Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Ich glaube, wir sind fair"

Im Mittelpunkt des G-20-Gipfels steht die Stabilisierung der Finanzmärkte. Roland Tichy, Chefredakteur der Wirtschaftswoche, fordert gegenseitiges Verständnis der Staaten füreinander. Allerdings sei die chinesische Finanzpolitik hinsichtlich Abwertung der Währung unfair.

Roland Tichy im Gespräch mit Dirk Müller | 11.11.2010
    Dirk Müller: Die Krise und die Folgen der Krise sollten dazu führen, dass die internationale Staatengemeinschaft enger zusammenrückt, dass sie versucht, zusammenzuarbeiten, neue Regelungen für die Finanzmärkte auf den Weg zu bringen. Dem ist aber offenbar nicht so. Die Amerikaner streiten sich mit den Chinesen über die Währungspolitik, die Europäer stehen dabei mittendrin und die Deutschen wollen ihre Exporterfolge weiterhin sichern, absichern. Dabei geht es auch darum, wie die Banken beispielsweise besser kontrolliert werden können. Wenig Hoffnung also auf einen Durchbruch beim G-20-Gipfeltreffen in Seoul. Der Streit um die Handelspolitik, um die Wirtschaftspolitik auf dem G-20-Gipfel in Seoul, darüber sprechen wollen wir nun mit Roland Tichy, Chefredakteur der "Wirtschaftswoche". Guten Tag nach Düsseldorf.

    Roland Tichy: Guten Tag nach Köln.

    Müller: Herr Tichy, müssen die Deutschen ein schlechtes Gewissen haben?

    Tichy: Nein, die Deutschen müssen nicht ein schlechtes Gewissen haben. Ich glaube, man muss sich deutlich machen: Was ist das denn, ein nachhaltiges Wachstum, das die Kanzlerin fordert? Es ist ein ungleichmäßiges Wachstum. Ich glaube, wir müssen akzeptieren, dass China sehr stark wachsen will, auch in den nächsten Jahren. Da leben schätzungsweise 500 Millionen Menschen von einem Dollar und zehn Prozent Wachstum klingt enorm viel, ist aber in chinesischen Situationen eigentlich angemessen. Diese Einbindung Chinas, immerhin mittlerweile die zweitgrößte Exportnation der Welt, in die Weltwirtschaft, die ist nicht gleichmäßig, die ist nur mit Sprüngen habbar, die gibt es nur mit Verwerfungen. Das ist eigentlich der Auslöserpunkt und man muss, glaube ich, in Seoul darauf achten, dass man die Rhetorik zurücknimmt und ein Verständnis für die gegenseitigen Probleme erhöht. Für die Deutschen bedeutet das: Wir leben in einer Sonderkonjunktur und dafür muss man kein schlechtes Gewissen haben.

    Müller: Wir sollten also eher unsere Handelsbilanzüberschüsse gegenüber den Kritikern verteidigen?

    Tichy: Wir sollten sie verteidigen, weil wir eigentlich die Trittbrettfahrer der Weltwirtschaft im Augenblick sind. Wir sind diejenigen, die, wenn wir so wollen, die Maschinen für den chinesischen Exporterfolg bauen, und wir sind diejenigen, die die Autos bauen, mit denen die Neureichen in Shanghai sich in ihre Villen und Paläste fahren lassen. Das muss aber nicht immer so bleiben. Sollte die amerikanische Wirtschaft wieder anspringen, werden wir eben auch wieder stärker in die USA exportieren können. Das sind temporäre Ungleichgewichte, die eigentlich nicht zu vermeiden sind. Man kann Außenhandel nicht betreiben, als ob man eine Badewanne mit Wasser volllaufen ließe.

    Müller: Herr Tichy, es hat ja nun heftige Kritik gegeben, aus Paris, aus London, natürlich auch aus Washington, gegenüber der deutschen Handels- und Wirtschaftspolitik. Sind wir fair?

    Tichy: Ich glaube, wir sind fair, weil Deutschland seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt, und das Kernproblem natürlich mancher Länder, wie auch der USA ist, dass ihre industrielle Kapazität und ihre industrielle Leistungsfähigkeit sich zu sehr reduziert hat, und die ist schnell nicht wiederzukriegen, die ist auch nicht mit Währungspolitik wiederzukriegen.

