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"Ich habe keinen Dialog erfunden, kein Wetter"

Kate Summerscale rollt einen Mord von 1860 wieder auf und schockiert den Leser mit ihrem nicht-fiktionalen Stoff. Dabei können alle Charaktere unter Verdacht geraten: "Jeder wirkt schuldig, weil jeder etwas zu verbergen hat."

Von Hartmut Kasper | 04.08.2009
    Die Engländerin Kate Summerscale ist Journalistin. Ihre Bücher sind gründlich recherchiert und vermitteln dem Leser das Gefühl, in sicheren Händen zu sein. Das ist gut so. Denn die Themen, die sie behandelt, sind alles andere als gutbürgerlich und grundständig. Sie verblüffen, verstören und irritieren und das umso mehr als sie keine Fiktionen sind. Ihr neues Buch handelt von einem der prominentesten Verbrechen im England des 19. Jahrhunderts: dem Mord an Saville Kent in Road Hill. "Der Verdacht des Mr. Whicher" orientiert sich in seiner Form am klassischen Landhauskrimi, dem Country House Murder Mystery und ist insofern very british, very gothic.
    Im Jahr 1860 wird der dreijährige Saville Kent in einem Landhaus in der Grafschaft Wiltshire ermordet. Er ist über Nacht aus seinem wohlbehüteten Zimmer verschwunden. Gefunden wird er erstochen und verblutet in einer Toilette im Garten, einem Abort für die Dienstboten. Die örtliche Polizei ermittelt, bleibt aber erfolglos, weswegen schließlich Detective Inspector Jonathan Whicher gerufen wird, einer der ersten acht Kriminalpolizisten von Scotland Yard. Der Ruf nach Scotland Yard ist unseren krimigeneigten Ohren längst vertraut. Zur Zeit des Mordes aber ist die Kriminalpolizei eine Neuerung.

    "Ein Polizist musste seine Uniform auch tragen, wenn er nicht im Dienst war, damit ihm niemand vorwerfen konnte, er verheimliche seine Identität."

    Whicher dagegen trägt Zivil. Diesen Zivilisten begegnet man mit ebenso viel Faszination wie Argwohn. Summerscales Buch ist ein Archiv des Kriminalromans, seiner Ensembles, Motive und Strukturen. Jeder, der einmal einen typisch englischen Kriminalroman gelesen hat, kennt Bezeichnungen wie Detektiv, oder "clew" und hat von den "Red Herrings" gehört, den "falschen Fährten". Im Wort "detect" steckt das lateinische "detegere", das so viel wie "aufdecken" bedeutet. Der hinkende Dämonenfürst Asmodeus, der die Dächer der Häuser abhob, um die darin Lebenden zu bespitzeln, wäre demnach der Ur-Detektiv gewesen.
    Der Detektiv ist zugleich ein "sleuthhound" oder "sleuth", ein Bluthund, den man allerdings durch die Auslegung von "red herrings", Bücklingen nämlich, von der Spur ablenken konnte. Das englische Wort "clue" leitet sich von einem Wort für "Garn- oder Fadenknäuel" her. Wie Theseus, der mit einem Faden aus dem Labyrinth des Minotaurus findet, nimmt der Detektiv "clues" auf.
    Und das ist in Sachen Road House-Mord bitter nötig:

    "Seit dem Mord war Road Hill House zu einem Rätsel, einem dreidimensionalen Puzzle geworden."

