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"Ich werde mich enthalten"

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler rechnet damit, dass Bundeskanzler Schröder bei der Vertrauensfrage das gewünschte Negativvotum bekommen wird. Die große Mehrheit seiner Fraktion werde den Kanzler dadurch unterstützen, dass sie den Weg für Neuwahlen freimache, sagte Stiegler. Dies sei der richtige Schritt, weil ansonsten bis zum regulären Wahl-Termin wegen der Mehrheiten der Union in Bundesrat und Vermittlungsausschuss nur noch CDU-Gesetze zur Abstimmung stünden.

Moderation: Jochen Spengler | 01.07.2005
    Jochen Spengler: Der Kanzler will also heute hinwerfen. Das Volk vertraut ihm nicht - siehe Nordrhein-Westfalen. Die Partei vertraut ihm nicht. Den Vorsitz hat er schon vor einem Jahr an Müntefering abgetreten. Und die Fraktion im Bundestag? Die soll ihm nun auch nicht mehr vertrauen. Das hätte er jedenfalls heute gerne. Am Telefon ist der Vizechef der Fraktion Ludwig Stiegler. Einen schönen guten Morgen!

    Ludwig Stiegler: Einen schönen guten Morgen!

    Spengler: Herr Stiegler, wie stimmen Sie denn ab in wenigen Stunden?

    Stiegler: Ich werde mich enthalten und werde dadurch Gerhard Schröder bei seinem Ziel unterstützen, den Bundestag auflösen zu lassen und Neuwahlen auszuschreiben.

    Spengler: Das heißt Sie werden ihm das Vertrauen eigentlich nicht aussprechen. Dann müssten Sie ja mit Ja stimmen, ja, er hat mein Vertrauen. Können Sie das mal jemandem so erklären, dass man es als normal Sterblicher versteht?

    Stiegler: Der Artikel 68 stellt nicht die Vertrauensfrage, wie man es quasi gemeinhin oder im ersten Wortlaut versteht, sondern er stellt Voraussetzungen auf, unter denen entweder weiterregiert wird oder das Parlament aufgelöst wird. Das Bundesverfassungsgericht hat bei seiner Entscheidung in Sachen Kohl ja zugelassen, dass die Vertrauensfrage auch mit dem Ziel gestellt wird, sie nicht zu gewinnen, um ein weiteres Ziel zu erreichen, nämlich die Parlamentsauflösung und Neuwahlen. Die große Mehrheit von uns wird ihren Spitzenkandidaten Gerhard Schröder für die nächste Bundestagswahl dadurch unterstützen, dass wir den Weg frei machen für Neuwahlen.

    Spengler: Aber warum die Vertrauensfrage? Wieso sucht der Kanzler eine Legitimation? Die hat er doch bis zum nächsten Jahr durch den Wähler im Jahr 2002 bekommen?

    Stiegler: Die politische Lage ist so, dass wir im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat vor eine Situation gestellt sind, in der die Parlamentsmehrheit im Bundestag trotz ihrer Mehrheit praktisch nur noch CDU-Gesetze beschließen könnte. Dafür wollten wir kein Vertrauen. Dafür haben wir kein Vertrauen. Deshalb muss dieses klargestellt werden. Wir haben ja nun diese Blockademehrheit und wir haben jetzt auch die Geschäftsordnungsmehrheit der CDU im Vermittlungsausschuss, die dazu führt, dass wir zum Beispiel einen ordentlichen Haushalt nur noch aufstellen könnten, wenn er CDU-Handschrift trüge. Niemand von uns will CDU-Politik im Bundestag beschließen. Deshalb muss diese Blockade aufgelöst werden. Die Erfahrung ist: ein Jahr vor einer Bundestagswahl sind die CDU-Ministerpräsidenten Parteisoldaten. In dem Moment wo sie damit rechnen müssen, dass wir vier Jahre an der Regierung sind, werden daraus wieder Ministerpräsidenten, mit denen man ordentliche Kompromissverhandlungen führen kann. Darum geht es jetzt, dass wir wieder in eine Situation kommen wie am Anfang der Legislaturperiode, wo trotz einer konservativen Mehrheit im Bundesrat noch rot/grüne Politik möglich war.

    Spengler: Ich wollte sagen eine Mehrheit im Bundesrat, eine gegenteilige Mehrheit im Bundesrat kann doch eigentlich nicht ein Kriterium für eine Auflösung des Bundestages sein?

    Stiegler: Warum eigentlich nicht?

    Spengler: Weil es nicht im Grundgesetz so festgeschrieben ist.

    Stiegler: Nein. Wenn ich im Bundestag an Stelle des Kanzlers meiner Mehrheit nur noch CDU-Gesetze vorlegen kann, dann kann jeder Kanzler einschätzen, dass dies nicht gut geht und dass dies nicht gut gehen kann, weil weder unsere Wähler noch unsere Anhänger wollen, dass wir CDU-Politik betreiben.

    Spengler: Aber warum tritt der Kanzler dann nicht einfach zurück?

    Stiegler: Wieso soll er zurücktreten? Er hat sich ja selber nichts zu Schulden kommen lassen und er muss doch selber nicht irgendeine Verantwortung auf sich nehmen. Die Verantwortung liegt darin, dass eben die CDU ihre Mehrheit im Bundesrat nicht verfassungsgemäß ausübt, sondern eine reine parteipolitische Blockadepolitik betreibt. Das ist die Situation.

    Spengler: Ist denn das eigentliche Problem nicht das, was zum Beispiel Klaus Bölling hier vor einer halben Stunde auch gesagt hat, dass in der Partei der Widerstand gegen Schröders Agenda-Politik einfach zu groß ist und dass die Mehrheiten im Bundestag tatsächlich nicht mehr gesichert sind?

    Stiegler: Es wäre mit Sicherheit keine Mehrheit mehr gesichert, wenn wir pausenlos über CDU-Gesetze abstimmen müssten.

    Spengler: Aber die Hartz-IV-Gesetze sind ja keine CDU-Gesetze?

    Stiegler: Die Hartz-IV-Gesetze waren schon hart am Rande. Zum Beispiel die Frage der Zumutbarkeit, die uns so viel Ärger bereitet hat, war ja nun von Frau Merkel und von Herrn Stoiber erzwungen. Oder wenn Sie die Praxisgebühr nehmen, für die wir so viele Prügel und Vertrauensverluste hinnehmen mussten. Das war die Forderung von CSU und CDU. Das heißt wir werden laufend mit Entscheidungen konfrontiert, wo wir Prügel dafür einstecken müssen und Vertrauensverluste, weil wir in Teilen CDU-Politik machen müssen. Das war noch zu einer Zeit, als wir Patt hatten im Vermittlungsausschuss. Jetzt haben die anderen die Möglichkeit, so genannte unechte Ergebnisse vorzulegen. Das heißt wir müssten beim Haushalt oder bei allen Gesetzen, die jetzt anstehen, am Ende im Bundestag immer wieder uns entscheiden, ob wir einen Stillstand eintreten lassen, oder ob wir eben CDU-Gesetze verabschieden. Dafür haben wir keine Mehrheit und dafür wollen wir auch unsere Mehrheit nicht benutzen.

    Spengler: Ich danke Ihnen für das Gespräch. - Das war Ludwig Stiegler, der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion.