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"Ich weiß nicht mehr, was ich lehren soll"

Am 11. März 2011 traf ein Beben der Stärke 9 den Nordteil der japanischen Hauptinsel Honschu. Kurze Zeit später überrollte ein gewaltiger Tsunami die Küste der Region Tohoku. In der Folge gerieten vier Blöcke des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi außer Kontrolle. Das Tohoku-Beben, aber auch das Sumatra-Andamanen-Beben vom 26. Dezember 2004 und das Große Sichuan-Beben vom 12. März 2008 haben eines gemeinsam: Die Gefährdungsberechnungen erwiesen sich als falsch, was kam, war verheerender als angenommen. Deshalb hat die Diskussion über die Aussagekraft dieser Karten an Vehemenz zugenommen. Was gestern galt, gilt heute nicht mehr.

Von Dagmar Röhrlich | 04.03.2012
    "One of the worst earthquake in the Japanese history. It is a 7 on the Japanese seismic scale of 0 to 7…."

    Der Hubschrauber des japanischen Fernsehsenders NHK überfliegt ein Katastrophengebiet.

    "Fire is breaking out as you can see in this live-coverage…"

    Ein Reporter im Hubschrauber beschreibt die Szene unter sich, erzählt von Schiffen, die von der Tsunamiwelle ins Landesinnere gespült werden, von Lastwagen, Trümmern. Dazwischen schwimmen brennende Häuser. Unaufhaltsam dringt die schwarze Flut vor, kreist ein paar Autos ein, deren Fahrer an einer Kreuzung nicht mehr wissen, wohin. Auch sie werden erfasst, mitgerissen.

    "For those of you who just tuned into NHK world: A major earthquake hit Japan about an hour ago."

    11. März 2011. 14.46.23 Uhr Ortszeit. Ein Seebeben. Draußen, vor der Küste von Honshu, reißt die Erde auf, sie bricht auf 500 Kilometern Länge. Das Beben entstand etwa 70 Kilometer vor der Küste von Tohoku, in einer Tiefe von rund 32 Kilometern. Die Stärke wird später mit 9,0 auf der Momentmagnitudenskala angegeben. Ein Megabeben. Seine Dauer: etwa fünf Minuten. Es setzt die Energie von 600 Millionen Hiroshima Bomben frei, versetzt die Erdachse um zehn bis 25 Zentimeter. Das Seebeben löste einen Tsunami aus, der bis zu zehn Kilometer tief ins Landesinnere eindrang und sich in manchen Buchten hochhaushoch auftürmte.

    "Agency has issued a tsunami warning for Japan‘s Pacific coast. Some of it already is hitting areas like this one which you see live."

    Ohne Unterlass berichtet der Fernsehreporter aus dem Helikopter. Der Tsunami hat inzwischen eine Gärtnerei erreicht. Auf dem Flachdach stehen Menschen - hoffen, dass sie der schwarzen Trümmerflut entgehen.

    "Move to higher ground as fast as possible."

    Der Tsunami forderte mehr als 15.000 Todesopfer. Tausende gelten als vermisst. Die Welle zerstörte auch zentrale Systeme des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi. Der Gau begann: Vier Stunden nach Eintreffen des Tsunamis lief die Kernschmelze, dann kam es zu Explosionen.

    "Sofort nach dem Seebeben vom 11. März sind viele japanische Wissenschaftler vor die Fernsehkameras getreten um zu erklären, dass weder Beben, noch Tsunami vorhersehbar gewesen seien. Dass dieser große Tsunami das Kernkraftwerk zerstörte, sei nicht menschliche Nachlässigkeit gewesen, sondern vielmehr so etwas wie das Eingreifen einer höheren Macht."

    Dem widerspreche er vehement, erklärt Robert Geller, Seismologe an der University of Tokyo. Man könne zwar nicht vorhersagen, dass sich morgen früh um 3 Uhr ein großes Beben ereignen werde.

    "Aber aufgrund der Geologiekenntnisse können wir sagen, dass dort, wo es in der Vergangenheit starke Beben gegeben hat, irgendwann in der Zukunft wieder welche auftreten werden. Und wir wissen, dass es in der am 11. März betroffenen Tohoku-Region in den vergangenen 3000 Jahren dreimal ähnliche Ereignisse gegeben hat."

