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"Ich lebe eine Utopie, die nicht die meine ist"

Dissidenten sind – nach offizieller kubanischer Lesart – "Söldner im Dienst der USA". Und entsprechend wird als Feind behandelt, wer sich als Oppositioneller zu erkennen gibt.

Von Peter B. Schumann | 01.09.2012
    Wer beispielsweise als unabhängiger Journalist auftritt und kritische Berichte über die sozialen Verhältnisse ins Ausland schickt. Oder wer in einem offenen Brief von der Regierung die Einhaltung der Menschenrechte fordert. Oder wer in Hungerstreik tritt, um gegen die menschenunwürdige Situation in den Haftanstalten zu protestieren.

    Was sind das für Menschen, die Widerstand leisten gegen "eine Utopie, die nicht die meine ist" – wie Yoani Sánchez, Kubas berühmteste Bloggerin? Die Verfolgung, Ausgrenzung und jahrelange Strafen auf sich nehmen – wie der Poet Raúl Rivero, der Psychologe Guillermo Fariñas oder der Sacharow-Preisträger Oswaldo Payá. Die selbst den Tod in Kauf nehmen – wie der Arbeiter Orlando Zapata Tamayo. Was treibt sie an, und wofür stehen sie?

    Eine "Lange Nacht" über die wachsende Opposition in Kuba und einige ihrer wichtigsten Akteure.

    Zu den Akteuren:

    Jesús Díaz (Romancier)

    "Als ich zu reagieren versuchte, sah ich mich dem hünenhaften, graubärtigen Blinden gegenüber, der den Zug kommandierte; vielleicht hätte ich noch einen letzten Versuch unternehmen können, die Aufnahme in der Form zu retten, in der ich sie konzipiert hatte, aber das herrische Gehabe dieses blinden Patriarchen übte auf mich einen seltsamen Zauber aus. Ich blickte ihn ein paar Sekunden lang an, und als ich die Gruppe wieder zusammenbringen wollte, war es zu spät. Die wogende Menge, die hinter dem Sarg herging, hatte uns endgültig überflutet und auseinandergetrieben. Ich wollte schon die Anweisung 'Schnitt' geben, ließ es dann aber, weil mir einfiel, dass ich ja kein Negativ mehr für eine Wiederholung hatte, und es blieb mir nichts anderes übrig, als unter der sengenden Sonne, die senkrecht über dem Friedhof stand, weiter gegen den Strom der Blinden anzugehen und zu hoffen, dass mir das Schicksal erlauben würde, an dem Film weiterzuarbeiten und die Möglichkeit zu erhalten, die in den Bildern dieses Albtraums verborgene Bedeutung zu offenbaren."

    So lässt Jesús Díaz seinen Roman "Die Haut und die Maske" enden. Er hat darin eigene Erfahrungen als Filmregisseur verarbeitet. In Kuba hätte dieses Buch nicht erscheinen können, denn er beschreibt u.a. das Spitzelwesen, die subtilen und brutalen Methoden der Zensur und das System der Selbstzensur. Aber vor allem rührt er mit dem Bild vom "hünenhaften, graubärtigen, blinden Patriarchen" an ein kubanisches Tabu: Die kritische Darstellung des Máximo Líder ist ein Sakrileg, das fast automatisch zum Ausschluss aus der Gemeinde und sehr oft zu Gefängnishaft führt. Díaz hat das Werk auch nicht in Havanna, sondern Anfang der 90er-Jahre im Berliner Exil verfasst. Zunächst war er damals nur einer Einladung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD gefolgt, hatte sich dann aber entschlossen, in Deutschland zu bleiben, weil er die Verhältnisse auf der Insel für unerträglich hielt.

