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Ich-AGs und Selbstunternehmer

Vollarbeitszeit ohne Unterbrechung bis zur Rente: Mit dieser klassischen Berufsbiografie können immer weniger Menschen rechnen. Befristete Beschäftigung, Projektarbeit und Selbständigkeit nehmen zu. Die Hartz-Kommission hat jetzt vorgeschlagen, Arbeitslose zur "Ich AG" zu machen; Sozialwissenschaftler sprechen vom "Arbeitskraft-Unternehmer", der seine Fähigkeiten selbst vermarkten muss...

Thomas Gesterkamp | 14.08.2002
    Ein Wort, das in der Debatte um die neue Welt der Arbeit immer wieder auftaucht, ist die "Ich AG": Nach den Vorstellungen der Hartz-Kommission, sollen Arbeitslose künftig nicht mehr schwarz arbeiten, sondern sich offiziell selbstständig machen und dabei einen niedrigen Pauschalsteuersatz von nur zehn Prozent zahlen. Hunderttausende oder gar Millionen von Ein-Personen-Betrieben, so die Hoffnung, könnten auf diese Weise entstehen - und die Arbeitslosenstatistik nach unten korrigieren.

    Der Begriff Ich AG gehörte bisher nicht zum Standardrepertoire der Arbeitsmarktpolitiker. Die zeitgeistig klingende Wort-Kombination hat sich einst die Trendforschung ausgedacht - zusammen mit anderen Neuschöpfungen wie etwa "Selbst GmbH". In der Wissenschaft hat sich die Bezeichnung "Arbeitskraft-Unternehmer" durchgesetzt. Sie stammt von dem Soziologen Günter Voß, Hochschullehrer an der Technischen Universität in Chemnitz.

    Eine unserer zugespitzten Thesen ist, dass diese Arbeitskraft-Unternehmer angesichts der Anforderungen, die auf sie zukommen, hochgradig ihren gesamten Alltag, ihren Lebenszusammenhang organisieren müssen. Und wir sagen, das führt eigentlich dazu, dass unsere gesamte Lebensführung verbetrieblicht wird. Also man muss Alltagsorganisation im engeren Sinne betreiben. Dies schließt ein, dass man sich sehr dynamisch in den Zeiten bewegt. Wir sind auf dem Weg in eine Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft. Wir sind auch auf dem Weg in eine Gesellschaft, wo überall, oder auch nirgends, gearbeitet wird: teilweise zu Hause arbeiten, teilweise im Betrieb arbeiten, viel unterwegs sein, mobil arbeiten. Viele Berufstätige, die mobil sind, Außendienstler, arbeiten schon so. Aber das wird für viel mehr Arbeitskräfte auf uns zukommen.

    Eine Arbeitsvermittlung der besonderen Art ist die Münchner Firma Newplan. Sie vermittelt keine Arbeitsplätze, sondern Aufträge. In ihren Computern sind die Namen von mehreren tausend Freiberuflern erfasst - und deren persönliche Fähigkeiten genauestens archiviert. Ein Unternehmen, das für ein bestimmtes Projekt einen Spezialisten sucht, wird bei Newplan fündig. Die bayerische Agentur vermittelt je nach Wunsch: für ein paar Wochen, für ein paar Monate oder auch länger.

    Er sah sich nun einem sich ständig wandelnden Netz von Geschäftsbeziehungen unterworfen: Jeder Anruf musste beantwortet, noch die flüchtigste Bekanntschaft ausgebaut werden. Um Aufträge zu bekommen, ist er von der Tagesordnung von Personen abhängig geworden, die in keiner Weise gezwungen sind, auf ihn einzugehen.

    So beschreibt der amerikanische Autor Richard Sennett in seinem Buch "Der flexible Mensch" den Alltag von selbstständigen Auftragnehmern. Immer weniger Menschen können eine klassische Erwerbsbiografie verfolgen. Statt dessen wird die bunte, immer wieder unterbrochene Berufslaufbahn zur neuen Norm. Aus heiterem Himmel kommt die Kündigung, aus dem Vollzeitarbeitsplatz kann plötzlich ein Teilzeitjob werden, es folgt der keineswegs immer freiwillige Sprung in die "Ich AG". Die für Jahrzehnte prägenden Strukturen der Industriegesellschaft lösen sich auf, glaubt Gerhard Bosch vom Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen:

    Unsere Erwerbsarbeit war ja in der Vergangenheit sehr klar strukturiert. Jeder wusste, wann die Arbeit begann, wann Pausen waren, wann sie endete. Man wusste auch, wann Freizeit begann. Die Unternehmen erwarteten eigentlich kein Engagement über die Arbeitszeit hinaus, sondern in der klassisch tayloristischen Fabrik war die Arbeit erledigt, wenn man aus dem Fabriktor herausgegangen ist.

