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"Ich gehe davon aus, dass Hannelore Kraft nächste Woche gewählt wird"

"Was wir hier machen, ist was Neues, das ist gar keine Frage", sagt Jochen Ott (SPD) vor einer möglichen Minderheitsregierung in NRW. In einem Fünf-Parteien-System müsse man neue Wege gehen.

Jochen Ott im Gespräch mit Sandra Schulz | 10.07.2010
    Sandra Schulz: Wird es ein Schlusspunkt im Ringen um die Macht in Nordrhein-Westfalen oder geht es am kommenden Mittwoch erst richtig los? Dann will sich die SPD-Chefin Hannelore Kraft zur ersten Ministerpräsidentin des Landes wählen lassen – als Chefin einer rot-grünen Minderheitsregierung. Und das Ringen um die Macht könnte eben dann erst losgehen, weil den beiden Fraktionen genau eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlt im Düsseldorfer Landtag.

    Schon jetzt gibt es Kritik an den rot-grünen Plänen, nach denen wohl eine Rekordneuverschuldung unausweichlich ist. Dazu der bisherige Finanzminister Helmut Linssen von der CDU: "Wer verkündet nicht gerne, dass er Kindergartenjahre umsonst macht oder Studiengebühren abschafft? Alles wunderschön. Also, Geschenke auf Pump verteilen kann ich jeden Tag."

    Heute wollen SPD und Grüne auf Sonderparteitagen grünes Licht für den Koalitionsvertrag geben, und darüber sprechen wollen wir mit Jochen Ott. Er ist der stellvertretende Landesvorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen und jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Jochen Ott: Guten Morgen!

    Schulz: Wird das Wort "sparen" denn heute in Köln überhaupt eine Rolle spielen?

    Ott: Ach, es wird heute Morgen sicherlich auch darum gehen, wie die Finanzsituation ist, und was schon sehr, sehr bitter ist: dass eine Landesregierung aus Schwarz-Gelb nicht in der Lage ist, einen Haushalt so auszuweisen, wie er in Wirklichkeit ist. Viele Dinge sind nicht eingestellt worden für das Jahr 2010, und wir werden im Rahmen eines Nachtragshaushalts all das offen machen, was bisher eben nur verdeckt für uns sichtbar ist.

    Schulz: Ja, jetzt sprechen wir ja über Rot-Grün. Wir haben im Koalitionsvertrag nachgeschaut: Da taucht das Wort "sparen" zwei Mal, ganze zwei Mal auf. Ist das nicht angesichts des nordrhein-westfälischen Schuldenbergs ein bisschen knapp?

    Ott: Nein, das denke ich nicht. Ich glaube, es ist vollkommen klar, dass wir auf Perspektive auch sparen müssen. Aber wir haben immer, auch im Wahlkampf, gesagt, dass es Investitionen gibt, die in die Zukunft dieses Landes von besonderer Bedeutung sind, weil sie mittelfristig uns Einnahmeverbesserungen bringen. Und das sind insbesondere die Ausgaben im Bereich der Bildungspolitik und die Stärkung der Kommunen. Wenn wir die Kommunen weiter absaufen lassen, dann werden die Folgekosten wesentlich höher.

    Schulz: Aber dass sich jetzt doch alle bestätigt fühlen, die der SPD sowieso schon immer unterstellen und unterstellt haben, sie könnte nicht mit Geld umgehen – das haben Sie einkalkuliert?

    Ott: Also, ich finde das sehr, sehr amüsant, und zwar deshalb, weil die Menschen sich bundesweit danach sehnen, dass Peer Steinbrück wieder Finanzminister wird. Das zeigt: Die SPD hat hier eine hohe Kompetenz, und die werden wir auch in Nordrhein-Westfalen in den nächsten Wochen und Monaten sichtbar und deutlich machen.

    Schulz: Aber die bisherige Rekordmarke der Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen, die kommt nun mal auch von der Regierung Steinbrück mit 6,7 Milliarden Euro. Wie passt das jetzt zusammen?

    Ott: Also, ich finde, das ist langsam nicht mehr feierlich. Wenn wir wissen, nachweislich – das kann jeder Journalist überprüfen –, dass der Haushalt des Schulministeriums im Januar, beziehungsweise zwischen Januar und März nicht angemeldet worden ist, wenn wir wissen, dass über 1000 Lehrerstellen in Nordrhein-Westfalen einfach nicht ausfinanziert sind, nicht besetzt sind, dann muss man sich doch die Frage stellen: Wer hat hier eigentlich verschleiert?

    In Wahrheit wollte Schwarz-Gelb unbedingt unter diesem Ansatz von Steinbrück 2005 bleiben und sie haben alles dafür getan, dass sie da drunter bleiben. Obwohl das Ministerium von Laschet, obwohl viele andere zusätzliche Gelder angemeldet haben, wurden sie nicht eingestellt. Das ist total unseriös und hat mit einem ehrlichen Kaufmann nichts zu tun. Wir weisen jetzt die Schulden aus für das Jahr 2010 und das sind keine rot-grünen Schulden, sondern das sind schwarz-gelbe. Das muss man einfach festhalten.

