Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Ich bin nicht skeptisch. Ich bin realistisch"

Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hat vor zu hohen Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft gewarnt. Die Frage der europäischen Verfassung sei auch in den nächsten sechs Monaten nicht zu lösen, sagte Juncker. Bundeskanzlerin Merkel könnte aber wesentliche Impulse setzen, da sie großes Verständnis für die kleinen und mittleren Staaten habe, meinte der Ministerpräsident.

Moderation: Stefan Heinlein | 15.12.2006
    Stefan Heinlein: Atempause für die Europäische Union. Die heikle Türkei-Frage wird zunächst auf Sparflamme weitergekocht. Diese überraschende Einigung der EU-Außenminister zu Beginn dieser Woche macht den europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Arbeit leichter. Auch Angela Merkel reist entspannt zum Gipfeltreffen nach Brüssel. Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab dem kommenden Jahr sind allerdings groß. Die auf Eis liegende europäische Verfassungsfrage soll wieder aufgetaut werden. Zum Auftakt des Gipfels gestern Abend erste Beratungen und erste Beschlüsse. Gestern Abend kurz vor Beginn des EU-Gipfels habe ich mit dem Ministerpräsidenten von Luxemburg Jean-Claude Juncker auf seiner Fahrt nach Brüssel gesprochen und ihn zunächst gefragt, warum er vor zu hohen Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft warnt.

    Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht skeptisch. Ich bin realistisch und ich würde gerne dazu beitragen, dass der deutsche Vorsitz des Europäischen Rates und der Europäischen Union ein voller Erfolg wird. Wenn man jetzt so tut und diese Erwartung auch hegt und pflegt, dass es der Bundesregierung gelingen würde, alle anstehenden Probleme zu klären, dann setzt man die deutsche Verwaltung und die deutsche Regierung unter einen Erwartungsdruck, den ich etwas anmaßend finde. Es wird niemandem gelingen können, in den nächsten sechs Monaten beispielsweise die Verfassungsfrage voll umfänglich zu klären. Dies man vor Beginn des deutschen Vorsitzes wissen. Das weiß die Bundeskanzlerin, das weiß die Bundesregierung.

    Heinlein: Kommissionspräsident Barroso hat ja zu diesem Erwartungsdruck beigetragen. Er erwartet von der deutschen Ratspräsidentschaft einen echten Schub zur Lösung der Verfassungskrise. Kann Angela Merkel denn tatsächlich den europäischen Motor in dieser heiklen Frage wieder in Fahrt bringen?

    Juncker: Ich halte das für einen Glücksfall der nächsten zwölf Monate, dass Frau Merkel und die Bundesrepublik jetzt während sechs Monaten im ersten Halbjahr 2007 am Drücker sein werden. Es wird ihr besser als anderen gelingen, wesentliche Impulse zu geben, aber es wird ihr nicht gelingen können, die Frage endgültig zu klären. Impulse kann sie geben, weil sie sich in Befindlichkeiten großer und kleiner Mitgliedsstaaten perfekt auskennt, weil sie Verständnis für das hat, was vor allem diejenigen aus Mitteleuropa umtreibt, und vor allem es kommt jetzt jemand ans Ruder, der Europa nicht nur im Kopf hat, sondern auch im Bauch und das stimmt mich eigentlich zuversichtlich für die nächsten sechs Monate. Ich möchte nur noch einmal vor diesem überhöhten Erwartungsdruck warnen. Damit ist niemand gedient.

    Heinlein: Kann denn ein großes europäisches Land wie Deutschland grundsätzlich mehr in die Wege leiten in dieser Frage wie kleine europäische Länder wie etwa Finnland oder zuvor Österreich oder Sie als luxemburgischer Ministerpräsident in der Vergangenheit?

    Juncker: Großherzogtümer sind immer zu großen Leistungen fähig und kleinere Länder als die Bundesrepublik auch, aber es ist nicht so sehr die Größe Deutschlands ausschlaggebend bei der Behandlung dieser Frage, sondern die Tatsache, dass jeder deutsche Bundeskanzler, der bisher seit 1949 im Amt war, den europäischen Dingen sehr zugetan war, immer wusste, dass Deutschland als das Land mit den meisten europäischen Nachbarn und mit den meisten EU-Nachbarn - und da sind seit 2004 einige hinzugekommen - besondere Verantwortung für den gesamten Kontinent trägt. Ich wünschte mir sehr, dass es der deutschen Ratspräsidentschaft gelingt, mit der französischen Seite intimste Verhältnisse herzustellen. Dies wird schwierig sein, weil es stehen doppelte Wahlen - einmal Präsidentschaftswahlen, einmal Parlamentswahlen - in Frankreich an. Umso wichtiger ist, dass der deutsche Teil der deutsch-französischen Freundschaft mustergültig funktioniert. Dieser deutsche Teil wird dies auch im ersten Halbjahr beweisen. Und wir, die wir nicht so groß sind, manchmal aber auch genauso klug wie die Großen, werden das Nötige dazu beitun, damit das was in trockene Tücher gebracht werden kann nicht nass am Wegesrande liegt, wenn der deutsche Ratsvorsitz an die nächstfolgende Präsidentschaft übergeht.

