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"Ich sehe überall nur Unendlichkeiten"

Erst nach dem Tode Blaise Pascals wurde das Konvolut von etwa 1000 Blättern gefunden, das als "Pensées" berühmt wurde. Zum 350. Todestag des Autors hat der Philosoph Eduard Zwierlein eine neue Anordnung dieses Werks vorgelegt. Er bezeichnet sie als "Editionsrätsel aus tausend Notizzetteln".

Von Astrid Nettling | 13.08.2012
    Mit unzähligen Sinnbildern ist der Mensch im Laufe seiner Geschichte bedacht worden – das poetischste von allen hat Pascal geprägt: "Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr" – "un roseau pensant". Pascal hatte es als Gegenbild entworfen zum "Ich denke, also bin ich", mit dem René Descartes, der um eine Generation ältere Zeitgenosse, das rationale Denkvermögen des Menschen zum unerschütterlichen Fundament der Philosophie erklärt hatte. Doch wo Descartes stabile Denkgründe sieht, da tun sich für Pascal existentielle Abgründe auf.

    "Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, und auch nicht, was die Welt und ich selbst sind. Ich weiß nicht, was mein Körper, meine Sinne, meine Seele und selbst jener Teil meines Ichs sind, der denkt. Ich sehe überall nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und wie einen Schatten einschließen. Alles, was ich erkenne, ist, daß ich bald sterben muß; doch was ich am wenigsten begreife, ist gerade dieser Tod, dem ich nicht entgehen kann."

    1656 hatte Pascal mit seinen Aufzeichnungen begonnen, doch erst nach seinem Tod, 1662, werden sie gefunden. Ein Konvolut von circa 1000 Blättern, grob geordnet und in etwa 60 verschnürte Stapel aufgeteilt. Acht Jahre nach seinem Tod wird das Material von seinen Herausgebern als "Gedanken des Herrn Pascal über die Religion und einige andere Themen" veröffentlicht, berühmt werden sie als seine "Pensées".

    "Pascal hat das Werk, das wir als "Pensées" bezeichnen, nicht selbst fertigstellen können. Und auch selbst die Frage, ob wir an den Originalzustand der Manuskriptsituation herankommen können, wie er unmittelbar nach seinem Tod vorlag, ist umstritten. Es handelt sich sozusagen um ein Editionsrätsel aus tausend Notizzetteln."

    Der Philosoph Eduard Zwierlein hat sich erneut dieses Editionsrätsels angenommen und anlässlich des 350. Todestags von Blaise Pascal eine neue Anordnung seiner "Pensées" vorgelegt.

    "Pascal wollte uns keine Fragmente oder Aphorismen hinterlassen, ganz offensichtlich hat er an ein einheitliches Werk gedacht. Ich habe versucht, mich an Pascal zu halten, und in den "Pensées" selbst finden sich auch Gliederungsideen. Daraufhin habe ich 500 Fragmente ausgewählt, die sich vor allen Dingen auf die Frage nach Gott und Mensch, nach Anthropologie und Theologie beziehen und ein sozusagen medizinisches Schema benutzt. Und dieses medizinische Schema kommt meiner Auffassung nach der Gliederungsidee Pascals sehr nahe: Es geht einerseits um die Diagnose, wie ist die Lage des Menschen, dann um die Pathogenese, woher kommen die Probleme in der Lage des Menschen, wie könnte ein Therapieziel aussehen und zum Schluss, wie ist der Therapieweg selbst zu gestalten, wie ist Heilung für die Lage des Menschen denkbar."

    Eine Apologie des Christentums hatte es werden sollen. Doch was im steilen Aufwind des neuzeitlichen Rationalismus nach bloßer Rückwärtsgewandtheit geklungen haben mag, war in Wirklichkeit das Ergebnis sorgsamer Grenzziehung. "Der letzte Schritt der Vernunft ist anzuerkennen, daß es unendlich viele Dinge gibt, die über sie hinausgehen", schreibt Pascal mit Blick auf seine Zeitgenossen – und mehr als einhundert Jahre vor Immanuel Kant. Der Vernunft derart Grenzen zu ziehen, aber heißt zugleich, dem Denken einen Raum für die eigentlich metaphysischen Fragen zu öffnen. Fragen nach Gott, nach dem Woher und Wozu des Menschen, Fragen nach der conditio des "denkenden Schilfrohrs", dessen Seinslage sich durch Abgründigkeit, durch "Schwäche und Ungewißheit" auszeichnet. Damit muss man beginnen – nicht mit dem "Ich denke", sondern mit dieser existentiellen Grundbefindlichkeit des Menschen, nicht mit dem Kopf, sondern der leibseelischen Mitte des Menschen, das heißt mit dem, was Pascal als das 'Herz' bezeichnet hat.