    Das gehört der Vergangenheit an. Heute fordert die Wirtschaft von ihren Beschäftigten viel mehr persönliches Engagement und viel mehr Einsatz - gerade bei den Beschäftigten mit höherer Qualifikation:

    Zum Teil haben die gar keine Arbeitszeit mehr in ihrem Arbeitsvertrag stehen, sondern von ihnen wird erwartet, dass sie ein bestimmtes Resultat bringen, unabhängig davon, wie viel Stunden sie arbeiten. Das führt dazu, dass bestimmte Arbeitskräfte heute weitaus länger arbeiten als in der Vergangenheit, und sich zudem auch noch in ihrer Freizeit weiterbilden müssen. Das ist eine Form der Entgrenzung von Arbeit.

    Der neue Typus des "Arbeitskraft-Unternehmers" muss seine Arbeitskraft eigenhändig vermarkten: So überspitzt formulieren es die Soziologen Günter Voß und Hans Pongratz. Gemeinsam haben sie den Trend zur Beschäftigung auf der Basis von "Projektarbeit" wissenschaftlich untersucht. Voß beschreibt die Veränderungen so:

    Wir erleben derzeit einen fundamentalen Strukturwandel in der Arbeitswelt. Ein Teil dieses Wandels ist, dass ganz neue Anforderungen an Arbeitskräfte gestellt werden dahingehend, dass sie verstärkt ihre Tätigkeit selbst organisieren müssen. Das hat ganz unterschiedliche Formen. In normalen Beschäftigungsverhältnissen etwa im Rahmen von Gruppenarbeit oder Profitcentermodellen, aber, wie wir sagen, auch betriebsübergreifend, sogenannte Scheinselbstständigkeit, in dem auf freie Arbeitskräfte zurückgegriffen wird, die eben sehr selbständig arbeiten müssen.

    Wissenschaftler vermuten, dass sich dieser Trend verstärken wir. Daraus werde sich dann eine grundlegende Veränderung des Typs von Arbeitskraft entwickeln:

    Bisher hatten wir den Typus des berufsbezogenen Arbeitnehmers, der eher darauf ausgerichtet war, relativ unselbständig zu reagieren, also auf Anweisungen zu warten. Jetzt könnte ein neuer Typus in den Vordergrund treten, der es gelernt hat und darauf ausgerichtet ist, sehr selbstständig sich zu organisieren, aber dabei - so würden wir anmerken - sich auch sehr selbstständig auszubeuten.

    Zukunftsforscher entwerfen das Szenario einer 'Zwanzig zu Achtzig-Gesellschaft'. Nur noch ein privilegiertes Fünftel der Bevölkerung hat danach künftig eine abgesicherte Beschäftigung - alle anderen zählen zur Randbelegschaft. Die oberen zwanzig Prozent arbeiten hochqualifiziert und besonders lange - und verdienen entsprechend. Der Rest wurstelt sich irgendwie durch, nimmt immer wieder Phasen der Erwerbslosigkeit in Kauf, hangelt von einem Zeitvertrag zum nächsten - oder wird eben zur "Ich-AG", zum selbstständigen Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft. Hans Pongratz, früher Management-Trainer und jetzt in einem sozialwissenschaftlichen Institut in München tätig, gewinnt diesem Trend nicht nur schlechte Seiten ab.

    Die Chancen und Risiken dieser Entwicklung hängen sehr stark von den Ausgangsbedingungen ab, die jemand mitbringt. Also welches Kapital im weiteren Sinn kann er jetzt als sein eigener Unternehmer einbringen: Kapital im Sinne von Bildung, Kapital im Sinne von Besitz, aber auch von sozialen Netzwerken. Von der Tendenz her sehen wir zwei Extreme: Das eine könnte man bezeichnen als den Erfolgsunternehmer ihrer Arbeitskraft, Leute, die ausreichend Kapital in diesem umfassenden Sinne mitbringen und die sich auch mit den entsprechenden Fähigkeiten des Selbst-Managements nach außen vermarkten, solche Fähigkeiten nutzbringend anbringen können. Auf der anderen Seite etwas, was man neuartige Tagelöhner ihrer Arbeitskraft nennen könnte, Leute, die auch jetzt schon wenig Möglichkeiten haben und für die es in Zukunft noch schwieriger werden wird.

