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"Ich muss noch Hausaufgabe"

Warum sprechen wir so, wie wir sprechen? Und welche Rolle spielen dabei Kultur und Gesellschaft? Das war das Thema einer Tagung, in der es darum ging, wie sich die Sprache in unterschiedlichen Kontexten verändert.

Von Peter Leusch | 13.09.2012
    "Ich stehe direkt mit der Kamera im Feld und nehme die Interaktionen auf, die tatsächlich von den Personen an der Werkbank, in Prüfungsgesprächen, bei Instruktionen usw. geführt werden, das heißt, ich möchte sehen, wie wird tatsächlich am Arbeitsplatz gesprochen, und erhebe genau diese Daten."

    Die Sprachwissenschaftlerin Nikolina Pusticki von der Universität Mannheim treibt linguistische Feldforschung. Für ihre Doktorarbeit untersucht sie die Kommunikation Jugendlicher mit russischsprachigem Migrationshintergrund, die bei einem Maschinenhersteller in der technischen Berufsausbildung sind. Ihre Zielgruppe sind Jugendliche, die in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurden, aber in Deutschland zur Schule gegangen sind, meist Kinder von Spätaussiedern.
    Wo und wie taucht Russisch in ihrer Kommunikation am Ausbildungsplatz auf? Welche sprachlichen Phänomene sind es? Und welche Rolle spielen sie für die Identität des Einzelnen oder der Gruppe? Mit solchen Leitfragen startete die empirische Untersuchung der Wissenschaftlerin - und lief ins Leere:

    "Was sehr erstaunlich ist: In meinem Korpus spielt das Russische am Arbeitsplatz keinerlei Rolle, denn - ich erkläre es mir so – Jugendliche haben mehrere Möglichkeiten, ihre Mehrsprachigkeit einzubeziehen, das heißt, in sozialen Kontexten wie beispielsweise Familie oder Peergroup kann natürlich das Russische eine Rolle spielen, aber am Arbeitsplatz hat sich das nicht herausgestellt, sodass es weder für die Beteiligten mit Migrationshintergrund noch für die ohne Migrationshintergrund eine Rolle spielt, wo die Person herkommt."

    Die durchkreuzte Erwartung liefert gleichwohl eine einfache Erkenntnis: Migrationshintergrund ist ein weites Spektrum und führt nicht notwendig zu sprachlichen Besonderheiten oder Auffälligkeiten am Arbeitsplatz.
    Ibrahim Cindark von der Universität Mannheim forscht ebenfalls im Bereich der Migrationslinguistik, aber zu anderen Gruppen:

    "Wir haben deutsch-türkische Jugendliche und junge Erwachsene untersucht, drei Gruppen, eine Gruppe von jungen Mädchen und jungen Frauen, die sich "Türkische Powergirls" nennen, dann zwei Gruppen, die etwas älter sind, Akademiker, das heißt zum Zeitpunkt der Aufnahme in der Regel Studenten. Und die Orientierungen der beiden Gruppen sind ganz unterschiedlich, die einen definieren sich als Türken in Europa, "Europatürken", und die anderen, die sich "die Unmündigen" nennen, definieren sich als Migranten in Deutschland und lehnen ethnische Kategorien ab, also Zuschreibungen wie kurdischer Herkunft, türkischer Herkunft werden abgelehnt."

    Ibrahim Cindark stößt auf Phänomene wie das sogenannte Code-Switching, dass Personen in der Kommunikation zwischen den Sprachen hin- und herschalten. Oder sogar Deutsch und Türkisch direkt vermischen, indem man der einen Sprache die Vokabel und der anderen die Grammatik entlehnt. Ein solches Code-Mixing hat Ibrahim Cindark bei den türkischen Powergirls wahrgenommen:

    "Zum Beispiel jetzt im Deutschen ein Verb im Infinitiv zu nehmen, beispielsweise ‚feiern', und dann mit dem türkischen tun-Verb in flektierter Form zu integrieren, das heißt zum Beispiel, wenn Sie in der Mix-Sprache ‚ich habe gefeiert‘ sagen wollen, heißt es mit der türkischen Matrixsprache dann ‚feiern yaptim‘, ‚feiern‘ ist im Infinitiv, ‚yaptim‘ ist dann flektiert erste Person Präsens, das ist ganz populär, und das ist auch beobachtet worden in Norwegen oder in Holland genauso, da gibt es gute Arbeiten zu."

    Ein solcher Sprachenmisch kann Ausdruck grammatischer Unsicherheit sein. Aber Code-Mixing kann auch bewusst in Situationen mit bestimmten Gesprächspartnern eingesetzt werden, etwa um sich vertrauter zu fühlen. So hat Ibrahim Cindark bei den Power Girls von denselben Jugendlichen zu anderer Zeit ein reindeutsches "Ich habe gefeiert" gehört. Und die beiden türkischstämmigen Akademikergruppen haben erfolgreich an deutschen Hochschulen studiert, während sie privat Code-Switching pflegten.

    Auch im Kontext der neuen Medien, bei SMS, E-Mail und im Internet überhaupt, unterscheidet sich der Sprachgebrauch vom Standard der Schriftsprache. Georg Albert von der Universität Landau hat dazu eine Studie vorgestellt.

    "Ich habe Beispiele untersucht aus einem Chat-Korpus, dabei ging es mir vor allem um den Sprachgebrauch mit modalen Verben, bei denen der Infinitiv fehlt, zum Beispiel "Dürfen Sie noch TV?", "Hausaufgabe muss ich noch", "Sie kann Königin" - das habe ich in Pressetexten gefunden. Ich habe das verglichen mit der Entwicklung dieser Modalverben in der Geschichte der deutschen Sprache, und auch im kindlichen Spracherwerb und mit dem normalen Gebrauch in der gesprochenen Sprache. Und wenn man es damit vergleicht, sieht man, dass es eigentlich häufig gebrauchte übliche Syntagmen sind."

    In der Öffentlichkeit gelten verkürzte Sätze, wie sie im Chat, in SMS und E-Mails auftauchen, als defizitär und fehlerhaft, als minderwertige Sprache. Eltern sorgen sich, dass ihre Kinder, wenn sie viel im Internet kommunizieren, in der Schule nicht mehr richtig schreiben können und überhaupt Probleme bekommen. Georg Albert teilt diese Sorge nicht:

    "Wenn man den Gebrauch vergleicht in verschiedenen Situationen, eben auch in den verschiedenen Medien – geschrieben, gesprochen -, dann merkt man, dass die Akteure, die Sprecher oder Schreiber je nachdem, sehr wohl unterscheiden können und Sprache angemessen gebrauchen. Und dass das auch jeweils unterschiedliche Funktionen hat, dass da nicht einfach etwas fehlt."

    Offensichtlich verändern die technischen Medien den Sprachgebrauch, indem sie strengen Schriftstandard und mündlichen Ausdruck, der immer schon freier war, in neuartiger Weise mischen. Hinzu kommt noch, dass im Schriftbild zwischen den gewohnten Buchstabenfolgen neue Zeichen auftauchen wie die so genannten Emoticons. Indem sie ein lachendes oder verärgertes Gesicht andeuten, wollen sie Mimik und Gestik in die körperlose Kommunikation der Medien einbringen. Aber die Emoticons übertragen nicht nur Emotionen, hat die Sprachwissenschaftlerin Monika Braun von der Universität Mannheim herausgefunden.

    "Emoticons sind nicht nur zur Mimik- und Gestikdarstellung da, sondern generieren einzelne Sprechergruppen: Es gab die Gruppe der Chat-User, die hauptsächlich Rap gehört haben, die hatten ein Emoticon, das immer hinter der Angabe, welchen Titel sie gerade im Hintergrund hören, gesetzt wurde, das war stilisiert ein Gesicht mit Kopfhörern auf. In dem gleichen Chat-Korpus waren aber auch diejenigen, die ihre Rockmusik gehört haben, da wurde nur aufgeschrieben, welche Titel gerade gehört wurden, und das Emoticon war weggelassen."