    "Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine, die aus Grundsätzen und Beweisen besteht. Das Herz hat eine andere. Man beweist nicht, daß man geliebt werden muss, durch geordnete Darlegung der Ursachen der Liebe, das würde lächerlich sein."

    Diese "logique du coeur", diese "Ordnung des Herzens", gilt es zu entziffern, wenn man die conditio des Menschen wirklich verstehen will. Denn "das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt." Und diese zeichnen sich nicht durch rationale Gewissheiten aus, sondern durch existentielles Fragen und Suchen. Voller Unruhe ist der Mensch auf der Suche nach Wahrheit und Erfüllung, die er von sich aus jedoch nicht erreichen kann. "Wir sehnen uns nach der Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit. Wir streben nach dem Glück und finden nur Elend und Tod." Dergestalt zwischen "grandeur et misère", zwischen "Größe und Elend", gespannt, ist für Pascal der Mensch eine so große Frage, dass nur ein Gott sie beantworten könnte, und eine so große Suche, dass es ihm trotz Skepsis und Zweifel einen Versuch wert sein sollte, die Existenz eines solchen Gottes ernsthaft in Betracht zu ziehen. Selbst wenn es, so Pascal, "unbegreiflich ist, daß es Gott gibt", aber ebenso ist es "unbegreiflich, daß es ihn nicht gibt". Da man Gott nicht beweisen kann, schlägt er, der Mathematiker und Begründer der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung, seine berühmte "Wette" vor. Ein Wahrscheinlichkeitskalkül über die mögliche Existenz Gottes.

    "Nehmen wir also an: Gott ist, oder er ist nicht. Welcher Seite werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann dabei nichts ermitteln. Ein unendliches Chaos trennt uns davon. Man spielt ein Spiel auf das Ende dieser unendlichen Entfernung hin, wo sich entweder Bild oder Schrift zeigen werden. Mit der Vernunft könnt Ihr nicht das eine und auch nicht das andere bewirken; mit der Vernunft könnt Ihr keins von beiden unwirksam machen. Was werdet Ihr wetten?"

    Denn wetten, das heißt alles auf eine Karte setzen, muss man sowieso. Darin, so Pascal, ist der Mensch nicht frei. "Vous êtes embarqué", ruft er seinen Zeitgenossen zu, "Ihr seid bereits eingeschifft." Schließlich befinden wir uns alle immer schon an Bord des Lebens und wissen, dass, wenn wir von Bord gehen, wir "für immer entweder ins Nichts oder in die Hand eines erzürnten Gottes fallen", ohne wiederum zu wissen, welcher "dieser beiden möglichen Zustände" uns zuteil werden wird. Für Pascal, den überzeugten Christen, war die Wahl klar. "Elend des Menschen ohne Gott" hatte der erste Teil lauten sollen, "Glückseligkeit des Menschen mit Gott" der zweite. Gleichgültig jedoch welche Wahl seine heutigen Leser treffen mögen – eine faszinierende Lektüre sind die "Pensées" stets gewesen und nicht bloß für den philosophischen Kenner. Dieser Lektüregenuss wird nun durch die von Eduard Zwierlein erstellte Neuordnung beträchtlich erhöht. Dank der klugen Auswahl und sinnvollen Reduzierung des Gesamtkonvoluts, aber vor allem dank der sorgsam durchdachten Neugliederung der Pascalschen "Gedanken" fügen sich die einzelnen "Pensées" zu einer einleuchtenden und gut nachvollziehbaren Version seines Gesamtvorhabens – ein entschiedener Vorzug vor den bereits existierenden Pascalausgaben.

    "Das alles in einer leidenschaftlichen und frischen, unverbrauchten, sehr lebendigen Sprache mit höchster Formulierungskunst und atemberaubenden Bildern. Ich denke auch der, der Pascal nicht zustimmen kann, wird durch ihn doch stets bereichert, beschenkt, provoziert und angeregt. Pascal ist ein Klassiker, und wie jeder Klassiker durchkreuzt er unseren Erwartungshorizont, er ist modern und doch schon wieder über alles Moderne hinaus – man muss Pascal einfach lesen."

    Buchinfos:
    Blaise Pascal: Gedanken. Kommentar von Eduard Zwierlein. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 459 Seiten, 18,00 Euro.