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Hymne an die Lyrik

Uwe Tellkamps "Die Sandwirtschaft" ist die gedruckte Fassung der Poetik-Vorlesung, die der Autor im November 2008 in Leipzig gehalten hat. Darin unterscheidet er zwischen einem "Zitier-" und einem "Augenblicks-Goethe" und offenbart, wer seine lyrischen Vorbilder sind.

Von Martin Ebel | 14.08.2009
    Von vielen Autoren, auch von guten, muss man nicht alles kennen. Von einem Uwe Tellkamp aber schon. Der Gewinner des Bachmann-Wettbewerbs von 2004 und des Deutschen Buchpreises 2008 wird, zu dieser Prophezeiung braucht es keine Tollkühnheit, das lesende Deutschland auch in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen. Deshalb ist es nützlich, sich auch mit einer sogenannten Nebenarbeit zu beschäftigen, nicht nur, weil es sich um das jüngste Lebenszeichen des Autors handelt. Es heißt "Die Sandwirtschaft" und ist die gedruckte Fassung der Poetik-Vorlesung, die Tellkamp im November 2008 in Leipzig gehalten hat.
    Er gibt darin Auskunft über sein Selbst- und Kunstverständnis, verbeugt sich vor großen Meistern, die für ihn wichtig sind - Goethe, Hölderlin, Thomas Mann, Uwe Johnson, Friederike Mayröcker, Durs Grünbein, Thomas Kling - und formuliert Sätze, die wie Lehrsätze klingen und von den Studenten sicherlich aufmerksam registriert und genau notiert wurden. Lehrhaft ist die Vorlesung allerdings nicht, nicht in dem Sinne, dass sich daraus eine Dichtungslehre, eine Poetik destillieren ließe.
    Lehrreich ist sie dagegen schon: Man lernt eine Menge darüber, wie Tellkamp, neudeutsch gesprochen, tickt. Und immer wieder gerät die Vorlesung zur Dichterlesung, heben die Darlegungen ins Metaphorische, ins Poetische ab.

    In seiner kurzen Dankrede zum Deutschen Buchpreis hatte Tellkamp, gerade ausgezeichnet für einen Roman, gesagt: Die Romane vergehen, die Lyrik aber bleibt. Seine Vorlesung, das zeigen schon die Namen der Vorbilder, ist eine Hymne an die Lyrik, aber auch an die scheinbar tote und begrabene Gattung Epik. Schon als Junge, erzählt der Autor, habe er die großen Epen des Abendlandes begeistert verschlungen, die Nibelungenstrophe war für ihn, ich zitiere, "stärkeres Dope als der beste Hip Hop". Das Epos zielt auf die Totale, auf die ganze Welt, nicht nur auf einen Ausschnitt; es ist eine Gattung des Nicht-Auflösbaren, des Anfangs- und Endelosen. Lyrik wiederum arbeitet mit Bildern, steigert das Vorhandene ins Schöne und Utopische, transformiert es in Sprache, die für sich besteht, ihren Verweisungscharakter transzendiert. Wie bei Hölderlin, von dem Tellkamp sagt: "Kein Autor steht mehr zwischen Urstoff und Text". Oder bei Friederike Mayröcker, die er verehrt: "Die Dichterin", sagt er von ihr, "will mir überhaupt nichts sagen; ihre Texte sollen nicht bedeuten, sondern sein."

    Verehrung bedeutet nicht Devotion. Tellkamp erlaubt sich Urteile auch über die Größten der Großen. So fragt er, ziemlich frech, ob Goethe ein guter Lyriker sei, und unterscheidet als Antwort zwischen dem "Augenblicks-Goethe" und dem "Unendlichen Goethe". Letzterer sei der "Zitier-Goethe", der Liebling der Studienräte, der "Erfolgs-Goethe", der gereimte Ratschläge von sich gebe, wofür Tellkamp ein paar gruselige Beispiele gibt. Der Augenblicks-Goethe dagegen ist der lebendig gebliebene Romantiker, der Dichter der Sesenheimer Lieder, der Marienbader Elegie und des herrlichen "Willkommen und Abschied". Dieser Goethe, führt Tellkamp mit einem schönen Bild aus, ich zitiere, "versucht die Gelegenheit beim Schopf zu fassen und greift dabei oft ins Haar der Ewigkeit, denn diese liebt es, der Gelegenheit auf dem Schoss zu sitzen." Das Beispiel zeigt, dass der Poetik-Vorleser die Analyse nicht so liebt wie die Metapher und das schwärmerisch kommentierte Zitat. Analysieren sei wie einen Kuss zu rezensieren, sagt er einmal. Der Zuhörer und Leser muss also seine eigene künstlerische Fantasie und seinen eigenen analytischen Verstand bemühen, um dieser Poetik-Vorlesung folgen zu können.

