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Ich muss gesund sein

2007, das Jahr der Finanzkrise, erreicht mit 3,2 Prozent ein historisches Tief beim Krankenstand. Mittlerweile ist der Krankenstand wieder leicht gestiegen - der Wirtschaft geht es besser - trotzdem wollten es Soziologen der Universität Frankfurt am Main genau wissen.

Vonn Mirko Smiljanic | 19.05.2011
    Was für eine paradoxe Situation: Die Weltwirtschaft hängt am Tropf, den deutschen Arbeitnehmern geht es so gut wie nie - zumindest gesundheitlich! 2007, als das globale Finanzsystem aus den Fugen geriet, ließen sich gerade mal 3,2 Prozent aller Arbeiter und Angestellten krankschreiben. 1975 waren es knapp sechs Prozent. Aber sind Deutschlands Arbeitnehmer tatsächlich gesünder? Ernähren sich besser? Treiben mehr Sport? Leider nein! Die Statistiken offenbaren ganz andere Zusammenhänge. Etwa die Angst um den Arbeitsplatz: Wer häufig fehlt, fliegt vielleicht bei der nächsten Entlassungswelle raus. Außerdem befindet sich Deutschland im Übergang von einer Produktions- zu einer Dienstleistungsökonomie mit der Folge, dass körperlich schwere Arbeit immer seltener wird. Gesundheitlich riskante Arbeitsplätze - sagt Hermann Kocyba vom Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt am Main - wurden nach Osteuropa und Fernost exportiert, ...

    "... dass wir eben sagen, dass wir einen niedrigen Krankenstand haben, heißt nicht, dass das Arbeiten insgesamt gesünder geworden ist, sondern eher die weniger belastenden Tätigkeiten in Deutschland verblieben sind. "

    Dadurch haben sich die Krankheitsprofile verschoben: Standen vor 40 Jahren die Folgen ungesunder Arbeitsplätze im Vordergrund, leiden Arbeitnehmer heute häufig an psychischen und psychosomatischen Krankheiten: Depressionen, Überforderung, unspezifische Magen- und Darmleiden, Kopf- und Rückenschmerzen.

    "Und es sind allerdings auch Erkrankungen, bei denen die Gefahr besteht, dass die medikamentös unterdrückt werden, also Anzeichen von Depressionen oder Schmerzustände, dass das durch einen gesteigerten Arzneimittelkonsum einen Deckel drauf bekommt. Und das geht aber nur eine bestimmte Zeit und dann treten möglicherweise gravierendere Phänomene auf."

    Der Einzelne kann einfacher als früher erste Symptome seiner Krankheit beeinflussen! Soziologisch gesehen sei die Arbeitsunfähigkeit ohnehin ein "Aushandlungsergebnis": Der Arbeitnehmer selbst "muss zwischen seinen Arbeits- und Gesundheitsinteressen abwägen". Und da spielen seit einigen Jahren die Arbeitsinteressen eine immer wichtigere Rolle - sagt Stephan Voswinkel vom Institut für Sozialforschung.

    "Da kann man schon diskutieren, ob man mit einem gebrochenen linken Arm nun arbeiten kann als geistig Arbeitender, für körperlich Arbeitende war das klar, dass man das nicht konnte, insofern ist die Grauzone, wann ist man wirklich arbeitsunfähig, eine andere geworden und von daher ist auch die Grenze schwerer zu bestimmen, wann man arbeitsunfähig ist."

    In gewisser Weise zeigt sich hier die Kehrseite der "Humanisierung des Arbeitsplatzes". Gut gemeinte Prinzipien wie Selbstorganisation, Ergebnisverantwortung und Zielvereinbarungen führen dazu, ...

    "...dass wir es vermehrt mit Teamarbeit zu tun haben, mit sehr stark termingebundenen Arbeiten, die beim Kunden stattfinden, wo Sie erfahren, dass Ihre Krankheit negative Folgen hat für das Verhältnis zum Kunden und für die Fertigstellung des Produktes und ähnliches mehr."

    Unter dem Gruppendruck überlegt sich mancher Arbeitnehmer genau, ob er zum Arzt geht. Genau hier beginnt das Phänomen der "Krankheitsverleugnung", das die Frankfurter Soziologen in vier Varianten einteilen: Die Krankheit wird entweder verschwiegen, sie wird ignoriert, die Symptome werden eingeengt oder aber der Kranke will einfach nicht wissen, dass er krank ist - er fühlt sich unersetzlich. Dies führt dazu, dass immer mehr Menschen ...

    "...krank zur Arbeit gehen, dann einerseits die volle Leistung nicht bringen können, dann die Gesundheit der Kollegen gefährden, der Kunden und möglicherweise noch Qualitätseinbußen zur Folge haben."

    Kranke Arbeitnehmer leisten weniger, infizieren gesunde Mitarbeiter und verbreiten ganz einfach eine schlecht Atmosphäre: Wer möchte schon neben einem ständig schniefenden Kollegen sitzen? Amerikanische Arbeitssoziologen diskutieren die Folgen dieses Phänomens unter dem Begriff "Präsentismus": Ein niedriger Krankenstand ist keineswegs immer sinnvoll, ...

    "...weil natürlich ein gesunkener Krankenstand, also niedrige Fehlzeiten, genau das zum Ausdruck bringen können, was problematisch ist, nämlich was wir als Präsentismus oder Krankheitsverleugnung bezeichnen, aber die Fixierung auf die Kennziffern ist noch sehr stark und verhindert ein rechtzeitiges Hinschauen darauf, dass Vorgesetzte auch mal sagen, Du bleibst jetzt mal besser zu Hause, weil Du siehst mir nicht gesund aus. "

    Arbeitnehmer können auf dieser Situation in zweierlei Weisen reagieren: Sie ignorieren den Gruppendruck und kurieren sich aus - was bestimmt nicht immer einfach ist und voraussetzt, sich auch mal mit den Folgen des Leistungsprinzips auseinanderzusetzen. Oder dieses Thema wird Teil tariflicher Auseinandersetzungen mit dem Ziel, dass Arbeitgeber ...

    "..diese Faktoren minimieren, dass Mitarbeiter freiwillig zur Arbeit gehen, also mit dem Termindruck, mit der knappen Personaldecke, die ein wichtiger Faktor ist, wenn man ausfällt, dass man keine Vertretung hat, kein Ersatz ist da, dass diese Arbeitsprozesse soweit das möglich ist, etwas entzerrt werden, aus diesem Druck herausgenommen werden, und da ist sicher die Frage der Personaldecke ein ganz wichtiger Gesichtspunkt."

    Bei rund 3,5 Prozent liegt der aktuelle Krankstand. Ihn entscheidend zu senken, ist weder möglich noch sinnvoll. Die Maßnahmen wären vor allem eines: teuer!

    "Man könnte fast vermuten, dass jedes weitere Zehntel Prozent exponentiell teurer wird, und dass es eine dumme Milchmädchenrechnung ist, wenn man meint, wir müssen das möglichst nahe an Null herunter fahren. Die Zeiten, wo man mit relativ einfachen Maßnahmen relativ große Sprünge im Bereich des Krankenstandes erreichen konnte, die sind seit einigen Jahrzehnten vorbei!"