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Ich bin älter, ich bin neuer"

Seit der Liquidation der bildungsbürgerlichen Memorialkultur durch die 68er Revolte befindet sich Goethe in den Schulen und im allgemeinen Bildungsbewusstsein auf dem Rückzug. Eine Entwicklung, die selbst Peter Stein mit dem spektakulären Bühnenereignis der ungekürzten Faust-Tragödie nicht nachhaltig umkehren konnte.

Von Manfred Osten | 25.03.2007
    Gilt für Goethe daher erneut oder immer noch das Nietzsche-Wort, dass er in der Geschichte der Deutschen ein "Zwischenfall" ohne Folgen ist? Ist er im Zeitalter der Globalisierung das Opfer einer allgemeinen Erosion des kulturellen Gedächtnisses? Kann daher überhaupt von einer Aktualität Goethes im 21. Jahrhundert gesprochen werden?

    Fragen über Fragen, denen anlässlich des 175. Todesjahres dieser Zentralsonne der so genannten Weimarer Klassik heute nachgegangen werden soll. Womit sich denn bereits die erste Frage stellt, nämlich die Frage nach dem Standort Goethes im globalen Dorf. Hat er hier überhaupt etwas zu suchen? Hier, wo die Flagge des rasenden Stillstandes der digitalen Lichtgeschwindigkeit weht? Die überraschende Antwort lautet: Goethe hat sie selbst und als erster gehisst vor 180 Jahren, diese Flagge der Globalisierung! Denn immerhin ist es Goethe, der 1827 mit dem Begriff "Weltliteratur" die literarische Globalisierung einläutet und erste Orientierungshilfe bietet: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit ... " Um dann an anderer Stelle die Warnung hinzuzufügen: "Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl tun, dieser Warnung nachzudenken."

    Für Goethe eine Warnung mit hoher Dringlichkeit. Das heißt, vor dem Hintergrund starker nationaler Tendenzen sah er die nach wie vor aktuelle Notwendigkeit der gründlichen Transformation einer patriotischen beziehungsweise eurozentristischen Belehrungsgesellschaft in eine kosmopolitische Lerngesellschaft gegenüber anderen Kulturen. Und dies in einer Welt, für die er bereits zwei Jahre vorher, 1825, die vielleicht abgründigste Problem-Formel der Globalisierung gefunden hatte. Es ist die moderne Geheimformel des globalen Dorfes schlechthin, deren Aktualität erst jetzt, im 21. Jahrhundert, langsam auf uns zukommt, und die quer steht zum Konzept einer geistigen Globalisierung im Goetheschen Sinne der Weltliteratur.

    Goethe hat diese problematische Formel der Globalisierung verheimlicht. Das heißt, er hat sie in einem Briefzusatz - einem Postscriptum - formuliert, den er nie an den Empfänger (seinen Großneffen Nicolovius in Berlin) abgesandt hat. Offenbar ließ sich Goethe hierbei von seiner Maxime leiten, dass es Pflicht sei, dem anderen nur das zu sagen, was er aufnehmen kann. Und in der Tat, erst wir - im 21. Jahrhundert - sind einigermaßen in der Lage, die globale Tragweite dieser Formel der Moderne zu begreifen. Sie lautet: "Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch Eins und das Andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja, was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der Übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch."

    Es ist die globale Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das absolute Diktat der Beschleunigung, die Goethe hier bilanziert mit dem Wort "alles veloziferisch". Ein Wort, mit dem Goethe die Eile (velocitas) mit Luzifer, dem Teufel, verbindet. Und es ist die in dieser Verbindung lauernde Gefahr der Selbstzerstörung des Menschen, die Goethe dann mit dichterischer Konsequenz in der "global-village"-Tragödie des Faust inszeniert als das moderne Welttheater der Ungeduld. Denn es ist Faust, der mit dem modernsten aller Flüche die globale Bühne betritt: "Fluch vor allem der Geduld!" Und es ist Luzifer Mephisto, der diesen Fluch bedient mit den global entfesselten Instrumenten der Beschleunigungs- und Wachstumsdynamik. Es sind: das schnelle Geld, der schnelle Degen, der schnelle Mantel. Und schließlich auch die schnelle Liebe als die selbstzerstörerische Formel jeder humanen Interpersonalität.