    Sprache dient auch dazu, die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder zu einer Generation auszudrücken. Das war immer schon eine zentrale Funktion der Jugendsprache. Sie zeigt sich vor allem im Wortschatz, in speziellen Wörtern, die für eine bestimmte Altersgruppe oder für einen Lebensbereich charakteristisch sind, so die Mannheimer Linguistin und Leiterin der Tagung, Beate Henn-Memmesheimer:

    "Wir haben eine Untersuchung gemacht zu dissen, das scheint sich auch zu etablieren, wenn Kinder sich auf dem Schulhof streiten, dann würde man eher sagen, die dissen sich, und nicht unbedingt sie ärgern sich, weil ärgern in einem anderen Kontext kommt, man würde auch nicht sagen, die mobben sich, mobben gehört zu dem Sprachgebrauch der Angestellten, unter Schülern kam im Kontext des Rap das Wort dissen auf, und dissen hat sich etabliert als eine Form des sich Ärgerns. "

    Das neudeutsche dissen kommt aus dem amerikanischen Slang – geht zurück auf to disrespect oder to discriminate, also jemanden diskriminieren oder schlecht machen.
    Die Globalisierung mit ihren Anglizismen, die moderne Migration mit ihren bilingualen Sprechern und nicht zuletzt die neuen Medien verändern die Sprache, Deutsch ebenso wie andere Sprachen.

    Die Sprachwissenschaftler diagnostizieren ein weites Spektrum von Kontexten und Situationen, in denen unterschiedlich geredet oder geschrieben wird. Das alte Ideal des Schriftstandards, eine einzige, immer und überall gültige Norm, haben sie verabschiedet. Durch die Hintertür freilich betritt ein neues Ideal die Bühne: Es ist der kompetente Sprecher, der souverän über die Sprache verfügt und sie je nach Situation und Kontext unterschiedlich modelliert. Beate Henn:

    "Damit zeigt man eben genau, welche Stillage man jetzt ansprechen will – also die flexiblen Sprecher, die erkennt man. Es ist nicht so, dass man sagen kann, das Deutsche ändert sich an dieser Stelle, sondern es differenziert sich aus - das ist ein ganz reflektierter Sprachgebrauch."

    Der souveräne Sprecher freilich braucht eine hohe Kompetenz für seinen Umgang mit Sprache, eine große Sicherheit, die im klassischen Schriftdeutsch fundiert ist.
    Denn Sprache ist wichtiger denn je. Sie ist das soziale Band schlechthin, sie stiftet Beziehungen und formt unser Welt- und Selbstverständnis mit ihren Begriffen und Bildern, oft auch hinter unserem Rücken. Auf der Tagung hat die Linguistin Eva Gredel das Bild Angela Merkels in den Medien analysiert, um aufzuzeigen, wie die Rolle der Frau als Politikerin dargestellt und bewertet wird.

    "Ich habe hier drei sprachliche Muster untersucht, zunächst das aus den neunziger Jahren bekannte sprachliche Muster Kohls Mädchen, dann das sprachliche Muster Mutti Merkel und das dritte sprachliche Muster, das ich untersucht habe, war Königin der Macht, und hier ging es darum zu erfahren, ob es sich tatsächlich um ein aufgewertetes sprachliches Bild handelt. Und hier war aber erstaunlich zu sehen, dass die Belege eher Bereiche des Essens oder des häuslichen Bereichs ansprechen, es gab einen Beleg die Königin der Kohlrouladen mit Bezug auf Merkels Besuch der Grünen Woche."

    Verpackt in Ironie und Wortspiele wird die mächtigste Frau Deutschlands doch wieder in die Küche zurückbefördert und aufs mütterliche Gefühl reduziert. Die Diskriminierung der Frau ist nicht vorbei, nur sprachlich subtiler geworden. Wie steht es um das Bild des Mannes als Politiker?

    "Also mit dem sprachlichen Muster von Kohls Mädchen geht natürlich auch das Muster von Helmut Kohl als Vater einher, ein sprachliches Muster, was noch aus den neunziger Jahren bekannt ist, aber hier steht die empirisch fundierte Auswertung sprachlicher Bilder in Bezug auf Männer aus, das wäre sicherlich noch ein Thema, das man aufgreifen könnte in weiteren Forschungsprojekten."