Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


"Ich bin ein prinzipieller Gegner der Großen Koalition"

Die SPD sei nicht dazu da, als Gehilfe der Kanzlerin zu dienen, sagt SPD-Urgestein Egon Bahr. Deshalb lehnt er eine Koalition mit der CDU ab. Zumal seine Partei während der jüngsten gemeinsamen Regierung mit der Union schwächer wurde.

Egon Bahr im Gespräch mit Frank Capellan | 05.05.2013
    Frank Capellan: Egon Bahr, in wenigen Wochen wird die SPD ihren 150. Geburtstag feiern, die Sozialdemokraten sehen als Gründungsdatum ihrer Partei den 23. Mai 1863 an, also jenen Tag, an dem Ferdinand Lassalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gründete. Stolze 57 Jahre dieser langen Geschichte haben Sie schon die SPD begleitet. Und wenn man Ihr Buch liest, die jüngst erschienenen Erinnerungen an Ihre Jahre mit Willy Brandt, dann kann man zu dem Schluss kommen, es hätten sogar noch ein paar mehr sein können. Sie beschreiben da, dass Sie drei Anläufe brauchten, um Mitglied dieser traditionsreichen Partei werden zu können. Warum wollte man Sie nicht haben?

    Egon Bahr: Das ist ganz einfach. Ich war von Berlin nach Bonn versetzt worden als Korrespondent und habe dort festgestellt, dass das gestimmt hat, was Jakob Kaiser mir gesagt hatte schon in Berlin unmittelbar 1945 nach dem Ende des Krieges: "Wir müssen dafür sorgen, dass Adenauer, dieser Separatist, nicht die CDU in die Hand bekommt." Als ich dann also nach Bonn kam, habe ich in der Tat festgestellt, die hatten recht, und zwar deshalb, weil Paul Bourdin als Sprecher Adenauers mich eines Morgens anrief und sagt: "Kollege Bahr, ich bin gestern Abend mit dem alten Herrn nach Rhöndorf gefahren. Es ist gar keine Frage, er will die Einheit gar nicht. Ich muss aber täglich das Gegenteil verkünden." Das war ein Punkt meiner Gegnerschaft zu Adenauer und ein Punkt, der mich dazu gebracht hat, Schumacher, den ich geschätzt habe als Vorsitzenden der SPD, zu sagen: "Die SPD ist die einzige Partei, die wirklich prioritär die Deutsche Einheit will. Ich möchte gern Mitglied Ihrer Partei werden". Und darauf sagte Schumacher: "Mir wäre es lieber, wenn Sie nicht Mitglied werden" – schon damals gab es ein Quotensystem – "es wäre mir lieber, wenn Sie uns nicht zugerechnet werden." Das war die erste Abweisung.

    Und dann kam nach dem Tode von Schumacher Ollenhauer. Ich hatte Brandt gefragt, der mir inzwischen aufgefallen war als "Mister Berlin", ich möchte Mitglied seiner Partei werden, und darauf sagte er: "Sie überschätzen das, man kann unter Umständen von außen mehr bewegen als von innen." Da war ich das zweite Mal abgewiesen worden. Und als Ollenhauer dann über Ungarn 1956 eine törichte Bemerkung machte, bin ich zu Brandt gegangen und habe gesagt: "Ich bestehe jetzt darauf, Mitglied dieser Partei zu werden!" Da lächelte er milde und sagte: "Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen." So wurde ich 1956 Mitglied dieser glorreichen Partei.

    Capellan: Was verbinden Sie mit der SPD, mit der langen Geschichte der SPD, was kommt Ihnen da zuerst in den Sinn?

    Bahr: Also zuerst kommt mir in den Sinn, dass die Partei tatsächlich die erste Partei in der Welt gewesen ist, die die Gleichberechtigung der Frau in der Politik sich auf die Fahnen geschrieben hat. Ohne die SPD hätte es das aktive und passive Wahlrecht für Frauen nicht gegeben. Die Frauen haben es uns bisher mit den Wahlergebnissen nicht honoriert, aber das ist völlig egal. Das bleibt in meinen Augen das größte Verdienst.

    Capellan: Der charismatische Willy Brandt hat ja dann Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre für eine regelrechte Eintrittswelle gesorgt. Auch Peer Steinbrück, der Kanzlerkandidat der SPD heute, er gehört zu denjenigen, die sich von Brandt angezogen fühlten, er ist 1969 in die Partei eingetreten. Was ist Ihre Erklärung, warum hat Brandt so viele Menschen fasziniert?

