Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Hysterie und Wanzen-Paranoia

Tracy Letts' "Verwanzt" dreht sich um zwei Loser, die sich ineinander verlieben. Agnes und Peter haben jedoch ein Problem: In ihrem Bett - und später in ihren Körpern - hausen Wanzen - vermeintlich vom US-Geheimdienst dorthin verfrachtet zwecks Überwachung.

Von Cornelie Ueding | 26.10.2010
    Am Ende der turbulenten zwei Stunden übergießen sich die beiden Protagonisten mit Benzin, bevor sie - nun, das Streichholz und die Explosion erspart uns die durchaus auf krude Effekte abzielende Inszenierung des isländischen Regisseurs Egill Heidar Pálsson. Der explosive Funke hätte auch kaum jene dramatische Zündung gebracht, um die sich das bizarre Wanzenstück händeringend - und das ist durchaus wörtlich zu nehmen - so sehr bemüht.

    Die Geschichte um die beiden Loser: eine lädierte Kellnerin, Agnes, und, ein Zufallsfund, ihr schräger Teilzeitlover Peter, ein ehemaliger US-Soldat, will viel mehr sein als Milieustudie oder Beziehungskiste. Nein, diese Bretter sollen wirklich die ganze Welt bedeuten: in einer Mischung aus Verschwörungstheorie und Psychodrama auf engstem Raum. Es beginnt mit ein paar Wanzenbissen, die das weder nude noch krude Tête-à-Tête der beiden empfindlich stören. Aus einem eher schüchternen Liebhaber wird im Handumdrehen ein penibler Kammerjäger, der die Bettwäsche auf der Suche nach den vermeintlichen tierischen Plagegeistern mit manischer Akribie durchstöbert. Aus dem coolen One-Night-Stand wird eine veritable Folie à deux – wobei Agnes eine Zeit lang versucht, sich den "Fall" ihres Findlings in einer Mischung aus distanzierter Sympathie und sentimentaler Zuneigung einigermaßen vom Hals zu halten.

    Ein gleichermaßen anrührender wie hoffnungsloser Versuch. Abgeschottet im schäbigen Motelzimmer auf der Drehbühne, verwanzt, verschanzt sich das Paar sehsüchtig weltflüchtig, mottet sich ein, umwickelt alles, was rumsteht, mit Alufolie und verkriecht sich vor – faktischen oder eingebildeten – Verfolgern, Beobachtern.

    Zu Anfang nur vor dem brutal wirken sollenden Ex-Ehemann der hin und her gerissenen Agnes. Endstation Sehnsucht – mitnichten. Die Bühne wird zur Wanzenwelt, die Menschen zum Wirt der Parasiten, die in allen Körperteilen zu nisten scheinen, sich unter der Haut abzeichnen und herausgeschnitten, herausgerissen werden wie, mit Brachialgewalt, ein Backenzahn, unter dem, da ist sich Peter ganz sicher, die Ärzte im Militärkrankenhaus einen Sack mit Insekteneiern versteckt haben. Juckend, zuckend, blutend, kreischend, um sich schlagend machen beide sich auf die nicht enden wollende Jagd nach den mikroskopisch kleinen Plagegeistern – die vielleicht gar nicht oder nur im Kopf des Ex-GIs existieren.

    Ob Kopfgeburt oder konkrete Bedrohung, Peter sieht sich jedenfalls als biologische Zeitbombe, und Regisseur Pálsson lässt das in einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Stolz bis zum Überdruss ausspielen. Aber durch drastische Effekte und sich steigernde Extremzustände lassen sich, eine Binsenweisheit sollte man meinen, Affekte auf der Bühne eben nicht glaubhaft machen. Die Regie agiert ganz im Banne der immer blutiger werdenden Verwanzungsmarotte. Und das angestrebte Ziel, Wahrnehmungsstörungen und Wirklichkeitskontrollverlust zu untersuchen, bleibt auf der Strecke.

    Wahnvorstellungen, Hysterie und Paranoia statt eines dem Autor Tracy Letts so wichtigen strategischen Komplotts, in dem Menschen zu Opfern eines teuflischen Versuchs des US-Geheimdienstes gemacht werden.

    Mithilfe geklonter oder künstlicher Ärzte werden ihnen Wanzen, Chips und Killerviren implantiert. So werden sie steuerbar. Und - ließe sich hinzufügen - entsorgen sich selbst, wenn der Versuch aus dem Ruder zu laufen scheint. An dieser einen Idee hängt der Lebensnerv des ganzen Stückes. Ob diese überfrachtete Sozialstudie überhaupt spielbar ist, sei dahingestellt.

    Zumindest in Mannheim wurde sie verspielt, ganz im Geiste eines Social Realism auf dem Theater, der davon ausgeht, alle eins zu eins ultrarealistisch auf die Bühne übertragenen Alltagsszenen würden ihre Bedeutung schon in sich tragen und zu erkennen geben. Zur Darstellung von Wahrnehmungserfahrungen auf der Rasierklinge aber wären eine differenzierte Sprach- und Personenregie nötig, ambivalente Gefühle, eine sich verdichtende Spannung und das Oszillieren der ab und an eingeblendeten, hier nur klischeehaft-hölzernen "Hilfsfiguren" zwischen realer und eingebildeter Bedrohlichkeit.

    Infos:

    Nationaltheater Mannheim