    Trotzdem stand diese Region weder im Fokus der Seismologen, noch der Katastrophenschützer oder Politiker: Die vertrauten ganz ihren Gefährdungskarten, erklärt Robert Geller und zieht so eine Karte aus einem Stapel Papier:

    "Obwohl Sie für das Radio hier sind, möchte ich Ihnen meinen Standpunkt anhand einer Karte deutlich machen."

    Die in rot eingezeichneten Regionen hat die Regierung für gefährlich erklärt. Robert Geller weist auf eine tiefrot gefärbte Zone, die südlich von Tokio dem Küstenverlauf folgt. Es sind die Gebiete Tokai, To-Nankai und Nankai: Sie sind Zonen mit höchstem Risiko, weil dort das ganz große Beben als überfällig gilt. Die Küste von Tohoku hingegen sticht farblich nicht hervor: Man erwartete ein Beben der Stärke 7,5 oder 8 auf der Momentmagnitudenskala - was kam, war eine 9. Die seismische Energie, die dieses Beben abstrahlte, war rund 30 mal höher als das einer Stärke 8 - und etwa 180 mal stärker als bei 7,5.

    "Wenn Ihre Risikokarten Ihnen zeigen, dass bestimmte Orte gefährlich sind und sich die Beben aber anderswo ereignen, stimmt irgendetwas nicht an der Hypothese, die den Karten zugrunde liegt."

    Für Tohoku hatte diese Fehleinschätzung fatale Folgen: Weil das reale Seebeben wesentlich stärker war als prophezeit, war niemand auf den zerstörerischen Tsunami vorbereitet, den es auslöste. Das erwartete Beben mit einer Magnitude um die 8 hätte "nur" einen Tsunami von etwa zehn Metern Höhe auslösen sollen, und auf diese Höhe waren die Deiche ausgerichtet - bis auf den des Kernkraftwerks Fukushima, da hatte man sich mit sechs Metern begnügt. Eine Fehleinschätzung in der Gefährdungskarte zieht andere Fehleinschätzungen nach sich.

    Jahrtausendelang vermuteten die meisten Menschen hinter einem Erdbeben den Zorn der Götter. Dann folgten andere mehr oder weniger exotische Erklärungen, die von unterirdischen Feuerausbrüchen oder elektrische Entladungen bis zum Schrumpfen oder Ausdehnen der Erde reichten. Es war Alfred Wegener, der am 6. Januar 1912 bei der Hauptversammlung der Geologischen Vereinigung in Frankfurt am Main die Richtung wies. Damals trat er als junger Privatdozent für Meteorologie und Geophysik der Universität Marburg unter dem wohlwollenden Applaus der Honoratioren ans Rednerpult. Sie ahnten nicht, was er sagen wollte: dass die Kontinente keineswegs unverrückbar auf der Erdkugel festgewachsen wären, dass sie im Lauf der Erdgeschichte ihre Lage verändert hätten, sich bewegten. Das Publikum empörte sich mit immer lauter werdenden Raunen. Doch Alfred Wegener widersprach unbeirrt der gängigen Lehrmeinung, stellte seine Hypothese von der Kontinentaldrift vor - und legte damit den Grundstein zum Verständnis dessen, was Erdbeben eigentlich sind.

    Da Alfred Wegener nicht ahnen konnte, welche Kraft die Kontinente bewegt, blieb seine Hypothese lange umstritten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollten seine Nachfolger aus der Kontinentaldrift die "Weltformel" der Geowissenschaften entwickeln: die Plattentektonik. Die erklärt, wie das Geschehen im Erdinneren mit dem an der Oberfläche zusammenhängt. Die Plattentektonik ist die Kraft, die Kontinente verschiebt, Meere öffnet oder schließt und Gebirge auftürmt - und ihr Motor ist die enorme Hitze im Erdinneren. Um die abzuführen, entstehen im Erdmantel Konvektionszellen, erklärt der Geophysiker Hans-Peter Bunge von der Ludwig-Maximilians-Universität in München:

    "Strömungen tief in der Erde sind Bereiche, in denen warmes Material tief aus dem Planeten nahe an die Oberfläche gefördert wird, oder eben kälteres Material von der Nähe der Oberfläche dann eben langsam in die Tiefe des Planeten sinkt."