    Bahr: Ich glaube, dass der Vorwurf, den viele Brandt gemacht haben, er entscheide nicht schnell genug, er wäge ab, sowohl als auch, ein Ausdruck der Tatsache war, dass Brandt durch seinen ganzen Lebenslauf – schwierige Jugend, Exilrückkehr - bestimmt war, das heißt, gelernt hatte, dass man sich anpassen müsse und dass er menschliche Schwächen nicht verbarg. Und gerade die Tatsache, dass er das nicht verbarg, wurde zu einer seiner Stärken. Das war ja ein richtiger Mensch und nicht ein Motor und ein Machtinstrument. Und dazu kam dann das Ziel, das Kennedy schon formuliert hatte: Wenn es Krieg nicht geben soll, muss man mit dem Gegner sich verständigen und kooperieren. Das war die Sowjetunion.

    Capellan: Und Sie haben gesagt: Ich möchte die Außenpolitik der Partei verändern, und haben dann 1963 bei der Evangelischen Akademie in Tutzing diesen berühmten Vortrag gehalten unter dem Stichwort "Wandel durch Annäherung". Wann ist bei Ihnen die Erkenntnis gereift, dass die deutsche Teilung erst einmal akzeptiert werden muss, um sie dann verändern zu können? Denn wenn ich das richtig verstanden habe, war das ja auch Jahre vorher ein Grund für Sie, warum Sie in die SPD eingetreten sind.

    Bahr: Herr Capellan, das ist ein bisschen komplizierter. Was Sie eben gesagt haben, habe ich 1957 als Vorstellung dessen, was dieses neue Mitglied jetzt will, auf einer Versammlung in Zehlendorf gesagt: "Ich bin nicht wegen Wirtschaftsfragen gekommen, sondern um die Außenpolitik der Partei zu verändern." – und habe alles dann entwickelt, nie mit Brandt darüber gesprochen. Er hat aber trotzdem das Manuskript offenbar bekommen, er hat sich nämlich später darauf bezogen. Und wenn Sie das sich ansehen heute, dann sehen Sie eine ungeheure Kontinuität des Denkens und der Zielformulierung: Es geht nicht ohne den Westen, es geht nicht ohne Amerika, es geht nicht ohne die Sowjetunion. Die Frage – das war eben sechs Jahre später, Tutzing – kam dazu, dass Brandt aufgefordert worden war, seine außenpolitischen Vorstellungen, wenn er denn im zweiten Anlauf Kanzler wird, zu formulieren. Das haben wir gemacht, gearbeitet, Manuskripte gingen hin und her. Und dann wurde ich aufgefordert, ob ich einen kleinen Diskussionsbeitrag leisten könnte. Und schließlich habe ich mich bereit erklärt, das zu machen und einen Punkt aus der Rede von Brandt zu nehmen. Und der hieß dann "Wandel durch Annäherung", was das für die beiden deutschen Staaten bedeutet. Und wir waren beide ganz überrascht, dass dieser kleine Diskussionsbeitrag einschlug wie eine Bombe, während die hervorragende Rede – liest sich heute noch gut – von Brandt zurücktrat.

    Hoffen auf die Wiedervereinigung
    Capellan: Sie haben eben gesagt, dass Konrad Adenauer die Einheit nicht wirklich wollte, dass er auch das dokumentiert hat durch die konsequente Westbindung, die ja seine Politik prägte. Dennoch wird heute ein Christdemokrat, Helmut Kohl, als "Kanzler der Wiedervereinigung" gefeiert. Hat Kohl das geerntet am Ende, was Willy Brandt gesät hat?

    Bahr: Ja, er hat geerntet, wo er sogar die Saat verhindern wollte. Aber das spielt keine Rolle. Er hat außerdem einen Satz gesagt: "Entscheidend ist, was hinten raus kommt." Und da die Einheit rausgekommen ist, ist das, was wir gewollt haben. Na, mein Gott, darüber kann man nur froh sein. Dazu gehörte Glück, dazu gehörte Mut zuzugreifen, denn Kohl wollte genau so die Deutsche Einheit wie die Masse der Westdeutschen, nämlich eigentlich überhaupt nicht. Aber er hatte den Instinkt zu sehen, das ist die Gelegenheit. Und da hat er zugegriffen.