    Zur Zeit sind rund zehn Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland selbstständig. Erfolgreiche, gut honorierte Freiberufler sind darunter, aber auch Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt: Schein-Selbständige. Sie arbeiten zur Aushilfe, für Vertriebsfirmen oder auf eigene Rechnung. Freiberufler stehen in der Kosmetikabteilung, beraten beim Kleiderkauf oder betreuen den Heimwerkermarkt. Putzhilfen, Packer oder Sortierer fordern die Unternehmen ohne weitere Verpflichtungen bei Bedarf an. Die Kunden merken nur selten, dass in den gleichen Kitteln Kaufhausmitarbeiter, aber auch Angestellte von Fremdfirmen oder formal Selbstständige stecken können. Der Soziologe Günter Voß:

    Für uns ist es wichtig, dass dieser Typus des Arbeitskraft-Unternehmers ganz unterschiedliche Erscheinungsformen hat. Kleinselbstständige, Freiberufler - das sind Sachen, die es bisher auch schon gab, das könnte sich aber ausweiten. Aber auch innerbetrieblich, im Rahmen von normalen Lohnarbeitsverhältnissen, dann nämlich, wenn etwa ein Meister in einem Betrieb jetzt wie ein kleiner Unternehmer agieren muss. Die entsprechenden Konzepte gibt es ja, der sogenannte Intrapreneur, also der Unternehmer im Unternehmen.

    Den Unternehmer im Unternehmen gibt es mittlerweile nicht n ur auf der Ebene von Experten und Führungskräften, sondern auch schon weit unterhalb dieses Bereiches:

    Und das sind in unseren Augen durchaus Arbeitskräfte, die wie Unternehmer ihrer selbst auftreten müssen. Die müssen sich auch innerhalb ihres Betriebes, in dem sie angestellt sind, permanent neu vermarkten. Die Devise heißt dann: Sie können so lange hier bleiben, wie Sie nachweisen, dass Sie gebraucht werden und Profit erwirtschaften.

    Fragwürdige Formen von Selbstständigkeit finden sich etwa im Transportgewerbe. Speditionen legen ihren bisher festangestellten Fahrern nahe, einen Lastwagen zu kaufen und auf eigene Faust weiterzumachen. Zehntausende solcher Ein-Fahrzeug-Betriebe rollen über deutsche Straßen. Auch Verlage und Druckereien umgeben sich mit einem Kranz von formal unabhängigen Dienstleistern, die Aufgaben wie Satz, Anzeigenakquisition, Verwaltung oder Buchführung übernehmen. Bauunternehmer entlassen Arbeiter, um sie nur wenige Tage später, mit einem Werkvertrag in der Tasche, wieder auf die Baustelle zu schicken. In Schlachthöfen lassen sogenannte 'Ausbeiner' auf eigene Rechnung Blut fließen. Bei Tiefkühlketten oder Kurierdiensten ist der Kleinstunternehmer mit eigenem Fahrzeug fast schon der Normalfall.

    Die Zahl der Ein-Personen-Unternehmer steigt aber auch unter Akademikern: in Berufsgruppen, die anspruchsvolle Aufgaben lösen und eine gute Ausbildung vorweisen können. Der Bedarf ist da, weil die Betriebe verstärkt das so genannte Outsourcing praktizieren: Sie lagern Tätigkeiten aus, vergeben sie als Projekt. Die Arbeit auf der Basis von Werkverträgen beschränkt sich längst nicht mehr auf Spezialisten mit einer langen freiberuflichen Tradition. Ärzte, Anwälte oder Steuerberater arbeiten seit Generationen als Selbstständige - mit Erfolg, weil sie durch besondere Schutzsysteme wie etwa ständische Gebührenordnungen abgesichert sind. Jetzt aber werden auch Techniker, Finanzexperten oder Facharbeiter nur noch für bestimmte Aufgaben oder begrenzte Zeiträume engagiert.