    Die Aufstiegszonen markieren mittelozeanische Rücken, an denen neue Meereskruste entsteht, die die ältere zur Seite schiebt. Jahrmillionen später sinkt die dann alt und schwer gewordene Meereskruste mit dem absinkenden Ast der Strömungszelle wieder ins Erdinnere - und zwar an "Subduktionszonen", an denen eine Erdkrustenplatte unter eine anderen abtaucht. Ihr äußeres Merkmal sind die Tiefseegräben wie der vor der Küste Tohokus oder der vor Tokai, To-Nankai oder Nankai, der von der japanischen Regierung als besonders gefährlich angesehen wird. An Subduktionszonen entstehen die schwersten Beben überhaupt:

    "Die Größe eines Bebens wird zum einen durch die Fläche bestimmt, die während des Ereignisses bricht und zum anderen dadurch, um welchen Betrag die beiden Platten gegeneinander versetzt werden."

    Die Beben der Klasse 9+ können an Subduktionszonen entstehen, weil die Fläche, die dort brechen kann, sehr viel größer ist als an jedem anderen Plattenrand der Erde, erläutert Robert McCaffrey von der Portland State University:

    "Im Erdinneren heizen sich die Gesteine auf, weil es mit zunehmender Tiefe wärmer wird. Oberhalb von 400 Grad Celsius sind sie zu weich und elastisch, um noch zu brechen: Es können keine Erdbeben mehr entstehen. An einem Plattenrand wie der San Andreas-Verwerfung, wo die Pazifische Platte horizontal gegen die Nordamerikanische versetzt wird, steht die Störungsfläche senkrecht. Die kritische Temperatur wird in etwa 20 Kilometern Tiefe überschritten. Bräche die San Andreas-Verwerfung über ihre gesamte Länge, wäre ein Beben der Stärke um die 8 möglich. Bei den flach ins Erdinnere hinein einfallenden Subduktionszonen werden die 400 Grad Celsius erst in 30, 40, 50 Kilometern Tiefe erreicht, und deshalb ist die potentielle Bruchfläche riesig."

    Gleichzeitig seien diese Subduktionszonen eben auch Tausende von Kilometern lang, fügt Anke Friedrich von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hinzu. Damit seien sie sehr viel länger als Verwerfungszonen innerhalb eines Kontinents:

    "Dort sind einzelne Krustensegmente oder Störungssegmente im Bereich von 50 bis 100 Kilometern. Manchmal sind Segmente miteinander verbunden und können mehrere hundert Kilometer lang sein. Aber es scheint sehr selten zu passieren, dass eine Störungszone im Kontinent über Bereiche bricht, die länger als 100 Kilometer sind. Und damit ist die Magnitude begrenzt."

    Das bedeutet: Megabeben können nur an Subduktionszonen entstehen. Anfang der 1970er-Jahre setzte sich in den Geowissenschaften die Theorie der Plattentektonik durch. Zunächst fegte sie in Nordamerika überkommene Ideen hinweg. Ein paar Jahre später dann in Europa: Geologen und Geophysiker krempelten ihre Vorstellungen um, veränderten die Definition alter Fachtermini, warfen andere über Bord oder prägten neue Begriffe. Mit ihrer "Weltformel" im Kopf bemühten und bemühen sie sich, für einzelne Regionen der Erde die Bebengefahr abzuschätzen. Einer der Schwerpunkte sind die Beben, die an großen Störungszonen innerhalb der Kontinente entstehen. Ein anderer sind die Megabeben der Subduktionszonen. Allerdings schienen die damals erst einmal "Pause" zu machen, nachdem sie in den 1950er und frühen 1960er Jahren sozusagen in Serie aufgetreten waren. Dann blieben die ganz großen Beben aus.

    "Das Erdbeben von 2004 war das erste Megabeben seit 40 Jahren. Seit 1964 haben wir kein Erdbeben von vergleichbarer Größe mehr erlebt."