    Capellan: Haben Sie persönlich denn daran geglaubt, dass Sie den Fall der Mauer noch erleben würden?

    Bahr: Ich war fest überzeugt, dass auf Dauer die Deutsche Einheit, die Vereinigung des größten Volkes in der Mitte Europa nicht zu verhindern ist. Ich war Mitte der 80er Jahre ganz sicher, ich werde das nicht mehr erleben. Ich bin genau so überrascht worden wie alle anderen. Kohl war in Warschau, das ist ja die Groteske. Weder den Bau der Mauer noch den Fall der Mauer haben die berühmten Dienste vorhergesagt. Wir sind überrascht worden.

    Capellan: Sie beklagen in Ihrem Buch, dass aus den Brüdern und Schwestern in Ost und West die "Ossis" und "Wessis" geworden sind. Das heißt, Sie sind mit dem Stand der Deutschen Einheit nicht wirklich zufrieden?

    Bahr: Kohl hat nach dem Ende der Teilung eine interessante Rede gehalten und gesagt: Das nächste große Ziel ist die innere Einheit. Das erfordert Versöhnung, Versöhnung erfordert von denen, die am meisten gelitten haben, noch mal am meisten. Dieser Standpunkt ist von Brandt geteilt worden, von den anderen Parteien übrigens auch. Und der ist gescheitert. Er ist gescheitert daran, dass eine Reihe von Bürgerrechtlern aus der DDR stattdessen Aufarbeitung verlangten. Und die Aufarbeitung hat unter anderem dazu geführt, dass der Stolz, der eigentlich berechtigt gewesen wäre, weil ja die Ostberliner auf die Mauer geklettert sind – niemand hat im Westen mit den Füßen gescharrt - und die Hände gereicht haben, damit Menschen aus Westberlin hochgezogen wurden, um dort auf der Mauer tanzen zu können. Und das ist alles kaputtgemacht worden, aber jedenfalls eingeschränkt worden, durch das schlechte Gewissen, das viele Menschen im Osten hatten, weil man sie beschuldigte, sie seien aus einem Stasi-Staat, obwohl inzwischen selbst Frau Merkel akzeptiert hat und weiß natürlich, dass 96 Prozent der Bevölkerung nie etwas mit der Stasi zu tun hatte oder IM gewesen ist.

    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk heute mit dem SPD-Urgestein Egon Bahr. Herr Bahr, Sie haben die erste Große Koalition in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik miterlebt. Sie haben dann auch miterlebt die zweite Große Koalition, die Ihre Partei in ein historisch schlechtes Wahlergebnis 2009 von 23 Prozent geführt hat. Würden Sie Ihrer SPD nun dringend davon abraten, erneut nach der Bundestagswahl im September eine Große Koalition mit Angela Merkel einzugehen?

    Bahr: Herr Capellan, ich habe mit Helmut Kohl lange Gespräche darüber geführt, und wir waren uns beide völlig einig, dass im Prinzip im Interesse der Stabilität unseres Staates es richtig wäre, wenn die beiden großen Parteien sich abwechseln in der Verantwortung und die Regierung mit einem weiteren Partner jeweils bilden. Das heißt, ich bin ein prinzipieller Gegner der Großen Koalition. Ich habe schon gesehen oder gelesen, dass die Große Koalition in der Weimarer Zeit dazu geführt hat, dass die Extreme von links und rechts sich gegen die demokratische Mitte vorgearbeitet haben. Und ich habe in der Großen Koalition 1966 bis 69 gesehen, dass 1969 die NPD Mitglied des Deutschen Bundestages geworden wäre, wenn es nicht so aufregend gewesen wäre zu sehen, die Möglichkeit, dass zum ersten Mal in der Geschichte der alten Bundesrepublik die Sozialdemokraten mit den Freien Demokraten zusammen eine Mehrheit bekommen. Das hat zu der größten Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik geführt – über 92 Prozent, das muss man sich mal vorstellen – und dazu geführt, dass die NPD knapp unter der Fünf-Prozent-Klausel blieben. Und ich habe natürlich auch erlebt, dass die Große Koalition, die wir dann hatten unter Frau Merkel, dazu geführt hat, dass die CDU stärker wird und die SPD schwächer wird. Und ich kann nur sagen, so lange Herr Steinbrück neben Frau Merkel für Finanzen zuständig war, war alles in Ordnung, aber jetzt wird die Sache schwierig. Und ich komme zu dem Ergebnis: Auf keinen Fall eine Große Koalition.