    Der Arbeitswelt der Zukunft fehlen die verlässlichen, festen Strukturen. Sie ist eher ein Netzwerk, in dem Auftraggeber und Auftragnehmer im Rahmen eines bestimmten, zeitlich begrenzten Projektes zusammenarbeiten. Ihre klar umrissene und befristet angelegte Tätigkeit wird Freiberuflern häufig recht gut entlohnt. In der Medienbranche zum Beispiel können schon Berufsanfänger viel verdienen - aber häufig nur für kurze Zeit.

    Langfristigkeit ist in der schnelllebigen Szene nicht mehr vorgesehen. Nach lukrativen Projekten kommt von einem Tag auf den anderen der tiefe Absturz: Die Sendung wird eingestellt, der Moderator gekündigt, und mit ihm steht das ganze Team auf der Straße. Die Medienstars, für ihre Auftritte fürstlich bezahlt und stets auf dem Sprung zum nächsten Job im Rampenlicht, mögen solche Rauswürfe rein finanziell gut verkraften. Ihre Probleme beschränken sich auf die Verletzung von Eitelkeiten - während es für die Mitarbeiter in den von ihnen gegründeten Subfirmen ganz handfest um die Existenz geht.

    Die Arbeit auf der Basis von Werkverträgen kommt in jedem Fall billiger, als extra Leute einzustellen. In der Sprache der Absatzwirtschaft ausgedrückt: Wenn die Markteinführung eines neuen Produktes scheitert, sind für überflüssig gewordene Angestellte teure Abfindungen fällig. Freiberufler dagegen verursachen außer ihrem Honorar keine Kosten, und sie kennen ihr berufliches Risiko. Mit einem Problem allerdings haben fast alle neuen Selbstständigen zu kämpfen: mit ihrer Vereinzelung. Hans Pongratz vom Münchner Institut für sozialwissenschaftliche Information und Forschung:

    Viele Menschen, die heute noch über ihre Kollegen schimpfen, werden sie vielleicht noch einmal bitter vermissen. Was man heute ganz selbstverständlich hinnimmt, was in normalen Arbeitsverhältnissen gegeben ist: ein fester Arbeitsplatz, Kollegen, eine bestimmte Ausstattung, wird unter veränderten Arbeitsbedingungen, wie wir sie mit dem Arbeitskraft-Unternehmer skizzieren, sich auflösen und selbst organisiert werden müssen. In einer gewissen Form muss ich mir meine eigenen Kollegen dann suchen, mir eine Kollegenschaft schaffen. Und das ist wiederum Arbeit, die Zeit kostet.

    Freiberufler sind selbst dafür verantwortlich, genügend Arbeit zu haben; sie brauchen Kunden und Aufträge. Die Ich AG stellt hohe Anforderungen an die Persönlichkeit, verlangt eigene Initiative und Durchsetzungsvermögen. Kein Zufall, dass sich etwa in der Medienbranche überwiegend junge, ungebundene Leuten um die 30 tummeln: Die Bodenständigkeit eines Lebens mit Kindern und Bausparvertrag lässt sich mit der verlangten Flexibilität und Belastungsfähigkeit kaum vereinbaren.

    Vielen, gerade den Älteren oder den Schlechtqualifizierten, gelingt es nicht, ihre Arbeitskraft eigenhändig zu vermarkten. Sie zahlen einen hohen Preis dafür, dass sie die geschützte Welt des Arbeiter- oder Angestelltendaseins verlassen müssen. Das gilt gerade für die einstigen Helden des Industriezeitalters: Männliche Beschäftigte mit angelernten Fertigkeiten, die in der digitalisierten Arbeitswelt von morgen nicht mehr gebraucht werden. Aus ihnen werden in der Regel keine erfolgreichen 'neuen Selbstständigen', sondern Langzeitarbeitslose.

    Im Jahr 2010, so prophezeien Experten, wird nur noch die Hälfte der Erwerbstätigen über ein Standard-Arbeitsverhältnis verfügen. Den Kranken- und Rentenversicherungen kommen die Mitglieder abhanden, denn der Sozialstaat beruht auf dem Prinzip der "Normalarbeit", auf den Beiträgen der Vollzeit-Beschäftigten, die dauerhaft eine abgesicherte Stelle haben. Der neue Typus des Selbstständigen fällt heraus aus diesem System. Günter Voß:

    Die Arbeitskraft-Unternehmer stehen vor der Aufgabe, ihr gesamtes Leben, ihre ganze private Existenz hochrationalisiert in den Griff zu bekommen. Das schließt auch die Organisation der sozialen Sicherung mit ein. Nur: Was ist mit denen, die das nicht können, einfach aus dem Grund, dass die Ressourcen für eine private Altersversorgung nicht da sind? Das werden neue Problemgruppen sein, die jetzt schon erkennbar sind. Und da werden sich die Gewerkschaften, aber auch eine neue Form von Sozialpolitik drum kümmern müssen. Wir sehen eine starke Tendenz zur Polarisierung der Arbeitnehmerschaft in diese Verlierer auf der einen Seite und in die Gewinner dieses Prozesses.