    Und so war das Sumatra-Andamanen-Seebeben an Weihnachten 2004 mit Hunderttausenden Toten an indonesischen, thailändischen, indischen und afrikanischen Küsten für die Seismologen eine Quelle überraschender Einsichten, erinnert sich Emile Okal von der Northwestern University:

    "In diesen 40 Jahren ohne Beben der Magnitude 9 war die plattentektonische Revolution bestätigt worden, und die seismologischen Methoden hatten durch die Digitalisierung einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht. Deshalb war eine der Erkenntnisse, die später durch das von Tohoku bestätigt wurde, dass diese sehr großen Erdbeben an von uns unerwarteten Orten entstehen."

    Denn den Modellen und Lehrbüchern zufolge hätte es weder das Sumatra-Andamanen-Seebeben, noch das von Tohoku geben dürfen - und damit auch nicht die zerstörerischen Tsunamis, die sie ausgelöst haben. Okal:

    "Einige Theorien behaupteten, das an einer Subduktionszone größtmögliche Erdbeben vorhersagen zu können - und zwar aufgrund einfacher geologischer oder tektonischer Parameter wie dem Alter und der Temperatur der Erdkrustenplatte, die an der Subduktionszone absinkt oder der Geschwindigkeit, mit der die Platten kollidieren."

    Nur geologisch gesehen junge und warme Ozeankruste sollte Megabeben auslösen, während die alte, kalte und schwere Kruste vergleichsweise widerstandslos in den Erdmantel "gleiten" und nur kleinere Beben auslösen sollte. Aber die Meereskruste an der Subduktionszone, an der sich das Sumatra-Andamanen-Seebeben ereignete, war alt - und das Beben derzeit das drittstärkste seit Beginn der modernen Messungen. Deshalb fragte sich der Geophysiker Robert McCaffrey, ob die Modelle wirklich die Gefahr wiedergeben, die von einer Subduktionszone ausgeht. Seine Antwort: Nein!

    "Der Grund ist, dass an einer Subduktionszone zwischen zwei Megabeben mehrere hundert Jahre vergehen, die Instrumentenaufzeichnungen aber nur 100 Jahre zurückreichen. Die Beobachtungsfrist ist zu kurz. Meinen Simulationen zufolge wären in dieser Zeit fünf oder sechs Megabeben zu erwarten gewesen - und genau die sehen wir. Wenn es an einer Subduktionszone im Lauf von 100 Jahren keine Megabeben gegeben hat, heißt das nicht, dass sie dort nicht möglich sind, sondern nur, dass wir nicht lange genug gewartet haben."

    Robert McCaffrey warnt ausdrücklich davor, eine Zone für weniger gefährlich als eine andere zu halten, Gefährdungskarten darauf abzustimmen und weitreichende Folgerungen zu ziehen, die sich in Risikobewertung und Katastrophenvorbereitung niederschlagen. Auch Seth Stein von der Northwestern University rät zur Vorsicht:

    "Die japanische Gefährdungskarte war sehr detailliert, aber die Erde fühlte sich nicht dazu verpflichtet, ihr zu folgen: Wir Menschen machen Gefährdungskarten, und sie sehen sehr gut aus mit ihren leuchtenden Farben, aber das bedeutet nicht, dass die Erde sich auch so verhalten wird. Im Fall von Tohoku hat sie es nicht getan."

    Es geschah im Winter 1811/1812. Drei schwere Erdbeben schütterten den damals dünn besiedelten Mittleren Westen der USA. Die Beben ereigneten sich alle entlang einer Störungszone um den 3500-Seelen-Ort New Madrid am Ufer des Mississippi. Das erste weckte die Menschen am 16. Dezember 1811, mitten in der Nacht. Ein donnernder Knall, die Häuser schienen zu tanzen. Dieses erste Beben und seine direkten Nachbeben forderten wenige Opfer. Danach kam die Erde nicht zur Ruhe: Hunderte von Nachbeben erschütterten die Region, bis am 23. Januar und am 7. Februar 1812 zwei weitere starke Beben folgten. Das letzte Beben zerstörte New Madrid. Da die Verwerfung direkt unter dem Mississippi verläuft, warf es am Flussgrund einen Damm auf: Durch das Hindernis floss der Mississippi an der Oberfläche rückwärts, bis er es wieder abgetragen hatte. Stein:

    "Die Beben hatten wahrscheinlich eine Magnitude von 7. Um diese New Madrid-Beben haben sich viele Mythen gebildet. Es stimmt einfach nicht, dass das Beben im 1500 Kilometer entfernten Boston die Kirchenglocken zum Läuten gebracht hat. Die Schäden waren recht gering, auch in St. Louis, Louisville und Nashville. Es waren starke, beeindruckende Beben, aber viel kleiner und weniger zerstörerisch als angenommen."

