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"Ich bestimmte Form und Bewegung jedes Konsonanten..."

"Ein Kind Shakespeares" nannte ihn Victor Hugo, "Engel des Exils" Stephane Mallarmé, einen "Desperado des Instinkts" Stefan Zweig. Arthur Rimbaud kam aus einfachen Verhältnissen, der Vater war Infanteriekapitän, die Mutter eine Kleinbäuerin; das Wunderkind, das in der Schule von Charleville immer erste Preise einheimste, hatte in einem Alter, da andere gewöhnlich erst anfangen, ihre Vorbilder zu imitieren, die französische Lyrik wie kein zweiter revolutioniert. Mit 15 Jahren wurde sein erstes Gedicht in freien Versen veröffentlicht, mit 19 Jahren verstummte er für immer. Jean-Louis Barrault gibt Rimbauds Abschied von der Poesie Stimme:

Von Hans-Jürgen Schmitt | 20.10.2004
    Depuis longtemps je me vantais de posséder tous les paysages possibles, et trouvais dérisoires les célébrités de de la poésie moderne…J’inventais la couleur des voyelles! – A noir, E blanc, I rouge, O bleu, U vert.- Je réglais la forme et le mouvement de chaque consonne...

    "Seit langem prahlte ich damit, alle möglichen Landschaften in mir zu tragen, und fand die Berühmtheiten der modernen Malerei und Poesie lächerlich...
    Ich erfand die Farben der Vokale!-A schwarz, E weiß, I rot, O blau, Ü grün. – Ich bestimmte Form und Bewegung jedes Konsonanten..."

    Der nach Grenzenlosigkeit dürstende, der "Das trunkene Schiff dichtete", die "Illuminations", die "Erleuchtungen", und den Zyklus "Une Saison en enfer, Eine Zeit in der Hölle", wurde zum ruhelosen Wanderer, der Europa den Rücken kehrte;
    Je revais croisades , voyages de découvertes dont on n’a pas de relations, républiques sans histoires, guerres de religions étouffées, révolutions de mœurs, déplacements de races e de continents: je croyais à tous les enchantement.

    "Ich träumte von Kreuzzügen, von Entdeckungsreisen, über die es keine Berichte gibt, von Staaten ohne geschichtliche Überlieferung, von niedergeschlagenen Religionskriegen, von Wanderungen der Völker und Kontinente: ich glaubte an alle möglichen Zaubereien."

    Verworfen hat er alle Poesie und gehasst hat er "L’Europe ancienne", das "alte Europa" von früh an: im "Trunkenen Schiff", jener kühnen, absoluten Metapher der Loslösung von den "engen Mauern Europas" dichtet er:

    "So war ich verloren im Haar der Buchten,/ in vogellosen Äther verschlagen vom Orkan,/ und kein Dampfer, kein Segler suchten/ meinen vom Meer ertrunkenen Kahn.
    Der ich nur leicht geschwankt, wenn vom weiten/ ich Meerungetüme und Wirbel gespürt;/ der Wanderer in seinen Regungslosigkeiten-/ mir graut vor der Mauer, die Europa umschnürt."

    Ab 1874 verschwand Rimbaud aus Europa. Er desertierte aus der holländischen Kolonialarmee in Batavia, wurde Steinbruchaufseher auf Zypern, ging in den Nahen Osten und Zentralafrika. Arbeitete für Handelsfirmen, erforschte unbekannte Gebiete für geographische Gesellschaften und trieb Waffenhandel für den König Menelik von Schoa. Todkrank kehrte er noch einmal nach Europa zurück, nach Marseille; dort musste sein rechtes Bein amputiert werden. Rimbaud stirbt, gerade einmal 37 Jahre alt, am 10.November 1891.

    Die Verwandlung des Dichters in den afrikanischen Kaufmann und Forscher hat nicht nur Rätsel aufgegeben, sondern auch Mythen erzeugt, gerade weil die Literatur für ihn nur ein "notwendiger Seitensprung" eines Lebens war, das sich auf radikalste Weise auslebte. In den beiden Briefen über Dichtung von 1871 bekennt der 17-jährige seine Absicht:

    "Zur Zeit wühle ich mich so viel wie möglich in Lumpereien hinein. Warum? Ich will Dichter werden und ich arbeite daran, mich sehend zu machen... Es geht darum, durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen."

    So entwickelt Rimbaud eine diktatorische Sehweise, chaotische Gehalte werden in parataktische Sätze gepresst und explosiv komprimiert. Der Realität wird die Raumdimension entzogen. Das Abnorme wird in den "Illuminations" das poetisch Normale, das Benjamin Britten ein halbes Jahrhundert nach Rimbauds Tods vertonte:

    "Das sind Städte! Das ist ein Volk, für das diese Traum-Alleghanhys und Libanone sich aufgerichtet haben. Sennhütten aus Kristall und Holz bewegen sich auf unsichtbaren Schienen und Rollen. Die alten Krater, umgürtet von riesigen Säulen und kupfernen Palmen, brüllen melodisch in den Feuern. Liebesfeste erklingen auf Kanälen, die hinter den Hütten hängen..."