    Gewerkschafter, die von Tarifverträgen oder gar von Bestandsschutz reden, haben unter den neuen Selbstständigen meist einen schweren Stand. Optimismus, Durchhaltevermögen und Gut drauf sein gehören zum Ethos der Ich AGs - auch wenn viele der Freiberufler abhängiger und schutzbedürftiger sind als viele Arbeitnehmer im Betrieb. Der Soziologe Hans Pongratz: sieht Bedarf für neue Formen der Selbsthilfe.

    Bei aller Individualisierung der Erwerbslagen gibt es viele Gemeinsamkeiten, die Arbeitskraft-Unternehmer teilen und die auch wieder kollektiv vertreten werden müssen. Vermutlich wird das nicht so aussehen können wie bisherige gewerkschaftliche Arbeit abläuft, dass das quasi stellvertretend von ein paar Experten übernommen wird. Sondern man wird sehr viel genauer hinsehen müssen, welche Initiativen entfalten die Leute von selber, welche Probleme haben sie denn jetzt wirklich? Und inwieweit sind bisherige Organisationsformen der Gewerkschaft dafür geeignet, und wo müssen neue Organisationsformen geschaffen werden? In gewisser Weise, wenn sich die Arbeitsverhältnisse entgrenzen, muss auch die Interessenvertretung entgrenzt werden.

    Die Gewerkschaften gründeten sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, um der Ausbeutung der Arbeiter entgegen zu treten. Sie entstanden als Zusammenschlüsse abhängig Beschäftigter, die ihre Lage nur durch gemeinsames Handeln verbessern konnten. Im Kern hat sich an dieser Aufgabe nichts geändert. Auch künftig werden nur wenige Menschen als Einzelkämpfer über Arbeitszeit oder Entlohnung verhandeln können. Hans Pongratz weist darauf hin, dass sich der Trend zum Arbeitskraft-Unternehmer sehr verschieden auf die Individuen auswirkt.

    Die Gewerkschaften haben natürlich recht, wenn sie auf die Risiken verweisen, die das mit sich bringt. Allerdings sind die Risiken sehr unterschiedlich verteilt. Und die Gewerkschaften haben weiterhin dort eine wichtige Aufgabe, wo sich diese Risiken häufen. Und das wird bei vielen, vor allem gering qualifizierten Arbeiten der Fall sein. Für viele Menschen, mit guter Bildung und vor allem für junge Leute mit Engagement verändert sich aber ihre Einstellung zur Arbeit. Sie wollen nicht mehr diese engen Grenzen, die in herkömmlichen, standardisierten Arbeitsverhältnissen gegeben sind. Und da, denke ich, müssen sich auch die Gewerkschaften neu orientieren hin auf neue Interessen in der Arbeitnehmerschaft, die Chancen zur Selbstständigkeit nutzen wollen.

    Die Hartz-Kommission, die Arbeitslose zu selbstständigen Ich AGs machen will, möchte auf diese Weise vor allem die Schwarzarbeit eindämmen. Die Chancen, so die Probleme am Arbeitsmarkt zu lösen, dürften jedoch gering sein. Denn nur wenige der neuen Freiberufler sind Lebenskünstler oder Erfolgsunternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft. Unter ihnen finden sich auch die modernen Tagelöhner, denen nichts anderes übrig bleibt, als sich unter prekären Bedingungen anzubieten.

    Die Arbeitslosenstatistik mag dann etwas günstiger aussehen, die sozialen Probleme aber tauchen an anderer Stelle, etwa in den Sozialämtern, wieder auf. Natürlich kann es eine große persönliche Chance sein, sich beruflich selbstständig zu machen - doch auch die neue Welt der Arbeit kann auf Zusammenhalt und Solidarität nicht verzichten.