    Jesús Díaz: "Ich bestehe darauf und wiederhole: Die Castro-Diktatur ist eine der schrecklichsten Diktaturen, die irgendein Land des lateinamerikanischen Kontinents in diesem Jahrhundert erlitten hat. Bei einer Bevölkerung von elf Millionen gibt es zwei Millionen Exilierte. Wir wissen nicht, wie viele politische Häftlinge von 1959 bis heute durch die Gefängnisse Castros gewandert sind. Oder wie viele im Morgengrauen erschossen wurden. Wir wissen das nicht, und ich schäme mich, das zu sagen. All jene, die einmal an diese Revolution geglaubt und dafür gekämpft haben, dürfen etwas so Offenkundiges nicht einfach akzeptieren."


    Raúl Rivero (Poet)

    Der Poet Raúl Rivero war einer von 75 Dissidenten, über die im 'Schwarzen Frühling 2003' drakonische Strafen verhängt wurden. Die 20 Jahre Haft bedeuteten für den damals 57-jährigen praktisch lebenslang, denn im Kuba Fidel Castros gibt es für sog. Konterrevolutionäre keine Gnade. Am 20. März war er bei einer groß angelegten Razzia in Havanna inhaftiert worden. Kaum zwei Wochen benötigten die Schnellgerichte dann, um die 75 Menschen für 8, 15, 20 und nicht selten 25 Jahre wegzusperren.

    Raúl Rivero "Was mich am meisten beeindruckt hat von all den Ereignissen, das Gefängnis eingeschlossen, war das Gerichtsspektakel. Da saß eine Gruppe von etwa 14 Männern um die 60, um uns abzuurteilen. Sie saßen da, hatten keinerlei Unterlagen bei sich - einer spielte mit einem Kugelschreiber, ein anderer nickte ein - und machten nicht den Eindruck, dass sie dem Verfahren wirklich folgten. Nur der Vorsitzende schien etwas wacher zu sein. Er ergriff dreimal das Wort, bat aber jedes Mal nur um mehr Ernsthaftigkeit, weil das Publikum aus einer Schule des Staatssicherheitsdienstes lachte, als der Staatsanwalt uns als Imperialisten bezeichnete."


    Yoani Sánchez (Bloggerin)
    Es ist die Geburtsstunde einer von nun an rasch wachsenden Opposition, einer sich ständig verbreiternden Dissidenz in Kuba. Die junge Bloggerin Yoani Sánchez hat deren Haltung später so zusammengefasst:

    "Ich lebe eine Utopie, die nicht die meine ist. Eine Utopie, für die meine Großeltern ihr Leben gegeben und meine Eltern ihre besten Jahre geopfert haben. Für mich ist sie eine Last, sie drückt mich nieder, aber ich weiß nicht, wie ich sie abschütteln kann. Manch einer, der diese Utopie nicht erlebt hat, will mir einreden, dass man sie bewahren muss. Aber solche Leute können eben nicht ermessen, wie unfrei es macht, die Träume anderer mit sich herumzuschleppen und mit Illusionen zu leben, die einem eigentlich fremd sind. All denen, die mir - ohne mich zu fragen - dieses unselige Trugbild verordnet haben, sei gesagt: Ich denke nicht daran, es auch noch meinen Kindern zu vermachen."

    Ihr Blog (deutsche Übersetzung)


    Damen in Weiß
    Webseiten (Spanisch): damasdeblanco.com und damasdeblanco.org

    Die Damen in Weiß sind heute der sichtbarste Ausdruck der inneren Opposition. Damals, im "Schwarzen Frühling 2003", haben sich die Frauen, Schwestern und Töchter der Verhafteten in ihrer Verzweiflung organisiert. Am 1. April wandten sie sich an die internationale Öffentlichkeit:

    "Wir, die Ehefrauen, Mütter und Kinder jener Männer, die ohne jede Rechtfertigung in der jüngsten massenhaften Verhaftungswelle gegen die friedliche Dissidenz in Kuba festgenommen wurden, bitten die Weltgemeinschaft, sich mit uns zu solidarisieren und die internationale Kampagne zur sofortigen Freilassung unserer Angehörigen zu unterstützen. Sie wurden eingesperrt, weil sie ihr Recht auf Meinungs- und Gedankenfreiheit ausgeübt haben, um Versöhnung und Achtung der Menschenrechte in unserer geliebten Nation zu erreichen."
    Das Vorbild der Damen in Weiß sind die Madres von der Plaza de Mayo in Argentinien. Die Mütter wollten das Verschwinden, das heißt die Ermordung ihrer Kinder und Männer während der Militärdiktatur, nicht akzeptieren und versammelten sich deshalb jahrelang an jedem Donnerstag zum stummen Protestmarsch vor dem Präsidentenpalast. Daraus entstand eine starke Menschenrechtsbewegung, die selbst in der argentinischen Demokratie aktiv geblieben ist.

    Doch anders als sie vertreten die Damen in Weiß keine radikalen Positionen, sondern Haltungen, die in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sind. Am 14. Oktober 2011 starb Laura Pollán im Alter von 63 Jahren an einer schweren Lungenentzündung. Ein halbes Jahr zuvor war ihr Mann Héctor Maseda aus der Haft entlassen worden. Ihr Tod war ein Schock für die Menschenrechtsbewegung, denn sie verlor eine charismatische Kämpferin. Sie hat mit ihrem Mut wesentlich dazu beigetragen, dass die sonntägliche Manifestation der Damen in Weiß zur einzigen regelmäßigen, öffentlichen Protestaktion der Menschenrechtsbewegung geworden ist. Das Regime lässt die Frauen gewähren und unternimmt dennoch alles, um sie einzuschüchtern und nach Möglichkeit zum Schweigen zu bringen. Doch sie, die bereits so viel Leid erdulden mussten, sind nicht unterzukriegen.

    Lied über die Damen in Weiß

    Wenn Angst zur Herausforderung wird,
    unerbittlich den Weg weist,
    dann werden Kräfte entfesselt,
    die nicht aufzuhalten sind,
    und es siegt die Macht der Liebe.

    Damen in Weiß, aus Schmerzen geboren,
    Licht, das über das Meer hinaus strahlt
    und unsere Wahrheit endlos verbreitet.

    Damen in Weiß, stets auf der Wacht
    und mit Mut auf dem Marsch,
    die Schweigen in Recht verwandeln
    und jedem Toten eine Stimme geben,
    die nach Freiheit ruft.



    Laura Pollán (verstorbene Sprecherin)

    Laura Pollán hat die Organisation mitbegründet. Sie war eine Mittelschullehrerin von 55 Jahren und politisch nie aktiv, als ihr Ehemann Héctor Maseda Opfer der Verhaftungswelle wurde. Er war ein privilegierter Atomingenieur, bis er Ende der 80er-Jahre aus ideologischen Gründen seine Anstellung verlor und danach als unabhängiger Journalist arbeitete. Er wurde zu 20 Jahren verurteilt und war einer der Letzten, die entlassen wurden, weil er - wie seine Frau Laura - darauf beharrte, in Kuba zu bleiben. Ihr wurde 2003 als Lehrerin gekündigt. Danach gehörte sie zu den treibenden Kräften der Organisation, war jahrelang ihre Sprecherin. Als das Europäische Parlament 2005 die Damen in Weiß mit dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit auszeichnete, verwehrte das Regime ihr die Ausreise. Immer wieder wurde sie in den offiziellen Medien angegriffen.

    Lied über Laura Pollán
    Laura, Dame in Weiß,
    sie wollten dich zum Schweigen bringen,
    aber deine Stimme tönt lauter als zuvor
    durch die Straßen von Havanna.
    Deine Energie gibt deinen Schwestern Kraft,
    diesen tapferen Heldinnen,
    die mit Gladiolen in Händen
    die Rechte der Kubaner verteidigen.

    Laura Pollán,
    wir werden es schaffen,
    und am Ende des Martyriums
    wird sich der Marsch der Gladiolen
    in einen Fluss verwandeln,
    denn ganz Kuba wird mit dir marschieren



    Guillermo Fariñas (Psychologe und Menschenrechtler)

    1993 wurde der 'Comandante en Jefe' im Kinderkrankenhaus von Havanna sehr wütend, als ich ihn im Beisein der Auslandspresse aufforderte, sein Versprechen zu erneuern, die Renovierung des Krankenhauses wirklich innerhalb eines halben Jahres zu beenden. 1995 zeigte ich die Direktorin des Krankenhauses und Mitglied des ZK der Partei bei der Polizei an, weil sie sich Spenden der Europäischen Union angeeignet hatte. Daraufhin wurde ich festgenommen und zu 1 Jahr und 8 Monaten Gefängnis wegen angeblichen Waffenbesitzes verurteilt.

    So schreibt Guillermo Fariñas in seiner Autobiografie. Seine Hungerstreiks begann er 1997, als er wegen der Unterstützung von Sacharow-Anhängern in Santa Clara eine Haftstrafe von 1 1/2 Jahren erhielt. In der gesamten Zeit verweigerte er die Aufnahme von fester Nahrung.

    Guillermo Fariñas: "Danach bin ich immer wieder aus unterschiedlichen Gründen in den Hungerstreik getreten. Als ich 2002 von einem Agenten der Staatssicherheit angegriffen wurde und mich wehrte, verurteilte man mich zu 7 Jahren Freiheitsentzug, von denen ich 14 Monate im Hungerstreik verbrachte. Dann wurde ich wegen meines schlechten Gesundheitszustands vorzeitig auf Bewährung entlassen. Als die Staatssicherheit 2005 das 'Ciber Café' von Santa Clara blockierte, erklärte ich den unbegrenzten Hungerstreik, bis alle Kubaner freien Zugang zum Internet erhielten."


    Oswaldo Payá (Menschenrechtler)

    Oswaldo Payá stammt aus einer katholischen Familie und wollte schon als Jugendlicher nichts mit dem Kommunismus zu tun haben. Während seines Wehrdienstes weigerte er sich, einen Transport politischer Gefangener zu begleiten. Deshalb verurteilte man ihn zu drei Jahren Zwangsarbeit auf der 'Insel der Jugend'. Später studierte er Physik an der Universität von Havanna und anschließend Telekommunikationswissenschaft. Bis zuletzt repariert er medizinische Geräte in einer staatlichen Fabrik. Mit der Christlichen Befreiungsbewegung hat er die einflussreichste Menschenrechtsorganisation in Cuba geschaffen.

    Oswaldo Payá: "Wir sind überzeugt, dass nur wir Kubaner die Wende bewirken können. Deshalb haben wir diese Bürgerbewegung geschaffen, in der die Kubaner Veränderungen der Gesetze fordern, die unsere Rechte garantieren und die Freiheit der politischen Gefangenen, die inhaftiert sind, weil sie die Rechte der Kubaner verteidigt haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in einer Kultur der Angst unter einem intoleranten Regime befinden, das nicht den kleinsten Raum für freie Meinungsäußerungen und politische Teilnahme öffnet. Die Mehrheit der Kubaner will Veränderungen, ein anderes Leben und Freiheit. Das bedeutet konkret: In einer Kultur der Angst schreibt ein Bürger seinen Namen, seine Adresse und die Nummer seines Personalausweises in eine Liste und sagt auf diese Weise der Regierung: Ich will meine Meinung frei äußern, will frei mit anderen eine Vereinigung bilden, will frei reden, ohne mich nach allen Seiten umzuschauen und die Fenster zu schließen, frei ein Geschäft betreiben und frei und demokratisch meine Regierung wählen."


    Orlando Zapata Tamayo (Arbeiter und Menschenrechtler)

    Hungerstreik ist ein Mittel der Verzweiflung, um passiv Widerstand zu leisten. Die physischen Folgen sind je nach Dauer gravierend. Übelkeit und Schwindelgefühle sind die harmloseren Erscheinungen. Hinzu kommen Schmerzen im Kopf, in den Gliedern, Krämpfe im Magen, Erbrechen. Der Kreislauf kollabiert. Das Immunsystem bricht zusammen, hohes Fieber setzt ein, Infektionen erscheinen. Oft kommen schmerzhafte Maßnahmen durch Zwangsernährung hinzu. Eine Tortur ist jeder Hungerstreik. Guillermo Fariñas hat ihn 24-mal durchgemacht, am längsten 2010. Damals war ein anderer Menschenrechtler, Orlando Zapata Tamayo, nach 85 Tagen der Nahrungsverweigerung im Gefängnis gestorben. Er hatte gegen die unmenschlichen Haftbedingungen gestreikt. Guillermo Fariñas wusste, dass sein ausgemergelter Körper eine solche Aktion eigentlich nicht erlaubte und sie für ihn tödlich enden könnte. Dennoch begann er am 24. Februar, keine feste Nahrung mehr zu sich zu nehmen. In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung "El País" erklärte er hierfür drei Gründe:

    "Erstens soll die Regierung einen möglichst hohen politischen Preis für den Mord an Orlando Zapata bezahlen. Zweitens: Wenn die Behörden nicht grausam und unmenschlich sind, dann lassen sie sofort die kranken politischen Häftlinge frei, denn sie könnten sehr bald zu weiteren Zapatas werden. Und drittens: Wenn ich sterben sollte, dann soll die Welt erkennen, dass die Regierung ihre Gegner sterben lässt und dass der Fall Orlando Zapata kein Einzelfall war."



    Gorki Águila (Punk-Rocker)

    Die Regierung konnte sich dem musikalischen Zeitgeist auf Dauer nicht verschließen und ließ dann die Bands doch ihre Rockmusik verbreiten, solange sie politisch auf der Linie lagen. Dazu gehörten anfangs auch Gorki Águila und seine Gruppe. Sie war ursprünglich eine reine Spaßformation und durfte im Radio und im Fernsehen auftreten, weil sie den richtigen Sound traf. Das genügte aber dem Bandleader mit der anarchistischen Ader nicht. "Party, Drogen, Sex und Fleisch" schrieb er provokativ als Motto auf ein Plakat und setzte die vier Köpfe seiner Band darunter. Das war ein neuer Ton, der neue Maßstäbe in der Pop-Kultur Kubas setzte. Kritik wurde nicht mehr in poetische Metaphern verpackt, sondern explizit ausgesprochen wie ihr Name: Porno para Ricardo.

    Gorki Águila: "Das ist für mich das Gegenteil von 'Vaterland oder Tod'. 'Vaterland' bedeutet für mich irgendein kollektives Konglomerat. 'Ricardo' ist dagegen ein Individuum. 'Pornografie' heißt Lust, Vergnügen, Leben, ist eben das Gegenteil von 'Tod'."

    Der Titel Porno para Ricardo war in dem offiziell sehr puritanischen Land an sich schon eine Zumutung, aber nicht die einzige. Das Markenzeichen der Gruppe, Hammer und Sichel, besteht aus einem Penis und einer Vagina. 2003 wurde Gorki Àguila wegen Drogenbesitzes festgenommen. Eine Agentin der Staatssicherheit hatte ihn dazu gebracht, ihr Rauschgift anzubieten. Er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt und kam 2005 - wegen guter Führung - vorzeitig auf Bewährung frei.


    Ramon Colás (Gründer der unabhängigen Bibliotheken, spanischsprachig)

    "Es gibt in Kuba keine verbotenen Bücher, es gibt lediglich nicht genug Geld, um Bücher zu kaufen."

    Fidel Castro 1998 auf der Buchmesse in Havanna. Diesen Satz hörte ein junger Psychologe in Las Tunas, in der tiefsten Provinz im Osten Cubas:

    Ramón Colás: "Ich habe in diesen Worten eine Lücke im System der allgemeinen Zensur gesehen, die ich nutzen wollte, denn ich besaß viele Bücher und wollte sie meinen Freunden und Mitarbeitern zur Verfügung stellen und darüber hinaus der ganzen Gemeinschaft. Meine Frau Berta hielt das für eine großartige Idee, und wir haben uns hingesetzt und ein Projekt entworfen, das wir unabhängige Bibliotheken nannten, denn wir wollten, dass neben der unsrigen ähnliche Bibliotheken in allen Provinzen des Landes entstehen sollten."

    Die Idee fand ein großes Echo. Kurz darauf wurden in Santiago de Cuba zwei weitere Bibliotheken eröffnet, und zeitweise bestanden rund 130 solcher Orte auf der ganzen Insel. Sie sind eines der sichtbarsten Projekte der inneren Opposition. Damit der erste Versuch nicht gleich am Argwohn der Sicherheitsorgane scheiterte, hängte Ramón Colás ein Schild mit dem Castro-Zitat an seine Haustür. Eigentlich war das, was er tat, illegal in einem Land, in dem nichts die vorgegebene Ordnung stören darf, zumindest jede mit sozialen Kontakten verbundene Aktivität einer Genehmigung bedarf. Die Idee schien der Staatsbürokratie wohl zunächst nicht der Reaktion wert, obwohl die Bevölkerung auf das Angebot an sonst nicht greifbarer Lektüre sehr positiv reagierte.

    "Man spricht bei uns viel vom Hunger nach Freiheit. Aber es gibt auch einen Hunger nach Information, weil das Regime sie uns vorenthält. Jede Form von Lesestoff hängt von den ideologischen und politischen Kriterien der Partei ab. Deshalb konnten wir unser Projekt nicht öffentlich realisieren, sondern mussten es in die Privatsphäre unserer Wohnung verlagern. Für uns war das ein Dienst an der Gesellschaft. Sie hat positiv darauf reagiert und unsere Bibliothek rasch in ein kleines Gemeindezentrum verwandelt. Hier haben die Leute ungewöhnliche Bücher erhalten. Und wir haben ihnen auch Informationen gegeben, durch die sie ihre eigene Realität anders zu begreifen lernten."

    Keine Unterdrückungsmaßnahme konnte die Ausbreitung der unabhängigen Bibliotheken ernsthaft gefährden. Nach dem Schwarzen Frühling 2003 und der Verhaftung von 23 Bibliothekaren, einem Exodus an Erfahrung, hat das Projekt stark gelitten. Es wurde außerdem – wie viele Vereinigungen der Dissidenz – teilweise von der Staatssicherheit unterwandert. Dennoch bleiben die unabhängigen Bibliotheken ein wichtiger Beitrag der Opposition in Kuba.

    José Daniel Ferrer García (Menschenrechtler, spanischsprachige Seite)
    - Webseite seiner Organisation UNPACU (Spanisch)

    José Daniel Ferrer ist einer der wichtigsten Köpfe der Dissidenz in Kuba: unbeugsam, unbestechlich und kämpferisch. Der heute 42-jährige koordiniert den friedlichen Widerstand im Osten der Insel und war dort verantwortlich für die Unterschriftensammlung des Varela-Projekts. Deshalb wurde er bei den Razzien im Schwarzen Frühling 2003 verhaftet und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt.

    "Der Preis ist hoch, aber es lohnt sich, ihn zu bezahlen. Wenn man in einer Nation lebt, in der die elementarsten Rechte vergewaltigt werden, und wenn man sich dann unterwirft, dann ist das ein noch viel höherer Preis. Ich habe mich immer an einen Satz des US-amerikanischen Autors Henry Thoreau erinnert, der sagte: In einem Land, in dem die Rechte des Einzelnen mit Füßen getreten werden, ist es besser, gleich in einem Gefängnis zu leben. Länger als ein halbes Jahrhundert werden wir nun schon von diesem kommunistischen Regime traktiert, das die Gesellschaft mit Hilfe von Terror kontrolliert: durch Angst und Schläge, Berufsverbote und Repressalien gegen die Familie, mit jeder Form von Erpressung."

    José Daniel Ferrer wurde oft zusammengeschlagen im Gefängnis, auf Polizeirevieren, auf der Straße. Er hat die lange Haftstrafe bis zum letzten Moment auf sich genommen, bis 2011die Regierung nachgab und auch jene politischen Häftlinge freiließ, die in Kuba bleiben wollten. 8 Jahre verbrachte er hinter Gittern, 4 Monate lang in einer Strafzelle. Kurz nach der Entlassung gründete er zusammen mit anderen Aktivisten die Patriotische Union Kubas, die Dachorganisation der Menschenrechtsgruppen im Osten des Landes.

    "Die Patriotische Union Kubas, die ich zurzeit koordiniere, will den friedlichen Kampf um Demokratie und Menschenrechte in einem freien und gerechten Kuba vorantreiben. Wir wollen eine Massenorganisation werden, und deshalb ist jeder willkommen, der unsere Prinzipien akzeptiert, denn wir wollen so viele Kubaner wie möglich von diesem Prozess überzeugen. Wer den Mut hat, sich auch auf der Straße der Tyrannei entgegenzustellen, der wird hier mit offenen Armen aufgenommen. Wer hier ein Video bearbeiten oder ein Flugblatt herstellen will, findet hier seinen Platz. Alle unsere Anstrengungen dienen dazu, die Wende so bald wie möglich herbeizuführen."


    Estado de SATS/ Antonio Rodiles (spanisch und englisch):

    "Herzlich willkommen bei Estado de SATS. Es ist uns heute eine ganz besondere Ehre, in unserem Programm Berta Soler begrüßen zu können, die Sprecherin der Damen in Weiß, und José Daniel Ferrer, den Koordinator der Patriotischen Unión Kubas im Osten der Insel."

    Zwei der wichtigsten Stimmen der Dissidenz, eingeladen von Antonio Rodiles, einem jungen Mann Anfang dreißig, der es sich erlaubt, die Opposition in sein Haus zum Gespräch zu bitten, dieses auf Video aufzuzeichnen und in Kuba zu verbreiten. Er hat nicht etwa einen Privatsender ins Leben gerufen, um im Rahmen des neuen Arbeitsbeschaffungs-Programms der Regierung sozusagen "auf eigene Rechnung" tätig zu werden. Sein Projekt ist ambitionierter und nur im Internet zu sehen, d.h. es ist den wenigsten Kubanern zugänglich. Dennoch ist hier ein einzigartiges Forum der Opposition entstanden. Estado de SATS hat er sein ungewöhnliches Unternehmen genannt, und das bedeutet in der Theatersprache den Zustand höchster Anspannung vor dem Auftritt auf der Bühne. Sein Gründer und Moderator Antonio Rodiles:

    "Es war unsere Idee, einen Raum offener Diskussion zu schaffen, in dem die Vielfalt des Denkens in der kubanischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Denn viel zu lange herrschte hier ein von oben verordneter Diskurs, der glauben machte, wir Kubaner stünden alle auf derselben Linie, was falsch ist. Das wird immer offensichtlicher, und dazu soll ein Ort wie dieser beitragen, wo ein Dialog zwischen den unterschiedlichen Positionen stattfinden soll."

    Bis jetzt ist es allerdings erst ein Dialog zwischen Gleichgesinnten, zwischen Oppositionellen. Die ebenfalls eingeladenen Regierungsvertreter sind nie erschienen. Anfangs war ihnen Estado de SATS nur suspekt, inzwischen gilt das Projekt als subversiv. Zwei Jahre existiert nunmehr das Projekt. Die Veranstaltungen werden mit einfachen Mitteln in Bild und Ton aufgezeichnet und dann auf YouTube und auf die Webseite des Projekts hochgeladen. Seit Mai 2012 werden sie außerdem von TV Martí, dem Sender der Exilkubarer in Miami, angeboten. Die internationale Ausstrahlung hat also zugenommen. In Kuba ist die Ausbreitung nach wie vor begrenzt. Antonio Rodiles:

    "Wir haben die neuen Technologien von Anfang an als Mittel der Verbreitung, aber auch zu unserem Schutz benutzt. Wir zeigen unsere Treffen jedoch nicht nur im Internet, sondern wir verteilen sie auch als DVD, und so zirkulieren sie im ganzen Land. Manchmal sind wir selbst erstaunt, wenn wir aus den fernsten Winkeln der Insel eine Mail von Personen erhalten, die wenigstens eines oder zwei unserer Programme gesehen haben. Estado de SATS wird jeden Tag sichtbarer, dank der neuen Technologien, die lebenswichtige Werkzeuge für die Arbeit einer Bürgergesellschaft sind."


    Pedro Luis Ferrer (Liedermacher)

    Pedro Luis Ferrer: Venga el estado de derecho
    Der Staat des Rechts wird kommen,
    wird herrschen auf dieser Insel,
    der Staat des ganzen Volks,
    mit einer Vielfalt an Ideologien,
    ein Rechtsstaat mit einer freien Wirtschaft,
    für Arbeiter und Bauern mit ihrer unendlichen Phantasie.
    Freiheit für alle, die von einem besseren Leben träumen
    und dafür nicht misshandelt werden wollen.
    Ein Staat mit einem Höchstmaß an Freiheit und Recht:
    ein pluralistisches Projekt,
    nicht für eine Sekte, nicht für einen Führer,
    ein Staat für das ganze Volk.


    Pedro Luis Ferrer hatte lange Zeit Auftrittsverbot für dieses und andere politische Lieder, die er in den 90er-Jahren komponiert und gesungen hat.
    Ein Rechtsstaat, in dem jeder seine Fähigkeiten frei entfalten kann - diese Zukunftsvision teilen alle Dissidenten in Kuba. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn Staat und Gesellschaft müssen völlig umgebaut werden.

    Die Dissidenz stellt zwar noch keine Bedrohung für das System dar. Sie ist jedoch zu einem wachsenden Störfaktor in einem verunsicherten Regime geworden, ein Unruhepotential, das sich zu einer ernstzunehmenden Opposition formieren könnte, der Keimzelle einer Bürgergesellschaft im postrevolutionären Kuba.


    Mehr zu einigen Stichworten der Sendung

    Kubanische Opposition ab 1959 (Wikipedia)

    Schwarzer Frühling (Wikipedia)

    Acto de Repudio - Terrorakt gegen Oppositionelle (Wikipedia)


    Literatur

    Yoani Sánchez: Cuba Libre: Von der Kunst, Fidel Castro zu überleben. Bruno Genzler (Übersetzer), Heyne Verlag , München 2010, 256 S. (Sammlung ihrer Blogs)

    Michael Zeuske: Kuba im 21. Jahrhundert. Revolution und Reform auf der Insel der Extreme. Rotbuch Berlin 2012, 224 S.

    Michael Zeuske: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Rotpunktverlag, Zürich 2000, 280 S.

    Bernd Wulffen: Eiszeit in den Tropen: Botschafter bei Fidel Castro. Ch. Links Verlag, Berlin 2006 , 320 S.

    Bernd Wullfen: Kuba im Umbruch. Von Fidel zu Raúl Castro. Ch. Links Verlag, Berlin 2008, 272 S.

    Susanne Gratius: Kuba unter Castro - Das Dilemma der dreifachen Blockade. Leske + Budrich, Opladen 2003,
    380 S.

    Hans-Jürgen Burchardt: Kuba - Der lange Abschied von einem Mythos. Schmetterling Verlag 1996, 264 S.

    Bert Hoffmann: Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte. Vervuert Verlag, Frankfurt/Main 1994, 224 S.


    Die wichtigste Tageszeitung des Exils:
    Diario de Cuba (Spanisch)

    Der Autor Peter B. Schumann auf Wikipedia-Seite