    Schulz: Herr Ott, das hat die CDU natürlich genauso gemacht, als sie an die Macht kam, hat auch ihrerseits auf Erblasten der Regierung Steinbrück bis 2005 verwiesen. Jetzt liegt die Neuverschuldung bei Ihren Plänen voraussichtlich bei ungefähr neun Milliarden Euro. Müsste jetzt nicht auch jenseits dieser politischen Schuldzuweisungen eine ernsthafte Sparpolitik greifen?

    Ott: Ja, selbstverständlich muss man sich sehr systematisch angucken, wie man dieses Defizit zurückfahren kann. Das wird auch geschehen, aber das Versagen bei der West LB ist eben nicht zu finden. Die Gelder, die den Kommunen weggenommen wurden und die sie gerade vor Gericht wieder einklagen, ist eben nicht im Haushalt eingestellt. Die chronische Unterfinanzierung von KiBiz ist nicht eingestellt. Über 1000 Lehrerstellen sind nicht eingestellt. Die Steigerung im Lehrerpensions- und Beihilfebereich sind nicht eingestellt.

    Und wenn man das feststellt als Opposition, dann kann man doch nicht einfach sagen, och, macht ja gar nichts, wir nehmen das auf unsere Kappe. Nein, das hat Herr Linssen zu verantworten und das werden wir einstellen, und wir sind in den Wahlkampf gezogen und haben den Leuten gesagt: Wir werden die Studiengebühren abschaffen und wir werden die Beitragsfreiheit in Kindergärten auf den Weg bringen. Und dann muss man das nach der Wahl auch machen, ansonsten braucht man gar nicht mehr bei Wahlkämpfen anzutreten, weil dann kann man unter dem Finanzvorbehalt in Deutschland sowieso nichts mehr bewegen.

    Schulz: Aber wenn man sich Ihre Pläne jetzt in dem Koalitionsvertrag anschaut, dann stimmt der Eindruck, dass der Abbau von Schulden weiterhin ein Thema künftiger Generationen bleibt und von Ihnen nicht angepackt wird?

    Ott: Sehen Sie, ich bin ja eine der künftigen Generationen. Ich bin 36 und habe drei kleine Töchter, die kürzlich geboren sind, und von daher ist das Thema Staatsfinanzen für mich ein ganz entscheidendes. Aber wie jeder andere Familienvater weiß ich auch, dass es auch Schulden gibt, die für die Zukunft dieses Landes auch sinnvoll und richtige Schulden sein können, und wenn wir dafür sorgen, dass in den Städten und Gemeinden nicht komplett das Licht ausgeht und viele wirklich wichtige Dinge für das Zusammenleben der Menschen kaputtgespart werden, dann müssen wir hier den Kommunen unter die Arme greifen, weil die Folgekosten, die wir anschließend zu finanzieren hätten, noch viel, viel höher sind.

    Und aus dieser Spirale muss man raus, und deshalb muss man an bestimmten Stellen investieren, und ein Land wie Nordrhein-Westfalen, was in allen Bildungsvergleichen wirklich große Schwierigkeiten hat, muss dafür sorgen, dass die künftige Generation vernünftig gebildet wird und das fängt im Kindergarten an. Und wenn wir damit jetzt nicht anfangen, werden wir in 15 Jahren noch größere Probleme haben, und das ist eine große Verantwortung gerade auch für jüngere Politiker.

    Schulz: Herr Ott, wenn wir vorausschauen auf die kommende Woche: Wird Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin gewählt?

    Ott: Ich gehe davon aus, dass Hannelore Kraft nächste Woche gewählt wird. Es wird sicherlich spannend, ob sie im ersten Wahlgang die 91 Stimmen bekommt oder dann anschließend mit den 90 rot-grünen Stimmen gewählt wird. Was wir hier machen, ist was Neues, das ist gar keine Frage. Minderheitsregierungen gibt es in Deutschland in dieser Form sehr selten, fast nie, aber in einem Fünf-Parteien-System muss man eben sehen, dass man neue Wege geht.

    Wir haben bewusst im Koalitionsvertrag immer wieder die Offenheit auf andere zu, wir laden CDU, FDP und Linke ein, mit uns gemeinsam Dinge zu diskutieren, und ich bin der großen Hoffnung, dass sich die Kultur in diesem Landtag auch verändern wird in den nächsten Wochen und Monaten, und dass man vielleicht dann auch das eine oder andere einfach inhaltlich miteinander berät und nicht nur etwas ablehnt, weil es von Rot-Grün kommt.

    Schulz: Wofür steht da aus Ihrer Sicht der neue CDU-Fraktionsvorsitzende Karl-Josef Laumann?

    Ott: Ach, ich habe ja in den Sondierungsgesprächen kennengelernt, ich habe den Eindruck, bei bestimmten Themen hat er eine klare Position, ich gehe davon aus, dass er bei unserem Antrag Inklusion nächste Woche zustimmen wird, wo es um das Zusammen, sozusagen, Unterrichten von behinderten und nicht-behinderten Kindern geht. Das war immer sein Thema. Und daran wird sich so ein bisschen beweisen nächste Woche, ob Herr Laumann wirklich bereit ist, um Inhalte dieses Land nach vorne zu bringen, oder ob er von der Metallerposition macht. Warten wir es ab.

    Schulz: Der stellvertretende Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen Jochen Ott heute in den "Informationen am Morgen". Haben Sie vielen Dank für dieses Interview!

    Ott: Bitteschön!