    Verschiedene Autoren wie Charles Dickens und Arthur Conan Doyle lassen sich von dem Fall inspirieren. "Der Monddiamant" von Wilkie Collins wird ebenso zum Bestseller wie Mary Braddons Roman "Lady Audley's Geheimnis". Während aber die literarischen Alter Egos von Mr. Whicher ihre Fälle lösen, kann der wirkliche Detective Inspector den Täter nicht überführen. Die Mehrzahl der Polizisten, Journalisten und Amateurdetektive vermuten eine Art Verbrechen aus Leidenschaft: Der Knabe habe seinen Vater beim Geschlechtsverkehr mit dem Kindermädchen ertappt. Um die Liaison zu vertuschen, hätten das Mädchen oder der Vater oder beide den kleinen Saville getötet.
    Whicher hat einen ganz anderen Verdacht. Er glaubt, Constance, eine Tochter aus erster Ehe, habe den Mord begangen, möglicherweise zusammen mit ihrem Bruder William. Beweisen kann er es nicht. Fünf Jahre später gesteht Constance tatsächlich. Sie sei die alleinige Täterin. Todesurteil, Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus, Entlassung nach zwanzig Jahren - und der Fall und die Lebensgeschichten der in diesen Fall Verstrickten werden immer undurchsichtiger, immer mysteriöser. Denn so, wie Constance den Mord begangen haben will, ist er einer einzelnen Person kaum zuzutrauen. Wer war ihr Komplize? Wen deckt sie? Warum? Im Gefängnis arbeitet Constance Kent als Mosaizistin, ihre Mosaike werden verschickt, "um die Böden von Kirchen in Südengland zu zieren". Nachdem sie zwei Jahrzehnte ihrer Strafe verbüßt hat, kommt sie frei. Sie folgt ihrem Bruder William nach Tasmanien und Australien, nimmt einen anderen Namen an, wird Krankenschwester. Als sie im Jahr 1944 hundert wird, schicken der König und die Königin von England ihr ein Glückwunschtelegramm.

    ""Ich habe keinen Dialog erfunden, kein Wetter","

    sagt Summerscale in einem Interview. Alles sei wahr. Dennoch ist "Der Verdacht des Mr Whicher" so wenig kriminalhistorisches Dokumentarspiel, wie es bloß eine illustrierte Etymologie kriminalromantischer Grundbegriffe ist. Summerscale reflektiert das Geschehen und seine literarischen Verarbeitungen. Sie gräbt sich wie eine Literaturarchäologin vor zu den Grundmustern des Detektivromans, zu dessen Wurzeln in der Wirklichkeit. Wie im Haus der Kents gilt seitdem auch im Kriminalroman: Jeder wirkt schuldig, weil jeder etwas zu verbergen hat."Und es gilt: Der Fall sollte eine geradezu mythische Labyrinthizität beweisen, das heißt: Die Lösung muss stets auf verschlungenen Wegen - indirekt - daherkommen, sie muss paradox sein. In seinen Tagen hat der wirkliche Mr. Whicher den Fall nicht lösen können. Postum kann Summerscale dem großen Detektiven Recht geben: Ja, die geständige Mörderin wird einen Komplizen gehabt haben, und ja, das Familiengeheimnis der Kents ist so schauerlich, wie man es sich von einer Gothic Novel nur wünschen kann: eine Geschichte voller Ausschweifungen, Krankheit, Wahnsinn, Schuld und Mord - altem Rezensentenbrauch gemäß wird die Auflösung hier nicht verraten. Als das Leben der Familie Kent in Road Hill unerträglich geworden ist, ziehen sie fort. Ihren Besitz lassen sie versteigern. Zur Auktion kommen unter anderem ein Ölgemälde und ein Himmelbett, Bücher und Portwein, eine Orgel und zwei Teleskope. "Die Wiege, aus der Saville entführt worden war, wurde nicht versteigert, damit sie nicht in Madame Tussauds' "Kammer des Schreckens" auftauchte." Als hätte Mr. Whicher nicht längst das Dach vom Elternhaus des Jungen gehoben und darunter die wahre Kammer des Schreckens entlarvt.

    Kate Summerscale: Der Verdacht des Mr Whicher oder Der Mord von Road Hill House
    Aus dem Englischen von Alice Jakubeit
    Bloomsbury Berlin, Berlin 2008, 431 Seiten, 19,90 Euro.