    Biographisches liefert Tellkamp eher wenig. Er erwähnt das gebrauchte Hochbett von Ikea, das seine Frau von ihrer Stationsschwester zur Hochzeit geschenkt bekam, und unter dem er sich in Dresden seine Schreibklause baute. Tagsüber war er Arzt, abends schrieb er, so ging das viele Jahre lang. Vom Literaturbetrieb hatte er keine Ahnung. Seine erste Veröffentlichung kam über einen Herrn Fröhlich vom "Buchlabor" zustande, einen leidenschaftlichen, etwas verrückten Buchhändler, der den Text erst ganz in Rot setzen wollte, ersatzweise auch in Leder eingeritzt. Schließlich erschien das Erstlingswerk in sechs Exemplaren. Dort war, meint Tellkamp, im Keim alles enthalten, was ihn in Zukunft beschäftigen würde.
    Und dieses "Etwas" ist nichts geringeres als "Alles". Die künstlerische Haltung Tellkamps ist maßlos und pathetisch. Sie bezieht ihren kreativen Impuls gerade nicht aus der Beschränkung durch Form - "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister", heißt es bei Goethe; aber das war wohl der Unendliche, der falsche Goethe. Tellkamp geht es vielmehr gerade um die Überschreitung sämtlicher Grenzen. Hier ist nun ein längeres Zitat fällig:

    "Kunst, der ich diesen Namen gebe, heißt Erweiterung der Grenzen, Polar- und Urwaldexpedition des Geistes, heißt Weltschöpfertum und prometheische Anmaßung des Gottspielens, heißt Größenwahn und Widerstand, unerbittliche Suche nach Wahrhaftigkeit, heißt Bemühen um größtmögliche Genauigkeit und Nuancenreichtum, heißt Kampf gegen die zunehmende Verluderung der Sprache, wagt Pathos, aber eines, das weder sentimental noch hochtrabend ist."

    Große Worte in einem langen, hier wohlgemerkt noch großzügig gekürzten Satz. Starker Tobak für unsere ironiedurchzogene, understatement-selige, post-postmoderne Zeit.

    Klar macht ein solches Zitat auch, dass Tellkamp genau weiß, was er tut, und dass er seinen episch-lyrischen Roman "Der Turm" nicht naturburschenhaft-genialisch aus sich herausgeschleudert hat. Er erweist sich in dieser Poetik-Vorlesung überdies als poeta doctus, als ein Kenner der Weltpoesie; aber auch hier akzeptiert er keine Grenzen, springt über Stile und Gattungen, vergleicht Hölderlin mit Jazz und den Stilllebenmaler Willem Kalf mit abstrakter Kunst. Tellkamp ist kein beschränkter Traditionalist und kein Kulturpessimist; Lyrik, die für ihn derart existenzielle Bedeutung hat, dass er in brenzligen Situationen Goethe-Verse vor sich hinsagt, lebt für ihn auch in der Werbung, im Rap und im Chanson. Tellkamp ist auch durchaus nicht humorlos; er bekennt seine Liebe zur lustigen Lyrik, etwa zu Ringelnatz, und weiß Kluges darüber zu sagen. Er wirbt aber auch für vergessene Dichter wie Hans Carossa, Theodor Kramer oder Georg von der Vring. Von diesem zitiert er ganz am Ende zwei kleine Strophen und kommentiert ganz schlicht: "Das ist einfach wie ein Volkslied und rührt mich. Ein rührendes, ein zartes Gedicht, das ich liebe. Wer weiß, was Sehnsucht ist, wird mich verstehen."

    Uwe Tellkamp: Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit. Leipziger Poetikvorlesung. Edition Suhrkamp Sonderdruck, 167 Seiten, elf Euro