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"Ich habe mir vorgenommen, Sie kennenzulernen“

Was das Erfolgsgeheimnis des Leute-Befragers André Müller ausmacht, ist schwer zu benennen. Sicher ist, dass seine Interviews allesamt lesenswert sind und einen hohen Unterhaltungswert verbürgen. "Ich habe mir vorgenommen, Sie kennenzulernen", sagt er einem seiner Gesprächspartner, und vielleicht ist das schon das ganze Geheimnis.

Von Martin Krumbholz | 27.02.2012
    Müller will den Partner kennenlernen und gibt sich auch selbst zu erkennen – offenbar bedingt das eine das andere. Nie stellt er den Befragten bloß. Er entreißt ihm kein Geheimnis, sondern wartet geduldig darauf, dass der andere es freiwillig preisgibt. Egal, wie verschlossen oder wie auskunftsfreudig der sich jeweils geriert. Michel Houellebecq gesteht Müller zum Beispiel, seine Kindheit "ein bisschen dramatisiert" zu haben, weil er gern bemitleidet werde. Prompt fällt dem Interviewer dazu eine Gedichtzeile ein, die Houellebecq über seinen Vater schrieb: "Er hat mich behandelt wie eine Ratte, die man vertilgen will." Der Elfriede Jelinek wiederum hält Müller eine Zeile von Camus entgegen: "Eine gewisse Beharrlichkeit im Verzweifeln erzeugt schließlich Freude." Jelinek negiert diesen Satz und meint:

    "Man müsste mich dressieren wie einen Hund. Denn der Mensch ist ein Tier. Mein Psychiater müsste mich jeden Abend durch fünf Theater oder ins Kino schleifen, und wenn ich hinauswill, müsste er mich festhalten und sagen: ‘Nein, Sie bleiben da sitzen!’"

    Die Verzweiflung, für die André Müller ein besonderes Sensorium besitzt, ist ein roter Faden in diesen Gesprächen, nach Möglichkeit verknüpft mit Humor. Peter Handke nennt den wahren Humor eine Begleiterscheinung der Tragik und der Verzweiflung. Natürlich oft in der sarkastischen Spielart. Der Kritiker Reich-Ranicki, erzählt Handke, habe ihm auf der Frankfurter Buchmesse im Vorbeigehen zugerufen: "Herr Handke, wie gehen die Geschäfte?" Seither, so Handke, frage er das auch jeden, der ihm begegne. Marcel Reich-Ranicki seinerseits wurde natürlich ebenfalls interviewt, es ist eine der ergreifendsten Begegnungen. Nachdem der Kritiker stundenlang auf ihn eingebrüllt und sich geweigert habe, sich vorzustellen, dass es für Animositäten gegen ihn andere Gründe als sein Judentum gebe, bemerkt Müller: "Ihr Schreien hat mit Verzweiflung zu tun" – und plötzlich sei Reich-Ranicki nachdenklich geworden. Immer wieder die Verzweiflung. Farbig und interessant wird es also häufig dann, wenn die Befragten sich gegen das Diktat der Moll-Tonarten abgrenzen; nicht selten sind das Frauen. So die Schauspielerin Hanna Schygulla:

    "Ich bin kein rundum fröhlicher, aber ein zur Freude aufgelegter Mensch ... Mich nervt dieses Rumgesabbere, dieses ewige Verneinen und Kritisieren. Wenn die Verzweiflung der Nährboden der Kunst ist, dann pfeife ich auf die Kunst. Wenn Sie sich vorgenommen haben, mich so lange zu fragen, bis ich gestehe, dass ich verzweifelt bin, dann sind Sie an die Falsche geraten ... "

    Und weiter:

    "Sie möchten das Schlupfloch entdecken, in dem ich mich verkrieche. Ich finde es aber viel wichtiger, dass ich mich nicht im Labyrinth meiner Fluchtwege verirre und keinen Ausgang mehr finde. Ich möchte, dass sich das Dickicht in eine offene Straße verwandelt."

    Die Furcht, in ein Klischee gepresst, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden, treibt viele Prominente um. Vehement wehrt sich Jelinek gegen den Vorwurf mangelnder Welthaltigkeit:

    "Ich les ja selbst gerne Krimis. Aber daneben kann es doch anderes geben. Man will heute wieder realistische, saftige Erzählungen haben. Jemand, der wie ich mit der Sprache arbeitet und die privaten Dinge wie ein Arzt auf ihre Symptomatik abklopft oder wie ein Pantoffeltierchen die Realität abflimmert, um auf witzige Art die sozialen Klischees zu entlarven, den lässt man nicht gelten. Der wird vernichtet."

    Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs – 2004 – hatte die Schriftstellerin den Nobelpreis bereits erhalten. Die Befürchtung, zumindest in Deutschland nicht verstanden zu werden, ist jedenfalls durch den überwältigenden Erfolg auf den Theaterbühnen widerlegt. Anders liegt der Fall bei der Filmemacherin Leni Riefenstahl, die wegen ihrer NS-Propagandafilme "Triumph des Willens" und "Olympia" politisch diskreditiert blieb. Vergeblich führte sie ihre Unwissenheit und Naivität ins Feld, ihren unerschütterten Glauben an eine heile Welt, für den sie auch im Gespräch mit Müller geradezu rührende Belege findet:

    "Als ich nach dem Krieg den Film "Rififi" sah, in dem zwanzig Minuten lang gezeigt wird, wie man einen Banküberfall vorbereitet, habe ich im Kino laut protestiert."

    Wider Erwarten endet das Gespräch mit Riefenstahl nicht im Eklat, anders als zum Beispiel Begegnungen mit Karl Lagerfeld, Gerhard Richter oder Christoph Schlingensief, die entweder abgebrochen wurden oder ein gerichtliches Nachspiel hatten. Alles spricht dafür, dass nicht André Müller für die Differenzen verantwortlich war. Seine Gesprächsführung kann zwar bohrend sein, aber nie ist sie unangenehm oder investigativ. Der grösste Gegner dieser Art von Menschenforschung ist die menschliche Eitelkeit. Hier stößt der Interviewer zuweilen an Grenzen. Denn nicht jeder Gesprächspartner ist so cool und souverän wie die junge Geigenvirtuosin Julia Fischer, die zu Protokoll gibt:

    "Um Solist zu werden, braucht man erstens Glück, zweitens muss man gern reisen und drittens in der Lage sein, sich sprachlich auszudrücken, damit man Interviews geben kann."

    André Müller: "Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!" Letzte Gespräche und Begegnungen. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek. Langen-Müller, 368 S., 19,99 Euro.


    André Müller: "Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!" Letzte Gespräche und Begegnungen. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek
    Langen-Müller Verlag, München
    368 Seiten, 19,99 Euro