Samstag, 20. April 2024

Archiv


Hymne an das Leben

Ist ein so europäisches, standardisiertes, gesundes, sicheres und kostengünstiges Leben, wie es die Politik so emsig fabrizieren will, überhaupt eines, das sich zu leben lohnt? Das ist die Frage, die sich der 1962 geborene Philosoph Robert Pfaller in seinem Buch stellt.

Vorgestellt von Annette Brüggemann | 16.03.2011
    Was passiert, wenn eine Gesellschaft versucht, so gut sie kann, ihren "Status quo" zu bewahren? Wenn die Angst zunimmt, Wohlstand, Freiheit und Eigentum - Identität und Statussymbole inbegriffen - zu verlieren? Das Unbehagen, das unsere Gesellschaft erfasst hat, ist real. Und es hat reale Konsequenzen. In einem äußeren Protektionismus. In der Erhaltung eines Systems, dessen inneres Vakuum wächst. In der Ausstaffierung mit medialen Spektakeln, die zunehmend den Charakter von "seichten" Vergnügungen annehmen und einer sich ewig verschiebenden und sich selbst verschleiernden Krisensymptomatik. Unserer repräsentativen Demokratie fehlt es an innerer Schlagkraft für echte Veränderungen. Der Geist ist aus der Flasche. Nur wo ist er hin? Und warum?
    Antworten, die Robert Pfaller in seinem bemerkenswerten Buch "Wofür es sich zu leben lohnt" zu finden sucht. Mit dem breiten und tiefschürfenden Pflug der materialistischen Philosophie fährt er durch unsere Gegenwartskultur, deckt Lügen und Illusionen auf. Wie steht es um unsere vermeintlich hedonistische Kultur, die aus lauter "Non-isms" besteht, wie es der slowenische Philosoph Slavoj Žižek scharfzüngig formuliert hat? Kaffee ohne Koffein, Bier ohne Alkohol, Cola ohne Kalorien, Sahne ohne Fett, Sex ohne Körperkontakt. Das Paradoxe ist: mit den "Non-isms" wird ein Glücksversprechen verkauft. Und so erfahren wir, was "oversexed und underfucked" wirklich meint: das Phantasma von Makellosigkeit und Schönheit, mit luxuriösen Verboten retouchiert. Robert Pfallers Diagnose: eine "neurotische Unlust" hat unsere Gesellschaft erfasst, die Komplexität, Mut zum Risiko und zutiefst Menschliches zu minimieren trachtet:

    "Wenn Prioritäten wie Sicherheit, Gesundheit, Kosteneffizienz oder der sogenannte "europäische Hochschulraum" in der Kultur der Gegenwart als höchste Güter behandelt werden, dann geschieht es nicht selten, dass Lebensqualitäten wie Bürgerrechte, soziale Absicherung, Genuss, Würde, Eleganz und Intellektualität ohne Zögern und ohne jede Diskussion geopfert werden. Unbescholtene Menschen werden bei Sicherheitskontrollen wie Verbrecher behandelt. Auf Flughäfen müssen sie ihre Schuhe und Gürtel ausziehen. Regierungen verbieten uns das Rauchen, als ob wir Minderjährige wären. Die Universitäten Europas verwandelt man in repressive Obermittelschulen, die nur noch auf den Prinzipien des Zwangs und der Kontrolle beruhen, wodurch die Ressourcen der freiwilligen Motivation und des neugierigen Interesses verschleudert und die Universitäten als Ort der Forschung, des freien Gedankenaustauschs und der kritischen Selbstreflexion der Gesellschaft ruiniert werden. Ist es nicht erstaunlich, was wir uns gegenwärtig alles gefallen lassen? Daran zeigt sich, dass die reichsten Bevölkerungen der Welt verlernt haben, sich die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohnt."

    Das Leben als Gabe zu betrachten, die es zu geben lohnt, ist eine der schönsten Essenzen von Robert Pfallers Buch. Das Wissen um die Unbedingtheit der Liebe und der Kunst, die kein Gesetz, nur Hingabe, zulässt. Robert Pfaller erwähnt in diesem Zusammenhang Igor Strawinskis Komposition Sacre Du Printemps, in deren Erzählung eine Jungfrau tanzend dem Frühlingsgott zur Versöhnung geopfert wird. Strawinski selbst schrieb, in Sacre habe er die leuchtende Auferstehung der Natur, die zu neuem Leben erweckt wird, schildern wollen, die Auferstehung der ganzen Welt.
    Um diesen transformatorischen Impuls geht es auch Robert Pfaller. Wenn wir das Leben als prekäres Geschenk, und nicht als zu verwaltende Zumutung oder narzisstisches "Be yourself!", begreifen - dann erst erwecken wir es wahrhaft zum Leben. Mit Trauer und Glück, Lust und Schmerz, Heiligkeit und Sünde. In Robert Pfallers Buch gibt es nichts mehr zu bewachen. Nur noch ein lustvolles Ja oder Nein. Mit aufklärerischem Blick entlarvt sich auch die Illusion als Illusion. Und Masken werden wieder zu Masken, die um das schöne Spiel des Lebens wissen. Es ist die Komödie, die für Robert Pfaller zeigt, dass diese Welt die einzige und beste ist, die wir haben. Und dass damit, wenn es denn – in aller Bescheidenheit - ein gutes Leben gibt, der Vorhang hier und jetzt aufgeht. Folglich blickt die Komödie dem Tod ins Gesicht, ohne ihn zu verlachen. Sie weiß bei aller Komik um den rebellischen, zärtlichen, erhabenen Stolz der Lebenden, den es für Robert Pfaller zu bewahren gilt:

    "Gerade gegenwärtig, zum Beispiel angesichts der exzessiven, erniedrigenden Sicherheitskontrollen auf Flughäfen möchte man sich die Frage stellen, ob wir nicht zugunsten des nackten Lebens gerade die Gründe zum Leben preisgegeben haben. Jedenfalls empört die Selbstverständlichkeit, mit der die politisch Verantwortlichen voraussetzen, dass wir den Tod mehr fürchten als die Schande. Bataille hätte diesbezüglich darauf bestanden, dass man zumindest doch die Wahl haben möchte. Sein Vorschlag hätte wohl gelautet, anstatt zweier Preisklassen wie "business" und "economy" sollte man den Passagieren lieber zwei verschiedene Formen des Flugbetriebs zur Wahl stellen, einmal mit und einmal ohne Kontrollen, zum Beispiel "security" und "pride"."

    George Bataille sah in der Kultur den Befehl – beinah mit vorgehaltenem Revolver - sich zu vergnügen. Die Nötigung zur Verausgabung, zu Glamour und Genuss – und damit zur Schönheit. Robert Pfaller trägt diesen zündenden Funken in unsere Zeit. Seine Sätze rufen uns zu: Liebt und lebt. Streitet euch. Empört euch. Seid öffentlich. Spielt eine Rolle. Und lasst euch nicht täuschen. Schaut hin mit moralischer Souveränität und schwärmerischer Großzügigkeit. Seid voller Würde und Selbstverantwortung, Lust und Leidenschaft.
    Seine von der materialistischen Philosophie durchtränkte Hymne an das Leben ist eine anmutige Geste im marktschreierischen Lärm der Neuerscheinungen. Sie füllt ein inhaltliches Vakuum mit dem stillen Glück echter Erkenntnis.

    Robert Pfaller: "Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie". S. Fischer Verlag (Reihe S. Fischer Wissenschaft). Rund 280 Seiten, gebunden, 22,95 Euro. ISBN: 978-3-10-059033-6.