    Capellan: Nun könnte man dem ja entgegenhalten, es geht um was ganz Großes, es geht im Moment um die Zukunft Europas. Es geht um die europäische Idee, die viele in Gefahr sehen durch die Eurokrise. Und da könnte gerade in solchen Zeiten eine Große Koalition, die ja durchaus viele Anhänger in der Bevölkerung hat, helfen.

    Bahr: Die Richtlinien in der Politik werden vom Kanzler bestimmt oder von der Kanzlerin bestimmt. Und der- oder diejenige Partei, die dem hilft, wird bestraft, wenn sie das erschwert in der Koalition. Wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen für die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, dann soll das der jeweilige Kanzler mit einem jeweils kleineren Partner tun. Aber wir sind nicht dazu da, als Gehilfen jeweils zu helfen, was die Kanzlerin will.

    "Ohne Washington ist die Stabilität in Europa gar nicht zu schaffen"
    Capellan: Sehen Sie Europa, die europäische Idee in Gefahr durch die Eurokrise, wie ich das eben geschildert habe? Ich möchte auch zu sprechen kommen auf die Haltung Großbritanniens. Sehen Sie die Gefahr, dass Europa Großbritannien verlieren wird? Ich erinnere daran, dass Brandt 1969 erleichtert reagiert hat über den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft. Damals haben Sie schon gesagt: "Das wird schwierig mit den Briten."

    Bahr: Brandt war stolz darauf, dass er in seiner ersten außenpolitischen Aktion 1969, nachdem er Kanzler geworden war, zusammen mit dem Franzosen Pompidou grünes Licht für den Beitritt Großbritanniens gegeben hat. Ich habe später verfolgt sehr genau, mit welcher Konsequenz Großbritannien gebremst hat. Es ist für mich überhaupt kein Zweifel, dass Großbritannien seine special relationship mit den Vereinigten Staaten als Kern und Markenzeichen seiner Außenpolitik betrachtet, egal ob Labour oder Tories da sind. Und ich sehe, dass es bisher keinen Mut gibt, Großbritannien vor die Frage zu stellen, ob es sein Schicksal unrevidierbar an den Kontinent bindet oder nicht. Und solange das nicht klar ist, bleibt Europa lahm, sage ich mal. Und ich kann mir nur vorstellen, dass Europa reduziert auf Euroland Einheit und internationale Handlungsfähigkeit erreicht. Ich würde mich freuen, wenn Großbritannien sich dazu bereit erklären würde, volles Mitglied zu werden. Aber wir können das ja nicht entscheiden. Und ich sehe nur mit einem gewissen Entsetzen, dass Frau Merkel mit dem britischen Prime Minister kokettiert, weil es ihr eigentlich passt, dass nicht entschieden wird.

    Capellan: Wie bewerten Sie denn den Umgang der Kanzlerin mit Russland? Gerhard Schröder hat Wladimir Putin einmal als lupenreinen Demokraten bezeichnet. Mittlerweile haben wir wohl alle feststellen müssen, dass er das nicht ist. Wie sollte Berlin mit Moskau umgehen?

    Bahr: Der amerikanische Präsident George Bush, der ältere, hat nach dem Ende des Ost-West-Konflikts formuliert, Russland muss sich nach seinen Traditionen entwickeln. Das stimmt, Demokratie gehört nicht dazu. Das heißt, Putin ist kein Demokrat, lupenrein schon gar nicht. Auch seine Kinder werden keine lupenreinen Demokraten werden. Seine Enkel vielleicht, aber auch nicht vergleichbar mit uns. Das wird eine Demokratie à la Russe werden. Und die Kanzlerin hat in ihrer ersten Regierungserklärung klar gemacht, dass die strategische Partnerschaft mit Russland bleibt. Sie hat aber inzwischen eine ganze Reihe strategischer Partnerschaften mit anderen Ländern entwickelt, mit China, mit Saudi-Arabien, beides keine lupenreinen Demokratien. Das heißt, insgesamt hat sie das ein bisschen heruntergestuft, die Außergewöhnlichkeit der strategischen Partnerschaft mit Russland. Das halte ich für falsch. Es gibt zwei Länder, die sind für Deutschland und für Europa unentbehrlich. Das eine hat die Hauptstadt Washington, das andere hat die Hauptstadt Moskau. Das sind die beiden einzigen Länder, die über atomare Zweitschlagsfähigkeit verfügen und einen Atomschirm über Europa zwischen sich gespannt haben, mit großem Verantwortungsbewusstsein gehandhabt haben. Und ohne Washington ist die Stabilität in Europa gar nicht zu schaffen. Wir sind ein bisschen in den Windschatten geraten. Aber die beiden Großen können sich nun dem gefährlicheren, größeren, schwierigen Asien zuwenden. Und das erleben wir.

    Capellan: Egon Bahr, wir sollten noch sprechen über den Zustand Ihrer Partei. Wir haben das schon angerissen. Sie haben auch die These aufgestellt, dass natürlich auch die Große Koalition der SPD geschadet hat. Aber das war es ja wahrscheinlich nicht nur. Auch die Agenda 2010 von Gerhard Schröder hat sicherlich dazu beigetragen, dass sie an Rückhalt in der Wählerschaft verloren hat. War die Agenda, das Reformwerk Schröders, dennoch wichtig und richtig?

    Bahr: Ich bin fest davon überzeugt, dass es richtig und notwendig gewesen ist. Ich habe, nachdem es verkündet worden war, den Staatssekretär des Finanz- und Wirtschaftsministeriums zu mir gebeten und habe gesagt: "Also, ich muss Ihnen sagen, ich verstehe von Wirtschaft überhaupt nichts, ich verstehe von Finanzen überhaupt nichts, aber als alter Demokrat und Sozialdemokrat kann ich Ihnen nur sagen: Wenn es notwendig ist, den Gürtel enger zu schnallen, muss die Gerechtigkeit größergeschrieben werden!

    Capellan: Und das hat man damals nicht getan?

    Bahr: Ja. Das ist über Herrn Clement – sein weiterer Weg heißt, dass mich das nicht hätte überraschen dürfen – nicht akzeptiert worden oder nicht empfangen worden, nicht umgesetzt worden. Und ich bin der Auffassung, dass das jetzt korrigiert worden ist. Ich hoffe, dass die Menschen das merken.

    Capellan: Also die Partei hat die sogenannten kleinen Leute aus den Augen verloren?

    Bahr: Ja. Die Gerechtigkeit für die kleinen Leute, die das akzeptieren, wenn die Großen dann mehr belastet werden und nicht sie das tragen müssen. Das ist aus den Augen zeitweilig verloren worden.

    Capellan: Ist denn Peer Steinbrück der Richtige, der dieses Programm – man will ja jetzt wieder hinfinden zu mehr sozialer Gerechtigkeit, man will die Reichen, die Wohlhabenden durch Steuererhöhungen stärker belasten, man kündigt den Kampf gegen Steuerhinterzieher an – ist Peer Steinbrück der Richtige, dieses Programm zu verkaufen? Hat er nicht zu viele Probleme, auch gerade mit seinen Nebentätigkeiten und seinem Start in die Kanzlerkandidatur, die daraus resultieren?

    Bahr: Ich habe überhaupt nicht den geringsten Zweifel, dass Peer Steinbrück einer der ganz wenigen, an den Fingern einer Hand abzählbaren Menschen in unserem Lande gehört, die etwas von Finanzen und Wirtschaft verstehen. Und wenn er sich äußert so wie er sich jetzt äußert, ist das ein Zeichen dafür, er ist glaubwürdig und wird es machen.

    Capellan: Warum ist er so abgestürzt in den Beliebtheitswerten?

    Bahr: Das ist eine Frage, über die ich noch nachdenken müsste. Aber es kann sein, dass das zusätzliche starke Pushen durch Helmut Schmidt da auch ein bisschen mitgespielt hat.

    Capellan: Aber es liegt nicht daran, dass ein Sozialdemokrat, der sich für die Interessen der Schwächeren in der Gesellschaft einsetzt, selber kein Wohlhabender sein dürfte?

    Bahr: Nein, das kann es gar nicht sein, denn wir können ja sozusagen uns keinen idealen Kanzlerkandidaten malen und dann bestimmen, sondern das müssen Menschen sein, übrigens Menschen sein, die wie immer erst, wenn sie das Amt haben, zeigen, ob sie es können und bestimmen können. Denn wir haben ja keine Berufsleiterausbildung, an deren Ende Kanzlerschaft steht.