    Damals war die Region sozusagen der Vorposten der Zivilisation und dünn besiedelt. Heute leben dort viele Millionen Menschen. Deshalb bildet die Verwerfungszone von New Madrid auf den Gefährdungskarten der USA eine Art tiefrotes Stierauge: Für die US-Regierung ist sie mindestens so gefährlich wie die San-Andreas-Verwerfung. Allerdings liegt die New-Madrid-Zone geologisch betrachtet in einem vollkommen anderen Umfeld als die San-Andreas-Störung: Während die eine Plattengrenze bezeichnet, liegt New Madrid mitten im Kontinent, weit von jeder Grenze entfernt. Anke Friedrich von der Ludwig-Maximilians-Universität in München:

    "Die Verwerfungszonen an sich unterscheiden sich eigentlich nicht viel, der Unterschied liegt in der Art der Beanspruchung. Dass heißt an den Plattengrenzen haben Sie natürlich eine viel höhere Beanspruchung durch Verformung, die ist wesentlich höher. Und wenn man mit größerer Kraft an einem Material zieht, das an sich gleich geartet ist, wird es natürlich wesentlich öfter an den Stellen brechen, die der höheren Spannung ausgesetzt sind. Deswegen kommt es eben wesentlich häufiger an den Plattengrenzen zu diesen Erdbeben."

    Hinter den Beben innerhalb der Kontinente stehen Spannungen, die sich von den Plattenrändern auf den gesamten starren Plattenkörper übertragen. Meist reaktivieren sie uralte Schwächezonen, die sich in der viele hundert Millionen oder manchmal sogar Milliarden Jahre alten Kontinentalkruste erhalten haben. Diese Zonen sind "ererbt", stammen von früheren Plattenkollisionen oder gescheiterten Versuchen, Kontinente zu zerbrechen oder, oder, oder… In einem solchen Umfeld Gefährdungskarten zu erstellen, ist extrem schwierig. Das Problem, so Friedrich:

    "Ich versuche das mein Studenten immer so zu erklären, dass diese Gefährdungskarten, die wir heute erstellen, so ein bisschen sind wie eine Fliegenklatsche. Da sind wir immer einen Schritt hinterher, die Fliege zu erwischen. Und da nützt es nichts, wenn wir immer wieder an der gleichen Stelle schauen."

    Denn wie wahrscheinlich sei es, dass die Fliege genau dort wieder vorbeifliege? Friedrich:

    "Deswegen, wenn wir das auf die Erdbeben übertragen, wäre das so, dass wir vielleicht gerade an den Stellen schauen, die noch nicht gebrochen sind, die aber auch solche ähnlichen Störungszonen haben. So dass wir manchmal unter Fachkollegen überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, eventuell die Gefährdungskarten genau umzudrehen. Das heißt, die Bereiche, die jetzt rot sind, da könnte man sagen: Dort ist die Spannung jetzt entwichen, so dass es vielleicht an der benachbarten Störung wesentlich eher zu einem größeren Erdbeben kommen könnte."

    "Davon, was an solchen uralten Störungszonen passiert, die nie so recht verheilt sind, verstehen wir nicht sehr viel","

    erklärt Seth Stein von der Northwestern University,

    ""es gibt aus China eine wunderbare, 2000 Jahre weit zurückreichende Überlieferung von Erdbeben. Aus ihr lässt sich ersehen, dass sich in Nordchina nie zwei Beben der Stärke 7 an ein- und derselben Störung ereignet haben. Vielmehr scheinen diese Beben regelrecht zu 'springen'. Selbst mit dieser langen Zeitreihe lässt sich bei Intraplattenbeben nicht vorhersagen, wo das nächste stattfinden wird."

    So in China, als sich 2008 das Große Sichuan Erdbeben an einem Ort ereignete, dessen Gefährdung als gering galt: 68.000 Menschen starben. Damit, dass alle diese Beben so stark werden, hatte kaum jemand gerechnet. Deshalb haben sie eine Debatte neu angefacht, zu deren zentralen Protagonisten Seth Stein gehört und die sich an dem tiefroten "Stierauge" um New Madrid in der US-Gefährdungskarte entzündete. Stein:

    "Seit etwa 1990 sind sehr präzise GPS-Messungen möglich. Seitdem wird an vielen Störungszonen untersucht, wie sich ihr Untergrund deformiert, wenn er die Energie für ein großes Beben speichert. Als wir diese Untersuchungen für das Zentrum der USA durchführten, also auch für New Madrid, maßen wir überhaupt keine Deformation. Es bauen sich also keine Spannungen auf und folglich auch kein Beben. Damit lösten wir einen großen Streit aus, denn viele Menschen und auch die amerikanische Regierung halten New Madrid für gefährlicher als Kalifornien - und doch sehen wir keine Anzeichen, dass überhaupt etwas passiert."

    Für Seth Stein ist diese berühmt-berüchtigte Störungszone kein isoliertes tektonisches Phänomen, sondern Teil eines sehr viel größeren Systems von Verwerfungen, die miteinander wechselwirken: Im Lauf von Hunderten oder Tausenden von Jahren übertrage sich die Spannung und damit die Bebenaktivität von einer Zone auf eine andere - und wo es vorher gebebt habe, herrsche Ruhe, so Stein. Das macht die Gefahrenabwehr schwierig:

    "Solange wir so wenig verstehen, was bei diesen starken Intraplattenbeben passiert, sollten wir vielleicht nicht alle unsere Zeit darauf verwenden, über das jüngste Ereignis nachzudenken, weil das nicht unbedingt der Ort ist, an dem sich das nächste abspielt."

    Fern der Plattengrenzen im Inneren der Kontinente, sei es vielleicht sinnvoller, landesweit Schulen, Krankenhäuser oder Brücken zu verstärken, als in einer bestimmten Region die Gebäude auf den teuren kalifornischen Standard zu bringen. Denn was wäre, wenn es dann an einer ganz anderen Stelle bebte.

    Zurück zu den Plattengrenzen und den Megabeben an den Subduktionszonen. Bis zum Tohoku-Beben galten Risikokarten in Japan als überzeugend. 1978 hatte das japanische Parlament sogar ein Gesetz verabschiedet, durch das die tiefrot gefärbte Zone von Tokai rund um die Uhr und an jedem Tag der Woche seismisch überwacht wird. So sollen Bebenvorläufer entdeckt werden - möglichst drei Tage vor dem Ereignis. Sobald entsprechende Signale auffallen, müsste ein Gremium von fünf Geophysikern zusammentreten, die Daten prüfen, den Premierminister informieren - und der riefe dann den Notstand aus. Das Gesetz bleibt in Kraft, obwohl Erdbeben nicht vorhersagbar sind. Seth Stein:

    "Die japanische Regierung hat - wie andere Regierungen auch - viel Mühe in die Erstellung einer detaillierten Gefährdungskarte investiert. Sie ließ die verschiedenen bekannten Verwerfungen im Meer und an Land untersuchen und berechnen, wie groß ein Erdbeben an dieser Verwerfung werden könnte und mit welcher Wahrscheinlichkeit es eintritt. Darauf basierten die Anforderungen an Planung und Konstruktion von Gebäuden und Anlagen. Von dieser Karte hingen dann auch andere Dinge ab wie die Tsunami-Vorbereitung."

    Um Gefährdungskarten zu berechnen, nehmen die Modellierer an, dass jedes Gebiet sein charakteristisches Erdbeben besitzt. Robert Geller:

    "Die Idee ist, dass sich Erdbeben wie ein Uhrwerk in mehr oder weniger gleichmäßigen Intervallen wiederholen. Dahinter steckt die Vorstellung, dass sich in einem Gebiet tektonischer Stress aufbaut, der irgendwann ein kritisches Niveau überschreitet. Dann bebt die Erde, und der Zyklus wiederholt sich."

    Aber in den vergangenen Jahrzehnten hätten sich in Japan alle Erdbeben mit mehr als zehn Toten in Regionen ereignet, in denen die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens als gering galt, erklärt Robert Geller von der University of Tokyo. Für ihn ist der Grund des Versagen klar:

    "Die Gefährdungskarten sind falsch, weil die Methoden, mit denen sie errechnet werden, auf inkorrekten Annahmen basieren. Ich sehe das größte Problem in dieser Idee vom Uhrwerk. Wissenschaftler von der University of California in Los Angeles haben die Hypothese, dass sich Erdbeben in regulären Intervallen wiederholen, untersucht und konnten nachweisen, dass man damit nur Zufallstreffer erreicht: Sie liefert keine statistisch relevanten Ergebnisse."

    Außerdem sei da noch diese Lücke zwischen den Beben der 1960er Jahre und denen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so Anke Friedrich von der Ludwig-Maximilians-Universität:

    "Da sind ja Generationen von Nachwuchswissenschaftlern aufgewachsen, und die haben das selber nicht miterlebt. Sie haben aber darüber nachgedacht, die wussten ja, dass größere Beben vorkommen können, die haben Codes entwickelt , nur die konnten die nicht testen."

    Und so haben die Megabeben der vergangenen Jahre viele Seismologen fast schon ratlos gemacht. Zu erklären, warum sich an einer Subduktionszone ein Erdbeben der Stärke 9 und mehr ereignet oder eines der Stärke 7 oder 8, das erscheint heute schwieriger zu sein als je zuvor, urteilt Emile Okal von der Northwestern University:

    "Wir wissen es ehrlich gesagt nicht. Manche Kollegen fragen sich sogar, ob 'Mutter Natur' im Moment des Entstehens eines Erdbebens überhaupt 'weiß', wie weit der Bruch laufen wird. Wird er groß genug für Megabeben, oder bleibt er räumlich eingegrenzt und das Beben kleiner? Falls sich diese Idee als richtig erweist, würden alle Prognosen nichts anderes sein als ein Versuch, klüger zu sein als die Erde selbst. Wenn sie es selbst nicht 'weiß', wie könnten wir Wissenschaftler es vorhersagen?"

    Deshalb seien die Megabeben der vergangenen Jahre eine Lektion in Bescheidenheit gewesen:

    "Diese Ereignisse waren für uns wie kalte Duschen: Sie machten uns klar, dass die Theorien falsch sind, die wir für richtig und hilfreich gehalten haben, um für ein bestimmtes Gebiet die Stärke der großen Beben vorherzusagen. Ich habe ihretwegen meinen Lehrplan angepasst, denn ich habe diese Dinge unterrichtet, und nun weiß ich - ehrlich gesagt - nicht mehr, was ich lehren soll."

    Was in keiner offiziellen Gefährdungskarte steht: Für Fukushima warnen Geophysiker vor einer neuen Erdbebengefahr. Vor Honshu ist die Erde seit dem Beben vom 11. März 2011 nicht zur Ruhe gekommen, und außerdem hat das Megabeben die Verwerfungen auf dem Festland beeinflusst, die Spannungsfelder verändert. In der Umgebung des havarierten Kernkraftwerks verläuft jedoch die aktive Namie-Störung. Nachdem Geophysiker der Tohoku-University Tausende von Nachbeben analysiert haben, kommen sie zu dem Schluss, dass es an der Namie-Verwerfung durchaus ein Beben der Stärke 7 geben könnte. Niemand kann sagen, ob die havarierten Blöcke diese Belastung aushalten: ein starkes Beben in unmittelbarer Nähe. Wenn nicht, könnte die Lage wieder außer Kontrolle geraten. Etwa, wenn das mit Brennelementen vollgeladene Abklingbecken in dem durch eine Explosion zerfetzten Blocks 4 zerstört wird. Schlägt es Leck, läuft das Wasser ab, werden die Brennelemente nicht mehr gekühlt, es kommt zum Zirkoniumbrand und zur Kernschmelze - unter freiem Himmel. Gebannt ist die Gefahr noch lange nicht.