    Goethe hat es freilich nicht belassen bei der bloßen Benennung dieser Instrumente moderner Beschleunigungs- und Wachstumsdynamik. Er hat sie vielmehr bereits ausführlich beschrieben als wirkmächtige Parameter der Globalisierung. Und sie früh erkannt als ein seismographisches Frühwarnsystem, diese wirkmächtigen Parameter. Hatten diese sich doch schon zur Goethezeit angekündigt mit der Beschleunigung der Verkehrsmittel. Goethes Bemerkung (1827 gegenüber König Ludwig I von Bayern) über die Mobilmachungstendenzen seiner Zeit antizipiert bereits das Psychogramm des globalen Touristen: "[...] Einer eingepackten, willenlosen Ware gleich schießt durch die schönsten Naturschönheiten der Mensch. Länder lernt er keine mehr kennen. Der Duft der Pflaume ist weg [...]".

    Das neue Tempo des Lebens hatte vor allem Napoleon exemplarisch bestimmt. Als erster praktizierte er nicht nur den modernen Bewegungskrieg ("Man muss in erster Linie durch die Beine seiner Soldaten siegen"); er hat auch als Politiker ein bis dahin unbekanntes Tempo eingeführt und die Geschwindigkeit ("élan et vitesse"), dieses Geheimnis seiner Person und seiner Erfolge, Europa aufgezwungen als modernes Lebensgefühl. Wenn heute der französische Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio den Tempo-Rausch zum alles beherrschenden Merkmal des technischen Zeitalters erklärt und über "schneller werdende Innovationszyklen, Datenautobahnen und virtuelle Mobilität" klagt, so ist dies letztlich die (verspätete) Diagnose dessen, was Goethe als das "Veloziferische" erkannt und mit einer Tiefenschärfe analysiert hat, die ihresgleichen sucht.

    Aber auch die wirkmächtigen globalen Parameter der Medien- und Informationsgesellschaft hat Goethes dichterische Imagination antizipiert. Fausts "global village" von Mephistos Gnaden verfügt bereits über digital beschleunigte Welten schneller Videoclips. Sein virtuelles Arsenal reicht von Walpurgisnächten aller Art bis zur heraufzitierten Schönen Helena, von den archaischen Tiefen der Mütter bis zum Lärm längst geschlagener Schlachten. Es sind immer rascher wechselnde Bildsequenzen einer Beschleunigungskultur mit Luzifer als omnipotentem Artifex einer (kaiserlichen) Spaß- und Unterhaltungsgesellschaft, die sich im Zeichen grandioser Oberflächlichkeit und eines perfekten Zeitmanagements zu Tode amüsiert.

    Vor allem aber hat Goethe bereits ausführlich das geheim-offenbare Schwungrad des globalen Dorfes beschrieben, das schnelle Geld, das Kapital. Und es ist Karl Marx, der Phänomenologe des Kapitals, der dieses Schwungrad der Moderne, diesen "wirklichen Geist aller Dinge" folgerichtig in Goethes Faust entdeckt und zur Grundlage seiner Kapitalismus-Kritik macht. Der junge Marx hatte sich nämlich vor allem von Goethes Mephisto inspirieren lassen, der im Faust das Erfolgsrezept des Kapitals bereits mit den Worten beschreibt: "Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, / Sind ihre Kräfte nicht die meine? / Ich renne zu und bin ein rechter Mann, / Als hätt‘ ich vierundzwanzig Beine." Eine Erkenntnis, die Marx wie folgt kommentiert: "Was ich zahlen, das heißt, was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte. Ich - meiner Individualität nach - bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße, ich bin also nicht lahm; ich bin eine schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer [...] Geld ist also der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein?"

    Immer wieder ist es dieser Aspekt des Veloziferischen, dieser Aspekt der Beschleunigung in Quantensprüngen von 24 Füßen, den Goethe früh erkennt als den "wirklichen Geist" der Globalisierung. Dieser Geist hält bei ihm bereits Einzug in alle Lebensbereiche und Institutionen des heutigen "globalen" Dorfes. Da sind vor allem die Funktionseliten dieses Dorfes, die sich bedingungslos dem Geist des Veloziferischen in Gestalt des schnellen Geldes ausgeliefert haben. Denn im zweiten Teil der Faust-Tragödie wird er bereits vorgeführt: der moderne Wohlfahrtsstaat als Sanierungsfall, das kaiserliche Reich am Rande des Staatsbankrotts, dem sich auf dem Höhepunkt der Insolvenz und Ratlosigkeit Faust - mit Hilfe Mephistos - als Finanzberater und Haushaltsexperte andient.

    Er empfiehlt der Regierung das globale Konzept rascher grenzenloser Geldvermehrung durch ungedeckte Schuldverschreibungen - nach dem modernen Motto: "Wir wollen alle Tage sparen, und brauchen alle Tage mehr." Das heißt, Goethe führt in der Kaiserpfalz der Faust-Tragödie bereits das Betriebsgeheimnis der kapitalgestützen Globalisierung des 21. Jahrhunderts vor. Nämlich die veloziferische Verbindung von beschleunigter Investition und Produktion einerseits und von Bedarf- und Konsumbeschleunigung andererseits. Dies aber heißt, dass die beschleunigte Papiergeld-Schöpfung in Gestalt beschleunigter Kreditaufnahme zu einem beschleunigten Prozess von Investition und Produktion führt, der seinerseits durch beschleunigte Weckung von Bedarf und Konsum ausgeglichen werden muss.

    Goethe kennt auch bereist den neuen Menschentyp als Resultat dieser globalen Beschleunigungsprozesse von Kapital und Kommerz. Er skizziert diesen heute als "Humankapital" gehandelten Menschentyp mit den Worten: "Das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu machen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist." Um hieraus (gegenüber dem Berliner Komponisten Zelter) den Schluss zu ziehen: "Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt [...]. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren."

    Mit der Formulierung aber "niemand kennt sich mehr" gibt Goethe bereits Einblick in die veloziferische Innenwelt der globalen Außenwelt der Moderne. Goethe ahnt nämlich, dass die ausschließliche und sich rasant beschleunigende Fortschritts- und Zukunftsorientierung des Menschen notwendigerweise zur Selbstentfremdung führen muss. Denn das Leben wird - um einen Gedanken Kierkegaards aufzugreifen - zwar nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden.

    Goethe kennt daher auch bereits das Bildungskonzept einer globalen Beschleunigung und Mobilmachung des Menschen. Es ist das moderne Bildungskonzept eines beschleunigten Erwerbs von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Er ahnt, dass diese Illusion einer Gewinnung von Zukunft ohne Herkunft, dass dieser Versuch eines Lebens nach Vorwärts ohne jedes Verstehen nach Rückwärts letztlich zur Selbstzerstörung führen kann. Zu jener Selbstzerstörung, die sein tragischer Held Faust den Zuschauern im globalen Dorf vorführt: Faust ist hier im letzen Akt der Tragödie bereits der moderne Projektemacher, den die ausschließliche Sorge um die Zukunft erblinden lässt, dessen Vergangenheitshass alle Parameter der Humanität in Vergessenheit geraten lässt und der schließlich das Maß seiner Irrtümer und Gewalttaten voll macht, indem er einen Entwässerungsgraben mit seinem eigenen Grab verwechselt.

    Eine schauerliche Theater-Apokalypse also als Ergebnis veloziferischer Tendenzen des globalen Dorfes, die 1849 der Goethe-Bewunderer Grillparzer bilanzieren wird mit den Worten: "Der Weg der neuen Bildung geht / Von der Humanität / Durch die Nationalität zur Bestialität."

    Das Vergessen der Parameter der Humanität in der Gestalt des Faust ist bei Goethe also bereits das Geheimnis einer globalen, nicht mehr gedächtnisgestützten, sondern nur noch fortschrittsorientierten Bildung. Der damit verbundene Erosionsprozess des kulturellen Gedächtnisses im Zeichen eines ständigen Abwerfens von Memorial-Ballast zugunsten einer globalen Fortschrittsbeschleunigung gibt bei Goethe daher auch schon den Blick frei auf inzwischen notorische Science-Fiction-Visionen des globalen Dorfes.

    Die Rede ist von Verheißungen der Lebenswissenschaften, die jenseits aller tradierten Parameter der Humanität den antiquierten Menschen hinter sich lassen, um aufzubrechen zu einem neuen optimierten Menschentyp. Zu einem Menschentyp mit verbesserter Anpassungsfähigkeit an die immer rasanteren Beschleunigungsturbulenzen und -anforderungen der Globalisierung.

    In Gestalt "sehr ernster Scherze" (Goethes Definition der Ironie) wagt Goethe im zweiten Teil der Faust-Tragödie daher bereits diesen letzen Schritt einer Liquidierung des unzureichenden Menschen als antiquiertes Fehler- und Mängelwesen. Durch gentechnologischen Eingriff in den Genotyp des Menschen züchtet hier der zum Molekularbiologen avancierte Famulus Wagner - mit Mephistos Hilfe - einen neuen Phänotyp des Menschen mit Namen Homunculus. Wagner gelingt hierbei vor allem die Optimierung des menschlichen Gehirns. Denn sein Homunculus ist ausdrücklich konzipiert als ein "Hirn, das trefflich denken soll".

    Homunculus also als ein dem globalen Dorf bereits weit vorauseilendes Geschöpf postmoderner Züchtungsutopien, die Goethes Imagination abgeleitet hatte aus wissenschaftlichen Forschungsergebnissen seiner Zeit. Die Rede ist von der 1828 erstmalig gelungenen Umwandlung anorganischer in organische Materie. Und zwar in Gestalt der Wöhlerschen Harnstoffsynthese und der hieraus für Goethe resultierenden Neukonzeption der Homunculus-Szene im 2. Akt des zweiten Teils der Faust-Tragödie.

    Friedrich Wöhler hatte nämlich an der Berliner Gewerbeschule mit Hilfe cyansauren Ammoniums eine "kristallisierte Substanz" gewonnen, die sich als identisch mit tierischem Harnstoff erwies. Seinem Lehrer Johann Jakob Berzelius in Stockholm berichtete Wöhler als stolzer Famulus über sein biochemisches Experiment mit dem Hinweis, dass er nunmehr "Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren [...] nötig zu haben". Eine Nachricht, deren lebenswissenschaftliche Tragweite für Goethe offenbar eine ähnliche Bedeutung hatte wie für die Nachgeborenen heute die Nachricht von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

    Heute wie damals verschränkte sich der Blick auf das soeben aufgeschlagene neue Blatt im Buch des Lebens mir vorauseilenden Blicken der Phantasie auf eine plötzlich als möglich erscheinende - wie auch immer geartete - "künstliche" Generierung des Menschen. Das heißt, Goethe ahnte, dass der Mensch möglicherweise einst in die Lage versetzt sein könnte, die Gesetze der Evolution so vollständig zu verändern, dass seine Art auf dem Spiel steht.

    Goethe ist im Falle des Homunculus allerdings nicht stehen geblieben beim Resultat gentechnischer Intervention. Im weiteren Verlauf der Faust-Tragödie gelingt Homunculus mit Hilfe des Vorsokratikers Thales ein unerwartet kühner Schritt: Er überwindet seine künstliche Existenz, die den ungeduldigen Tendenzen seiner naturwissenschaftlichen Erzeuger geschuldet ist. Denn in der Schluss-Szene des zweiten Aktes, in den Ägäischen Meeresbuchten, entzieht sich Homunculus bewusst jedem menschlichen Zugriff. Statt dessen unterwirft er sich hier einem radikalen Entschleunigungsprozess durch Rückgriff auf die Evolution.

    Seine vom Proteus-Delphin ins Meer hinausgetragene Phiole zerschellt am Muschelthron der Galatee und löst sich als Meeresleuchten im Wasser auf. Und Homunculus folgt dem Rate des Thales: "Da regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tausend, abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit." Den Allmachtsphantasien der Ungeduld verordnet Goethe also ironisch ein evolutionshistorisches Moratorium von immerhin rund dreieinhalb Milliarden Jahren: Homunculus muss phylogenetisch nachsitzen.

    Der für Homunculus verordnete Entschleunigungsprozess lässt vermuten, dass Goethe selber Ausschau gehalten hat nach Möglichkeiten einer Entschleunigung als Therapie gegenüber den sich ankündigenden globalen Mobilmachungstendenzen.

    Von hohem aktuellen Interesse ist die Tatsache, dass Goethe hierbei offenbar Hoffnungen gesetzt hat auf jene beiden globalen Großphänomene, die jetzt, im 21. Jahrhundert zu den größten Herausforderungen der westlichen Welt gerechnet werden müssen: China und der Islam. Mit beiden Großphänomenen hat sich Goethe vor allem in der zweiten Lebenshälfte intensiv beschäftigt.

    Die wichtigen Gedichtzyklen, die "Chinesisch-deutschen Tages- und Jahreszeiten" und der "West-Östlichen Divan" mit Goethes eigenem Kommentar zum "Divan" sind die Resultate dieser geistigen Morgenlandreisen Goethes als frühe Versuche, den Blick der eurozentristischen Belehrungsgesellschaft auf andere Kulturen zu lenken.

    Goethe, der in der Rezeptionsgeschichte selber als "Konfuzius von Weimar" bezeichnet worden ist, hat in der Tat als ein Therapiemittel der Entschleunigung für den Westen den Gedanken der konfuzianischen "Mäßigung" gerühmt. Gegenüber Eckermann kommt er 1827 zum Ergebnis: "Durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen."

    Zugegeben, das "chinesische Reich" der Goethezeit besteht nicht mehr, aber der Geist der "Mäßigung in allem" als einer zentralen Tugend des Konfuzianismus dürfte als ein Prinzip der Klugheit und des Überlebens weiterhin Aussicht auf Akzeptanz haben. Eine Akzeptanz, die allerdings nur im Zeichen einer Renaissance dieser chinesischen Tugenden gelingen dürfte.

    Immerhin plant China seit 2005 überraschend die Gründung zahlreicher "Konfuzius-Institute" weltweit. Und die ersten Konfuzius-Institute haben bereits in Deutschland 2005 ihre Tore geöffnet in Berlin, Erlangen und Düsseldorf. Es bleibt freilich abzuwarten, ob der Namenspatron dieser Institute auf eine Renaissance im Sinne der von Goethe bewunderten Mäßigungs-Tugend im globalen Dorf hoffen darf. Immerhin hat Goethe schon 1813 gegenüber seinem Jugendfreund Knebel ein provokantes China-Bekenntnis abgelegt: "Ich habe mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Falle der Not [...] dorthin zu flüchten."

    Und der Islam? Hier hatte Goethe offenbar vor allem im Gedanken des Determinismus eine mögliche Quelle der Entschleunigung erblickt. Die "unbedingte Ergebung in den Willen Gottes" erschien ihm als die Manifestation einer anti-veloziferischen Religion, als Gegenwelt zum alles beschleunigenden ungeduldigen Wollen des Westens.

    Goethe war sich hierbei allerdings früh des abgründigen temporalen und kulturellen Schismas zwischen dem Stillstand des Islams und dem akzelerierenden Westen und der daraus resultierenden dringenden Notwenigkeit einer Dialogstrategie des Westens mit dem Islam bewusst. Er wusste vor allem, dass der Islam sich definiert vor dem Hintergrund eines ungebrochenen glaubens- und damit gedächtnisgestützten sakralen Weltverständnisses. Mit der notwendigen Folge, dass aus der Sicht des Islams auf westlicher Seite ein relevanter Dialogpartner gar nicht existieren kann, solange die Globalisierung dem westlichen Muster einer Aufklärung folgt, die sich im faustischen Sinne versteht als Abwerfen von Gedächtnis- und Glaubens-"Ballast" im Interesse einer beschleunigten Gewinnung von Zukunft ohne Herkunft.

    In Goethes eigenem Kommentar zum "West-östlichen Divan" findet sich daher auch bereits lange vor Huntingtons These des "clash of civilizations" die kühne Prognose: "Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens." Eine Prognose, die begleitet wird von Goethes früher Einsicht in eine Gefahr mit inzwischen globalen Aspekten. Nämlich die Einsicht in dogmatische Tendenzen des Korans, den er charakterisiert mit den Worten, der Koran sei "groß, streng und furchtbar".

    Gleichwohl wäre es verfehlt, wenn man Goethe, der von sich behauptet hat, er gehe so gerne dort, wo die "Widersprüche schwirren", in Anspruch nehmen würde für eine eindeutige Entschleunigungstherapie gegenüber den Beschleunigungstendenzen der Globalisierung und den damit verbundenen wachsenden Risiken und Kollateralschäden. Goethes Aktualität dürfte in diesem Zusammenhang eher zu finden sein in der Vermutung, dass für ihn diese Beschleunigungsturbulenzen im Ergebnis eher hinauslaufen könnten auf ein Fortschreiten als auf erhofften Fortschritt.

    Er hat für sich selber jedenfalls den Ausgang der globalen Entwicklung offen gehalten mit einer denkwürdigen Bemerkung gegenüber Eckermann 1829, drei Jahre vor seinem Tod: "Übrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten."