunistische Parteiführung ihre Kampagne ab. Mao Zedong zog sich aus der tagespolitischen Verantwortung vorübergehend zurück.

    Der "Große Sprung nach vorn" war eines der wirtschaftlich und sozial opferreichsten Experimente in der Geschichte der Volksrepublik. In China nennt man die Zeit auch "die drei bitteren Jahre".