    Auf der anderen Seite muss man sagen, dass Deutschland natürlich ganz automatisch etwas tun wird, was die anderen von Deutschland verlangen. Es wird nämlich seinen Binnenkonsum anfeuern, und wir erleben ja gerade in diesen Tagen, dass die Löhne steigen, dass beispielsweise bei Siemens oder auch bei Bosch, also zwei wirklichen industriellen Giganten, Lohnerhöhungen vorgezogen werden, wir erleben eine gewisse Stabilisierung auch im Zutrauen der Verbraucher. Das heißt, wir werden in den kommenden Monaten und Jahren ohnehin einen stärkeren Binnenkonsum erleben und wir werden eine gewisse Abflachung unserer Exportüberschüsse sehen. Das heißt also, die Situation wird von daher eine gewisse Entspannung zeigen und es wird auch so sein, dass die Bundeskanzlerin dann, ohne sich irgendwie auf Zahlen festlegen zu müssen, sagen wird, wir sind auf dem richtigen Weg, schaut nur her.

    Müller: Selbst der Bundeswirtschaftsminister, Rainer Brüderle (FDP), hat ja gesagt, es muss mehr in diese Lohntüte. Vor Jahren hatten wir ganz andere Eindrücke immer wieder bekommen aus den Reihen der Spitzenpolitiker, vor allem aus den Reihen von Union und FDP. Warum sind höhere Löhne jetzt auf einmal gut?

    Tichy: Ich würde nicht sagen, dass sie unbedingt gut sind; sie sind geradezu unvermeidlich. Wir erleben es ja, dass es einen Wettbewerb um Arbeitskräfte gibt, dass mehr Menschen eingestellt werden, dass es um Ingenieure geradezu einen Wettlauf gibt. Das treibt die Löhne, das ist ein ganz normaler Prozess. Und der darf nur nicht wieder überschießen und er wird eben auch den Binnenkonsum anleiern. Das heißt also, man sollte auch ein bisschen Vertrauen in die Märkte haben, die zwar nicht alles gleichmäßig und gleichzeitig regeln, aber im Zuge von kleinen Übertreibungen sich gegenseitig wieder korrigieren. Wir haben nach unten übertrieben im Jahr 2009, im Pessimismus, wir übertreiben jetzt im Optimismus, irgendwo in der Mitte wird man sich dann wieder einpendeln.

    Müller: Also der Exporterfolg derzeit könnte auch mittelfristig eine Exportfalle sein?

    Tichy: Er wäre eine Exportfalle, wenn er dauerhaft dazu führen würde, dass wir exportieren, exportieren, aber im Inland die Leute kurz halten. Aber das wird sich ausgleichen. Wir haben freie Märkte, dazu gehört auch der Arbeitsmarkt, der Tarifmarkt, und es wird jetzt eine Korrektur ganz automatisch kommen. Ich glaube, wir haben immer noch die Vorstellung, dass es eine weltwirtschaftliche Planwirtschaft gibt; die gibt es nicht. Es gibt keinen geraden Weg auch der Integration Chinas. Es gibt auch keinen geraden Weg, keinen ebenen, keinen gepflasterten Weg für die Rückführung der amerikanischen Haushaltsdefizite. Das sind ständige Übertreibungen, oder wenn Sie so wollen Blasen. Ich würde die Rhetorik der Bundeskanzlerin zurückweisen: Wir brauchen geradezu solche Übertreibungen, um gewissermaßen wie bei einem Pendelschlag dann auf die richtige Mittellinie wieder zurückzufinden.

    Müller: Bleiben wir, Herr Tichy, noch mal bei diesem Stichwort, was Sie genannt haben: Planwirtschaft. Wenn die amerikanische Notenbank Fed über 600 Milliarden Dollar ganz einfach in diesen Geldmarkt wieder hereinpumpt - und viele sagen ja, im Grunde steckt nichts dahinter, weil die amerikanische Produktivität, die amerikanische Industrie immer weiter nach unten gegangen ist -, ist das dann nicht ein Zeichen von Planwirtschaft?

    Tichy: Das ist der Versuch, ein Defizit auszugleichen, und es ist der Versuch, nämlich in den USA gibt es keine Inflation. Es gibt eher deflationäre Tendenzen. Also wenn da etwas Inflationsfurcht entsteht, ist es geradezu im Zielkorridor der Fed. Das Problem ist, dass in den USA sämtliche Dollars, die im Augenblick zur Verfügung stehen, irgendwo im nichtproduktiven Bereich landen, oder exportiert werden. Also die USA haben im Augenblick eigentlich kein Problem der Inflation, und so verhält sich dann auch die Fed, zu deren Leistungskatalog es auch gehört, nicht nur die Währungsstabilität zu verteidigen, also Inflation zu verhindern oder Deflation zu vermeiden, sondern es gehört zu ihren ausdrücklichen Zielen, auch die Beschäftigungsseite zu korrigieren. Das tut sie im Augenblick. Ich glaube, die Einstellung oder die Kritik daran ist etwas überzogen und verkennt die Lage in den USA, die anders ist als in Deutschland. In Deutschland erleben wir einen sensationellen Konjunkturaufschwung. Davon sind die Amerikaner leider meilenweit entfernt. Deswegen ist ihre Geldpolitik eine andere als bei uns.

    Müller: Um das verkürzt wiederzugeben, Herr Tichy. Habe ich Sie richtig verstanden: Man kann auch sagen, die 600 Milliarden, die da in den Markt hineingepumpt werden, die haben für uns in Europa, in Deutschland gar keine Bedeutung?

    Tichy: Sie haben zunächst keine Bedeutung, wenn die Fed ihr weiteres Ziel verfolgt, dass sie bei jedem Anzeichen einer Inflation dieses Geld wieder einsammelt. Wir waren da nicht so anders. Wir haben, als das Griechenland-Währungsdebakel anstand, auch griechische Staatsanleihen von der EZB aufkaufen lassen. Die Inflation hat das nicht befördert.

    Müller: Jetzt blicken wir noch mal nach Peking, das ist ja auch ein großes Thema in Südkorea. Die Amerikaner werfen den Chinesen vor, die Währung künstlich niedrig zu halten. Jetzt sagen die Chinesen, genau das machen die Amerikaner jetzt auch. Ich habe Sie eben danach gefragt, sind die Deutschen fair im internationalen Vergleich. Sind die Chinesen fair?

    Tichy: Die Chinesen sind insofern unfair, weil sie tatsächlich ihre Währung unterbewerten, Punkt 1. Aber Punkt zwei ist: Die Chinesen sind die Gefangenen ihres eigenen Wachstums. Es ist ja nicht so, dass China mittlerweile eine wirkliche wirtschaftliche Weltmacht schon wäre, sondern da warten Hunderte von Millionen Menschen, dass der Wohlstand auch zu ihnen kommt. Wenn die chinesische Regierung es nicht schafft, den Wohlstand in China wirklich auf eine breite Menge von Menschen zu verteilen, wird China ungeheuere politische und soziale Katastrophen erleben. Deswegen sollte man die chinesische Regierung verstehen, dass sie ihren Wachstumskurs fortsetzt. Sie hat ja gleichzeitig bereits längst erklärt, dass sie versucht, ähnlich wie es auch Deutschland machen wird in den kommenden Monaten, den Binnenkonsum zu stärken, und dass sie eigentlich von einer exportgetriebenen Wirtschaft auf eine importlastige Wirtschaft umstellt. Da gibt es viele Mechanismen, aber das dauert ein bisschen, das dauert. Und vergessen Sie nicht: Deutschland hat auch 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg den chinesischen Weg gefahren. Das ist nicht einfach, hier einfach umzuschalten, und ein bisschen gegenseitiges Verständnis wäre in der Situation besser als aggressive Worte des deutschen Finanzministers.

    Müller: Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk Roland Tichy, Chefredakteur der "Wirtschaftswoche". Danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Tichy: Auf Wiederhören.