    Heinlein: Aber in der Tat, Herr Juncker, was kann denn in den kommenden sechs Monaten in trockene Tücher gebracht werden? Was kann Deutschland bewegen, solange die Bevölkerung in Frankreich oder in den Niederlanden - blickt man auf Polen und Großbritannien; da sieht es ja auch nicht viel besser aus - ablehnend gegenüber dieser Verfassung ist?

    Juncker: Die deutsche Ratspräsidentschaft und die Kanzlerin können mit der ihr eigenen Glaubwürdigkeit intensivste Gespräche mit den anderen Mitgliedsstaaten und den Regierungschefs dort führen, um zu ergründen, welche Motive eigentlich daran Schuld sind, dass dieser angedachte europäische Verfassungsvertrag nicht die volle Zustimmung findet. Dann wird es der deutschen Ratspräsidentschaft gelingen, falsche Optionen aus dem Wege zu räumen wie beispielsweise die, dass man jetzt eine Neuverhandlung beginnt, die bei null anfangen wird und nichts mehr berücksichtigen würde, was in diesem europäischen Verfassungsvertrag zusammengetragen wurde. Wenn die deutsche Ratspräsidentschaft eine derartige Problemliste aufstellen könnte und auch erste Andeutungen darüber geben könnte, wie diese Bedenken, die es ja dann in formulierter Form in der Vorlage gibt, ausgeräumt werden könnten, dann wäre schon sehr viel passiert.

    Heinlein: Zum Thema Verfassung, Herr Juncker, gehört aber auch das Thema Erweiterung. Ist Konsens innerhalb der Europäischen Union, dass es eine Erweiterung nicht ohne eine Vertiefung geben kann?

    Juncker: Dieser Konsens ist, um das hier mal ehrlich zu protokollieren, brüchig. Ich gehöre zu denen, die denken, dass mit Ausnahme Kroatiens, was ohne jeden Zweifel zur Europäischen Union gehört, andere Beitritte erst erfolgen können, wenn wir uns institutionell und inhaltlich-politisch in der Europäischen Union so wie sie heute ist so aufgestellt haben, dass wir aufnahmefähig für weitere Mitglieder werden. Andere geben eigentlich der Erweiterungslogik den Vortritt, möchten, dass wir erweitern, egal ob wir das Haus in Ordnung gebracht haben oder nicht. Ich vermute sogar, dass einige, die sehr auf das Erweiterungspedal drücken, eigentlich durch die Macht des Faktischen irgendwann eine endgültige Beschlusslage erwirken möchten, die darin besteht, dass wir uns dauernd weiter erweitern, ohne dass wir die notwendige Vertiefung im Sinne des Verfassungsvertrages wenn auch nicht genauso erreicht hätten. Ich werde mich diesen Kräften mit der gebotenen Todesverachtung in den Weg stellen.

    Heinlein: Wird es denn auf dem Gipfel in dieser umstrittenen Frage wie Sie sagen eine einheitliche Abschlusserklärung geben?

    Juncker: Man wird das Thema Erweiterung und Verfassungsgebung andiskutieren. Wie sich dies dann im Laufe des Tages in Schlussfolgerungen verwandeln lassen wird, werden wir erst während der nächsten Stunden sehen.

    Heinlein: Frage zum Schluss, Herr Juncker. Innerhalb der deutschen Regierungskoalition - Sie wissen es sicherlich - gibt es mit Blick auf die Türkei erhebliche Meinungsunterschiede. Ist es deshalb gut, dass diese Frage nun erst einmal vertagt ist und nicht die deutsche Ratspräsidentschaft von Beginn an mit dieser Frage belastet ist?

    Juncker: Es gibt nicht nur in Deutschland unterschiedliche Einschätzungen, was den Türkei-Erweiterungsprozess anbelangt. Die gibt es allenthalben jedenfalls vielerorts. Der Erweiterungsprozess in Sachen Türkei ist als offener Prozess beschrieben. Er wird als offener Prozess geführt. Wir werden erst im Laufe der Verhandlungen, die sich über lange Jahre strecken werden, sehen, ob ein voll umfänglicher Türkei-Beitritt möglich ist, oder ob so etwas wie eine intime, wie eine spezifische oder wie eine privilegierte Partnerschaft am Ende des Tages dann endgültig das Verhältnis zwischen EU und Türkei auszeichnen wird. Jedenfalls halte ich das, was jetzt als Beschlussvorlage vorliegt - das ist grundsätzlich der Vorschlag der Europäischen Kommission, um Nuancen ergänzt durch unsere Außenminister -, vertieft und zustimmungswürdig und ich gehe auch nicht davon aus, dass wir hier eine breite Türkei-Debatte haben werden.