    Merkel "hat den Machterhalt zentral im Blick"
    Capellan: Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick werfen auf den Regierungsstil von Angela Merkel, denn die Kanzlerin ist ja schwer zu packen für die Sozialdemokraten. Willy Brandt hat einmal gesagt, die Richtlinienkompetenz des Kanzlers ist zu Ende, wenn der Partner sich weigert, ihr zu folgen. Hat Angela Merkel das oft erleben müssen und entsprechend reagiert?

    Bahr: Natürlich hat sie das mehrfach erleben müssen. Die Beleidigungen durch Herrn Rösler und die Beleidigungen durch Herrn Seehofer waren so, dass sie eigentlich hätte sagen müssen… - ja, was hätte sie sagen sollen? Die kann sie doch gar nicht entmachten. Das wäre das Ende der Kanzlerschaft gewesen. Also hat sie sich einen genommen, der leicht ersetzbar war, und hat ihn wieder nach Hause geschickt nach Nordrhein-Westfalen, und hat einen neuen Minister genommen. Aber sie hat, da bin ich auch fest von überzeugt, diese Beleidigungen nie vergessen, die sie bisher nicht hat angemessen beantworten können, weil ihr oberstes Ziel akzeptiert, sie möchte Kanzlerin bleiben. Na gut, das ist legitim, es darf aber nicht der einzige oder überragende Punkt und ihr Movens bleiben. Ich bin der Auffassung, sie hat den Machterhalt zentral im Blick.

    Capellan: Egon Bahr, Helmut Schmidt hat Sie in dieser Woche gerade in der "Zeit" als "feinen Kerl" bezeichnet. Er hat auch gesagt, es ist natürlich fürchterlich, dass Sie noch selbst Auto fahren und dass Sie regelmäßig im Willy-Brandt-Haus zugegen sind und dort Ihre Partei beraten. Das hat er sicherlich mit einem Augenzwinkern getan. Dennoch: Was bedeutet das für Sie, wenn sich Helmut Schmidt so über Sie äußert? - Denn Ihr Verhältnis war ja durchaus auch angespannt. Beim NATO-Doppelbeschluss waren Sie ja nicht einer Meinung.

    Bahr: Wir waren mehrfach nicht einer Meinung. Wir haben uns aber immer in die Augen blicken können. Jeder wusste von dem anderen, er wird nichts hinterrücks tun und nicht illoyal sein. Wir haben sogar Schach miteinander spielen können. Leider nicht Klavier, dazu reicht es bei mir nicht. Ich habe ihn immer bewundert, dass er das machen konnte. Aber er ist gefragt worden, ob er eine Rede halten will über sein Verhältnis zu Willy Brandt. Und da hat er gesagt, die Kraft habe er nicht, aber er sei bereit, darüber zu diskutieren mit einem Erwachsenen. Und auf die Frage, wen er vorschlagen würde, hat er mich genannt. Und wir haben dann in Lübeck in der Tat über alles gesprochen und haben uns geeinigt auf die fabelhafte Formel: We agree to disagree. Das heißt, wir haben uns nicht wehgetan, sondern wir haben die Unterschiedlichkeit von Positionen, die es zum Thema NATO-Doppelbeschluss heute noch gibt – er ist nicht abgewichen, ich habe keinen Grund gehabt, abzuweichen. Wir haben uns ausgesprochen, und ich empfinde für ihn nach wie vor nicht nur Respekt, sondern akzeptiere, dass er nun, unabhängig davon, was man über Kohl denkt, ein respektierter und geliebter Elder Statesman für unser Land geworden ist.

    Capellan: Was hält Sie persönlich mit 91 Jahren so fit?

    Bahr: Ich bin neugierig geblieben. Und ich werde neugierig bleiben, weil es mich wahnsinnig interessiert zu sehen, was aus dieser Wundertüte nicht nur rauskommt im September, sondern wie sich das Schicksal Europas gestaltet, ob es fähig wird, internationaler handlungsfähiger Pol in der interpolaren Welt zu werden.

    Capellan: Wir werden Sie gerne noch einmal nach Ihrer Sicht der Dinge fragen, Egon Bahr. Danke herzlich für dieses Gespräch!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Altkanzler Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag in Berlin
    "Wir haben sogar Schach miteinander spielen können", sagt Bahr über das Verhältnis zu Helmut Schmidt. (picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke)