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"Ich leide ebenso sehr als Deutscher wie als Jude"

Der jüdische Hamburger Rechtsanwalt Kurt Rosenberg überlegte lange, bis er sich 1937 dazu entschloss, sein Heimatland mit seiner Familie zu verlassen. Bis dahin vertraute er die täglichen Schikanen der Nationalsozialisten und seine Zukunftssorgen seinem Tagebuch an.

Von Volker Ullrich | 08.10.2012
    Wer aber einmal bemüht sein will, uns in dieser Zeit nachzuleben – und dieses Tagebuch schreibe ich ja meinen eigenen Kindern – , der muss wissen, dass uns nichts so sehr bedrückt wie die stete Sorge um den morgigen Tag, um neue Maßnahmen und Gesetze, die immer tiefer in den Gang unseres Lebens eingreifen und immer wieder die Frage wachrufen, ob nicht die Stunde naht, in der wir dieses Land, das wir alleine und immer als Heimat empfinden müssen, verlassen werden.

    Das notierte der jüdische Hamburger Rechtsanwalt Kurt Rosenberg im August 1936 – zwei Jahre, bevor er sich endgültig dazu entschloss, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in die Vereinigten Staaten auszuwandern. In seinem Gepäck befand sich auch das Tagebuch, das er von 1933 bis 1937 geführt hatte.

    Es war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern sollte für seine Nachkommen festhalten, was er in den ersten fünf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft erlebt und durchlitten hatte. Nach seinem Tode übergaben die Töchter das Konvolut an das Archiv des Leo Baeck Instituts in New York.

    Dass das Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden die Aufzeichnungen nun in einer von Beate Meyer und Björn Siegel sorgfältig betreuten Edition herausgebracht hat, ist kaum hoch genug zu preisen. Denn damit liegt – nach den Tagebüchern des Dresdner Romanisten Victor Klemperer und des Breslauer Studienrats Willy Cohn – ein drittes Zeugnis von ungewöhnlichem Rang vor. Denn ebenso wie die beiden letzt genannten war auch Kurt Rosenberg gebildet, kulturell vielseitig interessiert und zudem sprachgewandt.

    Der 1900 geborene Sohn eines Kaufmanns war im großbürgerlichen Hamburger Stadtteil Eppendorf aufgewachsen, hatte nach dem Abitur Jura studiert und sich als Rechtsanwalt niedergelassen. Als Mitbegründer einer florierenden Kanzlei und Syndikus der Vereinigung der Getreide-Importeure war er ein geachtetes Mitglied der Hamburger Gesellschaft. Das Tagebuch belegt, wie dramatisch sich auch in der vermeintlich liberalen Hansestadt das Leben für die Juden schon wenige Wochen nach Hitlers Machtantritt veränderte.

    Warum macht man uns zu Parias?

    fragt er Ende März 1933. Über den Unrechtscharakter des neuen Regimes macht sich Rosenberg von Anfang an keine Illusionen; was ihn allerdings erschüttert, ist, dass sich dagegen kaum Protest oder Widerstand in der Bevölkerung regt.

    Viele einsichtige Leute missbilligen die Vorgänge, aber keiner findet den Mut, dagegen aufzustehen.

    schreibt er nach dem ersten reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte- und Anwaltspraxen am 1. April 1933. Ende April wird ihm die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft entzogen, kurz darauf verliert er auch seinen Posten als Syndikus bei der Vereinigung der Getreide-Importeure. Seine berufliche Existenz ist vernichtet. Zwar erfährt er manche Bekundungen der Solidarität, doch die meisten seiner Mandanten wenden sich von ihm ab. Zunehmend sieht sich die Familie in die gesellschaftliche Isolation gedrängt:

    Ist das das Volk der Dichter und Denker? Wir waren stolz, ihm anzugehören, ihm unsere Kraft zu schenken und unseren besten Willen.

    Hier klingt das Leitmotiv des Tagebuchs an. Als Bildungsbürger fühlt sich Kurt Rosenberg tief in der deutschen Kultur verwurzelt. Deshalb empfindet er die Exzesse des Regimes gegen Recht und Menschenwürde nicht nur als Angriff auf seine Identität als Jude, sondern auch als Deutscher.

    Ich leide ebenso sehr als Deutscher wie als Jude.

    lautet die wiederkehrende Klage. Erbittert registriert Rosenberg den alltäglichen Kleinkrieg gegen die Juden, die Flut immer neuer Verordnungen und Schikanen, die ihren Lebenskreis mehr und mehr einengen. Und er beschreibt, wie sich der ständige Druck der Diskriminierung und Entrechtung auf seine Leidensgenossen und ihn selbst auswirkt:

    Alle Tage sind voll unendlicher Spannung und Bedrücktheit zugleich ... Hangen und Bangen ohne Ende.

    Bereits im Frühjahr 1933 hat sich Rosenberg mit dem Gedanken an Emigration vertraut gemacht. Doch immer wieder zögert er die Entscheidung hinaus. Nicht nur die intensive Bindung an die deutsche Kultur macht ihm die Trennung so schwer. Ihn schreckt auch die Aussicht, dass er bei einer Auswanderung den größten Teil seines Vermögens verlieren und der Rest nicht mehr ausreichen wird, eine neue Existenz aufzubauen. Im Oktober 1937 aber reist er auf Einladung entfernter Verwandter für zwei Monate in die USA, um die beruflichen Möglichkeiten für sich zu sondieren.

    Nichts lockt mich hinüber – und dennoch ist es das Problem eiserner Notwendigkeit.

    Im September 1938 gelingt der Familie die Ausreise – nur wenige Wochen vor der Pogromnacht vom 8. auf den 9. November. Mit dem Entschluss zur Emigration bricht das Tagebuch abrupt ab.

    Wie beschwerlich der berufliche Neuanfang und das sich einleben in der neuen Heimat war, das erfahren wir also nicht mehr aus dem Munde Rosenbergs, sondern aus den biografischen Anmerkungen, welche die Herausgeber der Edition vorangestellt haben.

    Mit der Veröffentlichung dieses eindrucksvollen Tagebuchwerks haben sie dem Hamburger Anwalt ein Denkmal gesetzt – als dem neben Victor Klemperer und Willy Cohn wohl wichtigsten Chronisten des Schicksals jüdischer Deutscher in Zeiten der finstersten Barbarei. Wie kaum ein anderes Zeugnis geben die Aufzeichnungen Rosenbergs Einblick in die zerrissene Gefühlswelt und die seelische Not der in der Nazi-Zeit verfolgten jüdischen Minderheit.

    Und noch ein zweites macht den besonderen Wert dieser Edition aus. Rosenberg war ein passionierter Zeitungsleser. Wie der deutsche Justizinspektor Friedrich Kellner, dessen aufsehenerregende Tagebücher aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs im vergangenen Jahr ebenfalls im Wallstein Verlag erschienen sind, schnitt er Artikel aus und klebte sie in sein Tagebuch, um seine Beobachtungen und Eindrücke zu illustrieren und ihren Wahrheitsgehalt zu unterstreichen. Dabei zog er auch ausländische Zeitungen – vor allem die "Neue Zürcher Zeitung" und die "Times" – heran, um sich ein von den zensierten deutschen Medien unabhängiges Urteil zu verschaffen.

    Der Verlag hat dankenswerterweise keine Kosten gescheut, um die Zeitungsausschnitte originalgetreu zu reproduzieren. Einmal mehr wird deutlich, was jemand, der sich informieren wollte, auch in der gelenkten Öffentlichkeit des NS-Regimes alles in Erfahrung bringen konnte.

    Beate Meyer; Björn Siegel (Hg.): Kurt F. Rosenberg. Einer, der nicht mehr dazugehört. Tagebücher 1933-1937
    Wallstein Verlag
    488 Seiten, 42 Euro
    ISBN: 978-3-835-31114-5