Freitag, 29. März 2024

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Kurt Biedenkopf
"Ich wollte nie Berufspolitiker werden“

Das öffentliche Wirken ist der rote Faden in seinem beruflichen Schaffen: Kurt Biedenkopf war unter anderem 1968 Universitätsrektor in Bochum, später Generalsekretär der CDU und ab 1990 Ministerpräsident des Freistaats Sachsen. Heute arbeitet der 78-Jährige als Anwalt.

Kurt Biedenkopf im Gespräch mit Günter Müchler | 26.06.2008
Kurt Biedenkopf
Kurt Biedenkopf war Gründungsrektor der Ruhr-Uni Bochum (picture-alliance/ ZB | Thomas Schulze)
Kurt Hans Biedenkopf, geboren am 28.01.1930 in Ludwigshafen als Sohn eines Ingenieurs. Studium der Rechte, der Politikwissenschaft und der Volkswirtschaft. Habilitation zum Doktor der Jurisprudenz mit einer Arbeit über die Grenzen der Tarifautonomie. 1966 Eintritt in die CDU. 1967 Rektor der neuen Ruhr-Universität in Bochum. 1973 Generalsekretär der CDU unter dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl. 1977 Vorsitzender der CDU Westfalen-Lippe. Im selben Jahr Gründung des Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. 1980 Spitzenkandidat der CDU in NRW. 1985 Vorsitzender der neu gebildeten CDU Nordhrein-Westfalen. 1987 nach Führungsstreit Rückzug aus der Landespolitik. Nach dem Mauerfall Übernahme einer Gastprofessur für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig. 27. Oktober 1990 Wahl zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen. 2002 nach Zerwürfnis mit Landesparteichef Milbrath und öffentlichen Querelen Rücktritt als Ministerpräsident. 2003 Gründungspräsident der privaten Hochschule Dresden International University. Seit 2003 Vorsitzender des Kuratoriums der Hertie School of Governance Berlin.

"Kurt Biedenkopf: Streit ist der Vater des Fortschritts. Aus Konsensbewegungen ist noch nie Innovation entstanden."

Ein streitbares Leben für die res publica

Müchler: Herr Prof. Biedenkopf, Sie sind zurückgekehrt zu den Wurzeln. Sie lehren wieder, Sie lehren an der Hertie School of Governance in Berlin. Als ich eben zu diesem Gespräch anreiste, sagte der Taxifahrer, ach, Sie wollen in Erichs altes Büro. Das heißt, die Hertie School of Governance, Ihr Büro, ist in dem alten DDR-Staatsratsgebäude. Geht einem das, wenn man hier lehrt, hier arbeitet, gelegentlich durch den Kopf?

Biedenkopf: Ich lehre nur sporadisch. Ich bin vor allen Dingen als Vorsitzender des Kuratoriums der Hertie School of Governance tätig. Aber ich habe natürlich auch mit Studenten, mit der Fakultät zu tun. Wir haben vor fünf Jahren das Konzept entwickelt für die Hertie School und sind in das Gebäude gegangen, in dem eine andere Professional School ist, Sonderuniversität, wenn Sie so wollen, oder professionelle Universität, nämlich die European School of Management Technology. Am Anfang war das ein merkwürdiges Gefühl, aber auch gleichzeitig, wenn Sie so wollen, sein sehr befriedigendes. Denn wir haben jetzt hier bei der Hertie School of Governance 15 verschiedene Nationalitäten in einer Gruppe von 60 oder 70 Studierenden, langsam steigert sich die Zahl für eine Masterausbildung. Alle, die hierherkommen, haben eine Universitätsausbildung und bauen da jetzt was drauf. Und wir unterrichten oder die Fakultät unterrichtet sie im weitesteten Sinne des Wortes in der Kunst des Regierens und Verwaltens. Und das in einem Gebäude, was einer Diktatur gewidmet war. Das ist schön.

Müchler: Jedes Leben, sagt man, bietet mehr als nur die eine Möglichkeit. Ihr berufliches Leben ist dafür ein Beispiel. Sie waren in der Industrie, Sie waren Hochschullehrer, Sie waren in der Politik. Welche Möglichkeit haben Sie ausgelassen? Welche Möglichkeit hätten Sie gerne noch ausprobiert?

Biedenkopf: Die Kunst.

Müchler: Die Kunst? Welche Sparte der Kunst?

Biedenkopf: Nein, nein. Einfach die Kunst. Ich meine, ich fühle mich der Kunst sehr verbunden und der Kultur im Land, aber Kulturpolitiker bin ich nie gewesen. Für mich ist die Kultur auch keine spezielle Sparte unseres Lebens, sondern eine übergreifende. Aber die drei wichtigsten, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, habe ich kennengelernt. Zeitlich die Wirtschaft eher kürzer. Aber da ich Wirtschaftsjurist bin, habe ich auch vorher schon mit der Wirtschaft zu tun gehabt, eigentlich mein ganzes Leben lang, vor allen Dingen mit Fragen der Ordnung der Wirtschaft, weniger mit speziellen Fragen. Ich bin ja auch Anwalt in Dresden, habe ich einige sehr wichtige Aufgaben übernommen, gehabt und erledigt oder bin noch dabei, die mit konkreten wirtschaftlichen Sachverhalten zu tun habe, wie zum Beispiel die Moderation bei der Bahn, vor allen Dingen 2007 zusammen mit Heiner Geißler. Da musste man sehr tief einsteigen in die ganz konkreten Probleme eines großen Unternehmens, seiner Binnenstruktur, seiner Art und Weise, Menschen zu führen und die gewerkschaftlichen Organisationen, die in ihm tätig sind.

Müchler: Kann man sagen, dass der Bezugspunkt Ihres beruflichen Lebens das öffentliche Wirken, die Beschäftigung mit der res publika war und ist?

Biedenkopf: Ja, das kann man. Mein erster Aufsatz, den ich geschrieben habe, der veröffentlicht wurde, war 1956 und befasste sich mit Fragen des Wettbewerbs, aber genau unter diesen Gesichtspunkten, nämlich mit der Frage, ob die Zusammenballung von wirtschaftlicher Macht mit einer freien Gesellschaft vereinbar ist. Das ist ein Grundthema, was mich während meiner ganzen Erwachsenenzeit beschäftigt hat.

Müchler: Und das hat keineswegs an Aktualität verloren?

Biedenkopf: Nein, nein. Das wird auch nie an Aktualität verlieren. Es gibt keine Gesellschaft, in der nicht Machtfragen gelöst werden müssen. Die Demokratie ist, wenn Sie so wollen, die kulturell anspruchsvollste Form, Machtfragen zu lösen. Nämlich dadurch, dass das Recht über der Macht steht.

Müchler: Und eine anspruchsvolle Aufgabe für alle, die sich damit beschäftigen, die im Machtraum arbeiten. Ich bin bei der Vorbereitung auf dieses Gespräch auf ein Zitat von Ihnen gestoßen. Sie haben einmal gesagt, ich bin kein Konsensanhänger, ich bin Streitanhänger. So was sagt jemand, der über ein beträchtliches Selbstbewusstsein verfügt.

Biedenkopf: Ich weiß gar nicht, ob das Selbstbewusstsein ist. Denn ich streite vor allen Dingen in Machtsachverhalten keineswegs leidenschaftlich, leidenschaftlich gern. Aber Streit ist der Vater des Fortschritts. Aus Konsensbewegungen ist noch nie Innovation entstanden. Vor allen Dingen, wenn der Konsens ein übergreifender sein soll in konkreten Fragen. Was ein Land braucht, ist ein Grundkonsens. Das ist aber was ganz anderes. Und auch über diesen inhaltlichen Grundkonsens’ bedarf es eines ständigen Dialogs, auch im Sinne der Auseinandersetzung. Denn jeder interpretiert natürlich die Elemente eines solchen Grundkonsens’ anders. Wenn Sie die drei großen Wertbegriffe nehmen, Freiheit, Gerechtigkeit oder Gleichheit, wie manche sagen, und Solidarität, dann kann niemand einen dieser Begriffe allein inhaltlich bestimmen, sondern sie bedingen einander. Und Solidarität und Freiheit und Solidarität und Gleichheit und Freiheit und Gleichheit stehen alle drei in einem Spannungsverhältnis. Das können Sie wie ein Dreieck sich vorstellen. Und je nachdem wie man dieses Spannungsverhältnis gestaltet und ausgleicht, verändert sich der politische Charakter der Gesellschaft.

Müchler: Wie ist der heute?

Biedenkopf: Der ist sehr, sehr einseitig belastet durch Gleichheit und Solidarität.

Müchler: Das war einmal anders?

Biedenkopf: Ja, das war ganz eindeutig einmal anders. Und es gibt auch sehr viele und sehr bedeutende Stimmen, die sagen, ihr müsst aufpassen – und ich gehöre dazu, nicht zu den bedeutenden, aber zu den Stimmen –, müsst aufpassen, dass dieses Dreieck, ich bleibe jetzt mal in dem Begriff, nicht so stark im Bereich Gleichheit und Solidarität belastet wird, dass die Freiheit zu kurz kommt. Und zu kurz kommen bedeutet, dass alle diejenigen, die der Freiheit bedürfen, um wichtige gesellschaftliche Beiträge zu leisten, keineswegs nur in der Wirtschaft, aber natürlich schwergewichtig auch in der Wirtschaft, sich in diesem Land nicht mehr wohlfühlen. Und da wir heute keine nationalen Grenzen mehr haben, die man zumachen kann und die anderen auch nicht, sondern wir haben freie Bewegungen, in Europa sowieso, von Verfassungs wegen, aber auch in der ganzen Welt, müssen wir aufpassen, dass wir nicht Ungleichgewichte erzeugen in unserem Land, die die Leistungsfähigkeit des Landes verringern, aus welchen Gründen auch immer. Und die Jüngere, aber auch Ältere, die aktiv sein wollen, die gestalten wollen, die dafür Freiräume brauchen, sonst geht es nicht, dass die zu dem Ergebnis kommen, wir müssen uns einen anderen Standort suchen, um es jetzt mal wirtschaftlich auszudrücken.

Müchler: Die momentane Unterbewertung des Wertes Freiheit, Wiedervereinigungsfolge oder wäre das eine zu kurze Antwort?

Biedenkopf: Nein, nein, nein. Das hat schon lange vorher angefangen. Das hat sehr viel mit der Tendenz unseres Staatswesens zu tun, vormundschaftlich für die Bürger tätig zu werden. Wenn Sie Bürger heute bei allen wesentlichen Problemen des Landes fragen, wer soll das denn regeln, wird Ihnen immer entgegenschallen: der Staat. Dass wesentliche Teile auch im sozialen Bereich in der Kommune geregelt werden müssen, in den kleinen Lebenskreisen, dass wir auch personale Solidarität in dem Land brauchen, wenn das Land ein menschliches Land bleiben soll. Politik mit menschlichem Gesicht ist ja so eine Formel, die ich keineswegs jetzt karikieren will, sondern das ist ein Ziel. Aber die ist nicht mit staatlichen Mitteln alleine zu verwirklichen. Sondern wenn die Familie keinen Ort mehr ist der Selbstversicherung des Einzelnen, ein dauerhaftes Zugehörigkeitsgefühl erzeugt, wenn die Individualisierung der Gesellschaft beginnt, personale soziale Verhältnisse zu sprengen oder zu zerstören oder zu ignorieren und die ganze Aufgabe der Solidarität dem Staat zugeschoben wird, der ja mit kollektiven Mitteln handeln kann unter Anwendung staatlicher Gewalt im Ergebnis, Gesetze müssen ja erzwungen werden notfalls, dann wird die Gesellschaft kalt. Das ist ein großes Missverständnis, dass die Gesellschaft kalt wird, wenn sie mehr Freiheit hat. Sondern sie wird kalt, wenn sie mehr staatlich ist. Und das insbesondere dann, wenn es keine Puffer mehr zwischen dem Staat und dem Individuum gibt, sondern das Individuum nicht nur im übertragenen, sondern gewissermaßen im bildlichen Sinne vor den Schranken des Staates steht und auf die staatlichen Leistungen angewiesen ist. Die Freiheitsräume sind nicht dann wirklich Freiheitsräume, wenn sie als Selbstverwirklichungsräume verstanden werden, womit ich einen Prozess meine, in dem Freiheit in Anspruch genommen, aber die Verantwortung, die mit Freiheit verbunden ist, negiert wird. Und das findet auch statt. Die Menschen übernehmen gerne Verantwortung im unmittelbaren zwischenmenschlichen Verhältnis, aber nicht für das Ganze. Da sagen sie, der Staat ist zuständig. Eine Gemeinschaft, die das auf Dauer betreibt, zerstört ihre Freiheitlichkeit.


"Biedenkopf: Diese Formulierung "Unter den Talaren - der Muff von 1000 Jahren" war zunächst ein Protest gegen die Konservierung, wie die jungen Leute das empfunden haben, des Vergangenen."

Professor anno 1968

Müchler: Sie haben Ihr öffentliches Wirken begonnen als Hochschullehrer in Bochum. Bochum, das ist doch heute ...

Biedenkopf: Vorher in Frankfurt als Privatdozent, und ich bin auch in Frankfurt habilitiert. Und meine ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Fragen, wie wir sie hier diskutieren, befassen, sind in der Frankfurter Zeit schon entstanden.
Müchler: Aber Sie waren dann in Bochum Gründungsrektor?
Biedenkopf: Dann war ich in Bochum. Erst mal war ich in Bochum Hochschullehrer und dann ergab sich, dass wir einen Rektor suchten, und ich war eigentlich der Meinung, das sollte Hermann Lübbe machen, der damals als Philosoph in Bochum war, aber Hermann Lübbe hatte aus Gründen, die jetzt hier keine Rolle spielen, nicht die Möglichkeit und möglicherweise auch nicht den Wunsch, das zu machen. Er, der Sozialdemokrat, hat dann gesagt, dem Christdemokraten angeboten, was ja in der Universität zu der Zeit zwischen uns jedenfalls keine große Rolle spielte, ich sollte doch kandidieren und er würde meinen Wahlkampf mitorganisieren. Denn wir hatten einen richtigen streitigen Prozess. Ja, und aus diesem Prozess ist halt der Jüngere, der andere Bewerber war schon Ordinarius in anderen Universitäten gewesen und galt den Älteren als ein Garant der Stabilität, die gab es aber damals nicht.

Müchler: Das war die Zeit, man muss das den Hörerinnen und Hörern sagen, es war die 68er-Zeit.

Biedenkopf: Man muss es ihnen nicht sagen, man sollte es ihnen sagen, das ist ja nichts Negatives.

Müchler: Nein, überhaupt nicht.

Biedenkopf: Die Zeit wird heute so dargestellt, als sei es eine chaotische Zeit, die gewissermaßen geradlinig zum Terrorismus führte. Das ist natürlich Unsinn.

Müchler: Wie haben Sie, Sie waren damals 37 Jahre alt, diese Zeit, die ja in diesem Jahr retrospektiv wieder eine Rolle spielt, erlebt? Nicht als chaotische Zeit, sagten Sie?

Biedenkopf: Nein, das war ein Ausbruch zunächst einmal gegen traditionelle Strukturen in der Universität gerichtet, weil viele nicht zu Unrecht den Eindruck hatten, das man wegen der ungeheuren Schwierigkeiten mit der Nazidiktatur und ihren Folgen zurechtzukommen und überhaupt sie zu begreifen und den Jüngeren zu erklären. Eine Tendenz hatte gewissermaßen an der Weimarer Republik wieder anzuknüpfen. Die ältere Generation hatte für diesen Prozess nicht unwesentliche Gründe gesetzt, bedingt durch entweder ihr Unvermögen, in der Regel Unvermögen, oder Weigerung mit den Jüngeren, über das zu sprechen, was im Nationalsozialismus, vor allen Dingen aber im Holocaust, in der systematischen Zerstörung und Ermordung von Menschen passiert ist. Ein unfassbarer Verlust an Menschlichkeit und Zivilisation in einem Volk, das stolz auf sich war, genau diesen Tugenden gerecht zu werden. Und diese Formulierung "Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren", damit ging es ja los, war zunächst ein Protest gegen die Konservierung, wie die jungen Leute das empfunden haben, des Vergangenen. Und das hat sich dann verselbstständigt in einer Fülle von provokativen Handlungen wie die Wohngemeinschaften und die Betonung von Sexualität und vieles andere. Im Grunde genommen waren das Versuche, Tabus zu brechen und durch nachhaltige Provokation auf sich aufmerksam zu machen. Die Grünen haben das ja nachher, als sie zum ersten Mal politisch tätig wurden, ganz genauso gemacht. Als sie zum ersten Mal in den Bundestag kamen, haben sie auch provoziert durch die Kleidung, durch die Blumentöpfe auf den Abgeordnetenbänken usw., um deutlich zu machen, wir sind da. Bis sie dann relativ schnell sich in den Prozess gefügt, ihn aber damit auch verändert haben.

Müchler: Wenn man nach einer Überschrift für diese ja nun immerhin 40 Jahre zurückliegende Zeit sucht, aus Ihrer Sicht mehr Generationenkonflikt, Kulturrevolution, marxistisches Retro?

Biedenkopf: Sie sehen schon, dass es einen brauchbaren Sammelbegriff wahrscheinlich nicht gibt. Und deshalb hat man sich ja auch daran gewöhnt, einfach von den 68er-Jahren zu reden. Es war im Grunde genommen ein Zusammentreffen einer ganzen großen Zahl von unterschiedlichen Bewegungen. Habermas hat eine andere Rolle gespielt, als die Frankfurter Schule. Vieles kam aus Amerika. Dort hatte das Ganze ja schon ’63 angefangen, ausgelöst durch den Vietnamkrieg, aber da war ein ähnliches Bedürfnis der Jungen nach Verständlichkeit und Erklärung dessen, was da passiert. Und Bochum war insofern anders als die klassischen Universitäten in Deutschland, als es eine junge Universität war und die Bevölkerung stolz war auf diese Universität und die Universität noch im Bau war, sodass von der Umwelt, in der Bochum entstand, ich würde mal sagen, eine disziplinierende Wirkung ausging. Den Menschen, gerade der arbeitenden Bevölkerung, hat es überhaupt nicht gefallen, dass jetzt ihre Universität, auf die sie stolz waren, plötzlich beschmiert werden sollte oder besetzt werden sollte und so was. Und da gibt es zauberhafte Anekdoten, als die Bauarbeiter an einem der Gerüste ein großes Schild aufgehängt haben, wo eben ihr Protest gegen den Protest manifestiert wurde. Oder als die Büros des Rektorats besetzt wurden, das war nur ein einziges Mal und hat auch nicht lange gedauert, sich das sofort offenbar rumgesprochen hatte. Jedenfalls, als ich dann nach Überwindung einiger Schwierigkeiten und Hindernisse in meinem Zimmer war, da klingelte das Telefon und am anderen Ende war der Betriebsratsvorsitzende von Opel Bochum und hat gefragt ob ich Hilfe brauchte. Da war eine sehr eindrucksvolle Solidarität zwischen der Wohnbevölkerung und der Hochschule. Das war ja die erste Hochschule im Ruhrgebiet überhaupt.


"Biedenkopf: Der Begriff ist nicht wirklich so umgesetzt worden, wie ich mir das gewünscht habe."

Die neue soziale Frage

Müchler: Kommen wir zu einem anderen Kapitel. Sie sind Christdemokrat. Sie sind 1965 der CDU beigetreten. Das war die Zeit der allmählichen Ablösung der CDU von der Übergestalt Adenauer. Neuer Vorsitzender der CDU Helmut Kohl. Der berief Sie als Generalsekretär.

Biedenkopf: Das war aber nicht der unmittelbare Nachfolger von Adenauer.

Müchler: Das war nicht der unmittelbare.

Biedenkopf: Ich wollte es nur sagen. Solange hat der Adenauer das Amt nicht ausgeübt.

Müchler: Nicht ganz. Aber es begann eben dann die neue Ära?

Biedenkopf: Ja sicher, die nächste Generation, wobei das schon fast ein Großvatersprung war.

Müchler: Ja. Mit Ihrem Namen als Generalsekretär verbindet sich die neue soziale Frage. Von wem stammt eigentlich dieser Begriff?

Biedenkopf: Von mir. Der Begriff ist nicht wirklich so umgesetzt worden, wie ich mir das gewünscht habe. Ich wollte auch unter dem Eindruck der sozialpolitischen Debatte in ganz Deutschland deutlich machen, dass es zwei verschiedene sozialpolitische Probleme gibt. Das eine Problem war die gerechte Allokation von Einkommen, diese gerechte Zuordnung von Einkommen. Dafür waren die Gewerkschaften zuständig, die Interessenverbände und vielen anderen. Und diejenigen, die von diesen Gerechtigkeitsfragen berührt waren, sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer hatten ihre Organisationen, mit denen sie die Fragen klären konnten. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger der Tarifautonomie und habe ja auch meine Habilitationsschrift über deren Grenzen geschrieben und war der Auffassung, dort, wo sich Interessen wirksam organisieren, kann sich der Staat zurückhalten. Es sei denn, er wird für bestimmte Interessen in Anspruch genommen. Und dann haben wir das klassische Problem der Verbandsmacht im Verhältnis zum Staat. Aber es gab ein breites Feld, ein wichtiges Feld, in der Bevölkerung, das nicht organisierbar ist. Familien sind nicht organisierbar, alte Leute sind, wie sich gezeigt hat bei den Grauen Panthern, de facto nicht organisierbar. Die Armen sind nicht organisierbar, obwohl es jetzt einige Organisationen gibt, die für sich in Anspruch nehmen, genau das zu machen. Aber sie sind nicht organisierbar, weil ihre Lebensverhältnisse höchst unterschiedlich sind. Sie sind viel differenzierter, als dass sie, sagen wir mal, alle über einen Leisten geschoren werden können und die Typisierung von Sachverhalten ist die Voraussetzung für ihre Organisierbarkeit. Und ich habe gesagt, die neue soziale Frage, die entsteht, die besagt, dass der Staat die Aufgabe hat, für diejenigen, die sich nicht organisieren können, da zu sein, damit sie nicht unter die Räder der Sonderinteressen der Organisierten kommen. Das war die neue soziale Frage.

Müchler: Salopp würde ich jetzt einwerfen, die neue soziale Frage hat sich ebenso wenig erledigt wie die alte soziale Frage.

Biedenkopf: Nein, natürlich hat sie sich nicht erledigt. Sie wird sich auch nie erledigen.

Müchler: Sind heute andere Gruppen in den Vordergrund getreten, für die sich der Staat mehr starkmachen müsste, die Politik mehr starkmachen müsste als zu Ihrer Zeit als CDU-Generalsekretär?

Biedenkopf: Nein, da hat sich nichts Wesentliches geändert. Im Gegenteil. Mein Eindruck ist, dass die Bereiche, in denen die gesellschaftlichen Organisationen eigentlich die Hauptlast der Regelungen tragen könnten nach dem Subsidiaritätsprinzip, dass die angenagt werden durch zunehmende Forderung nach staatlicher Intervention. Die Mindestlohndebatte ist ein typisches Beispiel dafür. Es sei denn, dass man die Einsetzung von Mindestlöhnen als ein sozialpolitisches Problem sieht. Und da muss man sehr aufpassen, dass die sozialpolitische Entscheidung nicht quer liegt zu den wirtschaftspolitischen Realitäten. Das ist ja das, worüber im Augenblick diskutiert wird. Natürlich kann man den Mindestlohn hoch ansetzen, aber dann muss man auch bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass in einer offenen Gesellschaft solche Festsetzungen Konsequenzen haben. Nur ein Beispiel, keineswegs typisch, aber wichtig. Viele Frauen, Männer weniger, die bei Frisören arbeiten, haben diese Arbeit nicht als Hauptberuf, sondern als Nebeneinkommen in ihren Haushalten. Jedenfalls gibt es da eine ganze Menge, die dann auch nur Teilzeit arbeiten oder so, aus welchen Gründen auch immer. Auf die passt zum Beispiel die Mindestlohndebatte nicht. Das macht keinen Sinn. Sie wird aber so geführt, als ob alle Niedriglohnempfänger existenziell von diesem Niedriglohn abhängig sind. Da muss man aufpassen. Deshalb ist es wichtig, wenn man gesellschaftliche Strukturen und Organisationen hat, die die Differenzierung leisten können. Der Staat kann das nicht.


"Biedenkopf: Ich wolle nicht Berufspolitiker werden."

Auf wechselnden Bühnen

Müchler: 1977 schieden Sie aus als CDU-Generalsekretär. Helmut Kohl ernannte einen anderen, Heiner Geißler.

Biedenkopf: Ja, aber es war mein Wunsch. Nur, um das ganz klar zu machen. Ich hatte von vornherein gesagt, vier Jahre, Punkt. Ich wollte nicht Berufspolitiker werden.

Müchler: Trotzdem, es gab auch, nicht nur in dieser Zeit, auch zu späterer Zeit ein schwieriges Verhältnis und nicht immer harmonisches Verhältnis zu Helmut Kohl?

Biedenkopf: Ja, überhaupt keins. Nein, nein. Es gab keinen Zweifel, dass das so ist.

Müchler: Kann man das auf die einfache Formel bringen, kein Platz für zwei starke Männer?
Biedenkopf: Nein, das kann man nicht. Das hätte man dann gekonnt, wenn ich das selber angestrebt hätte, was der Helmut Kohl angestrebt hat. Das habe ich aber nicht. Ich war abgesehen von meiner Zeit als Generalsekretär und meiner Zeit als Ministerpräsident im Freistaat Sachsen nie Berufspolitiker.

Müchler: Sie sind dann in die Landespolitik, in die nordrhein-westfälische Landespolitik gewechselt.

Biedenkopf: Ja, ich wurde gewechselt. Der Grund, warum ich dahin gegangen bin, war der Tod von Heinrich Köppler.

Müchler: Richtig.

Biedenkopf: Und der starb vier Wochen vor der Landtagswahl 1980. Und ich hatte überhaupt keine Wahl. Das war aber nicht meine freiwillige Entscheidung. Ich war Mitglied des Bundestages und Vorsitzender des wirtschaftspolitischen Ausschusses im Bundestag. Für mich eine Traumsituation. Und es ist mir sehr schwer gefallen, aber es war selbstverständlich, in die Lücke zu springen. Und die entscheidende Sache war dann, nach der verlorenen Wahl, wir haben sie immerhin mit einem Ergebnis damals verloren, das nur knapp unter dem Ergebnis liegt, das Herr Rüttgers dann bei seinem Wahlsieg errungen hat. Aber die Frage, die dann auftauchte, war, wenn jemand kandidiert und 43-Komma-irgendwas- Prozent Stimmen bekommt, muss er dann nicht im Landtag bleiben. Und ich habe gesagt, der muss im Landtag bleiben.

Müchler: Ja, es gab dann ja auch noch eine andere große Aufgabe, die Vereinigung der beiden Landesverbände?

Biedenkopf: Die hat sich damals nicht als Aufgabe abgezeichnet. Das war nicht der Grund, warum ich im Landtag geblieben bin. Und viele meiner Freunde haben gesagt, du bist wahnsinnig. Du hast im Bundestag eine hervorragende Position, warum gehst du jetzt in die Landespolitik? Aber das war nun mal so. Ich wäre glücklich gewesen, wenn Heinrich Köppler nicht gestorben wäre, aber es war nun mal so. Und dann muss man das akzeptieren. Das ist jedenfalls mein Credo, dass man so was akzeptieren muss, auch wenn es missverstanden wird.

Müchler: Sie waren dann ja, wenn ich recht gerechnet habe, zehn Jahre lang etwa in der ...

Biedenkopf: Sieben. ’87 bin ich ja auf "Wunsch", in Anführungszeichen, Helmut Kohl, habe ich auf Wunsch von Helmut Kohl den Vorsitz des gemeinsamen nordrhein-westfälischen Landesverbandes niedergelegt. Ich kann mir bis heute nicht genau erklären, warum das so große Probleme machte. Aber der Grund für die Zusammenführung, ich war westfälischer Landesvorsitzender, war das katastrophale Wahlergebnis 1985. Ich hätte gerne die CDU 1985 noch mal in die Wahl geführt, aber das war nicht machbar.

Müchler: ’87 kam dann Norbert Blüm.

Biedenkopf: Ja, ’87 kam Norbert Blüm, weil die Bundespartei verlangt hat, dass der Kurt Biedenkopf den Vorsitz aufgibt, obwohl er ein Jahr vorher mit 94 Prozent der Stimmen zum gemeinsamen Landesvorsitzenden gewählt wurde oder vielleicht gerade deshalb. Ich lass das jetzt mal offen.

Müchler: Jedenfalls kam dann Norbert Blüm, der in vielerlei Hinsicht Ihr Antipode war.

Biedenkopf: Ja, inhaltlich vor allen Dingen. Er kam aber auch und ist nicht geblieben. Das war der große Unterschied. Er hat auch kandidiert. Das Wahlergebnis war nicht viel besser, und er ist dann in Bonn geblieben. Das heißt, er hat im Grunde genommen da eine, wie soll ich sagen, eine Lückenbüßerrolle gespielt, weil offenbar kein anderer in Nordhrein-Westfalen von der Bundespartei für qualifiziert gehalten wurde. Das hat immerhin dazu geführt, dass die CDU, sowohl die ’85er-Situation wie die ’90er-Situation, Norbert Blüm war 1990, die CDU bis 2005 in der Opposition blieb. Nach meiner Überzeugung 20 Jahre länger, als es notwendig gewesen wäre.


"Biedenkopf: Wir nennen das die Inkubationszeit von Erkenntnissen."

Über die Schwerfälligkeit der Politik

Müchler: Man hat Sie immer mal wieder apostrophiert als Querdenker.

Biedenkopf: Ja, das habe ich eigentlich immer positiv gesehen.

Müchler: Querdenker sind solche Politiker, die ungern konformistisch sind und die gelegentlich Wahrheiten zu einem frühen, manchmal vielleicht zu frühen Zeitpunkt sagen.

Biedenkopf: Darf ich dieser Definition widersprechen?

Müchler: Tun Sie es.

Biedenkopf: Ich habe aus diesen Gründen nie quergedacht, wenn Sie es so nennen wollen, sondern ich habe das gesagt, was nach meiner Überzeugung meine Pflicht war zu sagen.

Müchler: Nein, ich meine auch eher mit Querdenken etwas, was quer gegen die Zeit, quer gegen den Mainstream steht.

Biedenkopf: Aber nehmen Sie doch das schöne Sprichwort "Wer etwas erreichen will, muss gegen den Strom schwimmen".

Müchler: Ich meine das auch überhaupt nicht ...

Biedenkopf: Nein, nur das Quer bringt eigentlich nicht das zum Ausdruck, sondern Sie können auch sagen, wer quer denkt, denkt nicht in den ausgefahrenen Bahnen. Und das wird von denjenigen, die sich in den ausgefahrenen Bahnen wohlfühlen, als störend empfunden. Diesen Konflikt muss man austragen, wenn man etwas verändern will.

Müchler: Ich will ein Beispiel nennen, 1977, glaube ich, war es, da haben Sie mit Meinhard Miegel ein Rentenkonzept, ein Konzept für eine Grundsicherung vorgelegt.

Biedenkopf: Was wir gesagt haben ist, dass das Umlageverfahren, finanziert aus den Arbeitseinkommen der arbeitenden Bevölkerung, nicht geeignet ist, die Folgen der demografischen Entwicklung zu bewältigen. Und wir haben vorgeschlagen, dass stattdessen eine steuerfinanzierte Grundsicherung vorgesehen wird, die aber ganz bestimmte Bedingungen erfüllte. Insbesondere sollte sie, wenn man sie später in Anspruch nimmt, nach versicherungsmathematischen Gesichtspunkten steigen. Und das hätte bedeutet, dass die Leute gesagt hätten, wenn ich die ersten drei, vier Jahre, nachdem ich in Rente gehe, also gehen könnte, für mich sorge und dann erst die Grundsicherung in Anspruch nehme, habe ich viel mehr. Und vor allen Dingen, wenn ich lange lebe, finanziert das auf höherem Niveau die Allgemeinheit. Wir wollten einen Anreiz schaffen zur privaten Altersvorsorge. Das ist dann später mit der Riester-Rente gekommen. Aber jetzt gucken Sie mal den Zeitraum an.

Müchler: Viele, viele Jahre später, deshalb meine Frage: Sie sind damals wirklich abgekanzelt worden, obwohl die demografische Entwicklung absehbar war.

Biedenkopf: Nein, sie fand statt.

Müchler: Oder schon stattfand. Den frühen Vogel frisst die Katze - gilt das auch für die politische Zoologie?

Biedenkopf: Nein, das ist überhaupt kein zoologisches Problem. Erstens bin ich nicht gefressen worden, und zweitens ist das ein ganz anderes Phänomen. Wir nennen das die Inkubationszeit von Erkenntnissen. Und die Inkubationszeit von Erkenntnissen ist umso länger, je stärker die Besitzstände sind, die Sie unterdrücken. In diesem Fall waren es die sozialpolitischen Besitzstände, die diese Erkenntnis unterdrückt haben. Und warum haben sie das gemacht? Weil sie genau wussten, wenn sie den Menschen erzählen, was wirklich passieren wird, also was insbesondere die Folge der Tatsache sein wird, dass die geburtenstarken Jahrgänge 30 Prozent weniger Kinder gehabt haben und haben, praktisch schon gehabt haben, als ihre Eltern, und dass diese weniger Kinder eine größere Last tragen müssen, und es höchst unsicher ist, ob sie das machen - wenn das von Anfang an diskutiert worden wäre, hätten wir eine völlig andere Rentendebatte gehabt. Aber es wurde nicht diskutiert. Bis Ende des 20. Jahrhunderts wurde diese Diskussion nicht im Sinne einer politisch aufklärenden Debatte geführt. Das Interessante ist, mit der Jahrtausendwende haben die Leute plötzlich gesagt, es ist eine neue Zeit, da hat sich ja etwas grundlegend geändert. Und dann fing das an. Da mit dem Versuch von Gerhard Schröder erst mal, in seiner ersten Legislaturperiode, endlich zu akzeptieren, dass die Menschen private Vorsorge betreiben müssen. Hätten Sie 25 Jahre vorher damit angefangen, hätten wir heute kein Problem. Aber das war nicht gewollt. Das war von den Gewerkschaften nicht gewollt, das war von der Rentenversicherungsorganisation, ja immerhin eine Riesen-Bürokratie, nicht gewollt. Und das war von den Politikern nicht gewollt, die insbesondere diese Sozialsysteme zu ihrem Hauptaktionsfeld gemacht hatten.

Müchler: Ich könnte noch ein anderes Beispiel für Inkubationsprobleme nennen. ’86 haben Sie, wiederum zum Ärger der CDU, den Grünen die Politikfähigkeit bescheinigt. In diesem Jahr gibt es die erste Schwarz-Grüne Landeskoalition, 31 Jahre danach. Aber das nur am Rande. Herr Professor Biedenkopf ...

Biedenkopf: Ich habe sie ihnen nicht bescheinigt, wir haben damals einen Vorbehalt gemacht. Christa Thoben und ich waren das ’85, ’86. Wir haben gesagt, wenn die Grünen ihr Verhältnis zum staatlichen Gewaltmonopol klären, das war damals ungeklärt, dann könnte man sich durchaus vorstellen, mit denen zusammenzuarbeiten aus einem ganz praktischen Grund. Ein wesentlicher Teil der Grünen kam aus der bürgerlichen Schicht. Und das, was sie vorgetragen haben, war in der Sache richtig. Denken Sie an den Aufschrei, der durch das Land gegangen ist, als die Grünen gefordert haben, der Benzinpreis müsste fünf D-Mark sein. Bei drei ist er schon.


"Biedenkopf: Das Problem war, dass mein Nachfolger nicht warten konnte."

König von Sachsen

Müchler: Wir machen einen Zeitsprung. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer gingen Sie als Gastprofessor an die Leipziger Karl-Marx-Universität. Sie wurden gewissermaßen DDR-Bürger, denn die DDR gab es ja noch. Wie kam es zu diesem Entschluss?

Biedenkopf: Ich wurde sogar real, tatsächlich DDR-Bürger, aber später, weil es nämlich in den letzten Tagen der DDR notwendig war, die DDR-Staatsangehörigkeit zu haben, wenn man gewählt werden wollte. Wie es dazu kam? Das ist eine wunderschöne Geschichte, die auch ganz schnell erzählt ist. Meine Tochter und ich waren im Dezember 1989 in Leipzig, ich habe dort am 20. Dezember eine Vorlesung gehalten, zu der ich eingeladen war, nachdem die Mauer gefallen war, wurde das für möglich und richtig gehalten. In drei Hörsälen, also ich habe in einem Hörsaal und in zwei Hörsälen ist die übertragen worden, und ich habe Kurt Masur kennengelernt. Wir haben uns sofort, also es war eine sehr emotionale Begegnung. Und ich habe ihn gebeten zu überlegen, was ich beitragen könnte zu dem Prozess, der jetzt in Gang kommt. Und als ich ihn Anfang Januar wieder in Leipzig besucht habe, hat er zu meiner großen Verblüffung gesagt, ich habe mir das überlegt, und wörtlich: Sie müssen hier Gastprofessor werden, dann sind Sie einer von uns.

Müchler: Masur.

Biedenkopf: Ja. Wir fuhren dann nach Berlin, weil ich am nächsten Morgen von Herrn Modrow zu einem Gespräch gebeten worden war. Abends rief ich meine Frau an und sagte, hör mal, ich bin hier völlig perplex, mir ist von Masur vorgetragen worden, ich sollte da Gastprofessor werden. Und da hat meine Frau wie aus der Pistole geschossen gesagt, das musste machen. Dann bin ich am nächsten Tag zurückgekommen zu Masur. Und da hatte er den damaligen Rektor schon in sein Büro gebeten, der saß auch da schon, und hat ihm gesagt, man brauche eine Gastprofessur. Da hat der Rektor gesagt, sie hätten aber keine. Und da hat Masur gesagt, dann rufen Sie bitte bei Herrn Modrow an, dann kriegen Sie eine, schönen Gruß von Masur. Das hat auch geklappt. Ich habe mich dann einem formellen Berufungsverfahren unterworfen. Das heißt, das war kein Oktroi, sondern ich bin in die Fakultät gegangen, ich hatte einen Freund, der dort Professor war, der hat mich begleitet, und dann habe ich denen mehrere Stunden Rede und Antwort gestanden. Man braucht ja nicht mehr habilitiert zu werden, wenn man einmal habilitiert ist, hat man die Lehrbefugnis, aber man muss natürlich Auskunft geben. Und dann wurde ich rausgeschickt, und dann hat man beraten, und dann hat man verkündet, die Fakultät habe einstimmig beschlossen, mich zu berufen. Dann habe ich Ende Januar angefangen.

Müchler: So begann Ihre Zeit in Sachsen, das damals noch nicht wieder Sachsen hieß.

Biedenkopf: Die Universität hieß bedauerlicherweise immer noch Karl-Marx-Universität, wobei ein früherer Rektor sehr bemüht war, als ich mal ’84 in Leipzig war, diesen Begriff zu vermeiden. Er hat von Alma mater Lipsiensis gesprochen.

Müchler: Sie wurden Ministerpräsident in Sachsen, drei Mal haben Sie die CDU im Freistaat zur absoluten Mehrheit geführt. Sie haben traumhafte Erfolge errungen, Sie waren so unangefochten, dass man Sie als ‚König von Sachsen’ apostrophiert hat.

Biedenkopf: Ich habe das nicht gemacht, nur um das klarzustellen.

Müchler: Nein, das waren meine Kollegen. Wir müssen auch sprechen über das Ende Ihrer aktiven Zeit als Politiker in Sachsen, das war teilweise demütigend für Sie. Wir werden nicht die Zeit haben, die Gründe hier zu erörtern.

Biedenkopf: Das wäre auch schade um die Zeit, denn das hat sich alles erledigt.

Müchler: Man möchte im Zenit des Wirkens ausscheiden, das ist Ihnen nicht gelungen.

Biedenkopf: Das ist wieder journalistisch, verzeihen Sie. Ich wollte immer in der Mitte der Legislaturperiode ausscheiden. Erstens mal war ich ja, das darf ich auch ins Gedächtnis rufen, in dem Jahr, in dem ich ausgeschieden bin, 72 Jahre alt und war der Meinung, dass wenn ich überhaupt noch mal etwas anders machen will, dass das der letzte mögliche Augenblick ist, um noch mal etwas aufzubauen. Und das habe ich ja dann auch getan. Ich habe dann eine Anwaltskanzlei aufgebaut, ich habe die Hertie School of Governance mit entwickelt, ich habe die Dresden International University, eine Ausgründung der TU Dresden, mit entwickelt und bin heute, ich würde mal sagen, berufstätig, so wie ein normaler Anwalt, auch wenn der 30 Jahre jünger ist oder 20. Das ist so. Nein, das Problem war ein anderes. Das Problem war, dass mein Nachfolger nicht warten konnte, dabei will ich es bewenden lassen, und das daraus Entwicklungen entstanden sind, die dann zu diesen Ereignissen geführt haben. Das sehr Wichtige für uns, für meine Frau und mich - meine Frau war ja noch mehr betroffen, die wurde auch direkt angegriffen, ich sage das mal so objektivierend - war, dass wir uns nie darüber beklagen konnten, keine Zustimmung bei der Bevölkerung zu haben. Als ich aus dem Amt ausschied, hatte ich noch 63 Prozent der Bevölkerung hinter mir. Viele Regierungschefs wünschen sich eine solche Zustimmung. Und es hat sich ja überhaupt nichts geändert, zum Teil bin ich wirklich bewegt, wenn ich heute, sechs Jahre später, irgendwo einkaufen bin oder so, dann geschieht es uns immer noch, das Jüngere oder Ältere uns ansprechen, sich bei uns bedanken bei meiner Frau und mir für diese zwölf Jahre. Was wollen Sie mehr? Es gibt kein schöneres Geschenk als diese Art von Zuwendung der Menschen, und das ist nicht eine, wie soll ich sagen, nicht eine späte Rechtfertigung, das ist einfach ein Geschenk.

Müchler: Ich möchte noch ganz kurz ein Thema anschneiden. Sie haben zehn Enkel?

Biedenkopf: Elf.

Müchler: Elf Enkel. Vor zwei Jahren haben Sie ein Buch ...

Biedenkopf: Wenn ich das korrigieren darf, meine Frau und ich haben elf Enkel.

Müchler: Vor zwei Jahren haben Sie ein Buch mit dem provokanten Titel geschrieben "Die Ausbeutung der Enkel". Sie fordern darin, dass als Maßstab einer guten Politik die Enkelfähigkeit der Politik zu gelten habe. Können Sie in drei Sätzen sagen, was Sie damit meinen?

Biedenkopf: Ich meine damit eine Gestaltung der Zukunft, die nicht dazu führt, dass von den Enkeln, wenn sie erwachsen sind, weit höhere Leistungen erwartet werden als die, die ihre Eltern zu erbringen bereit waren. Das heißt Gerechtigkeit! Und ich habe das Buch geschrieben, nicht, weil ich Angst habe, dass die Enkel ausgebeutet werden, sondern weil ich Angst habe, dass die Elterngeneration dieser Enkel übersehen könnte, dass sie sich der Ausbeutung entziehen können. Sie hören heute oft, die Alten werden später mal die Mehrheit haben. Die werden die Mehrheit haben, aber nicht die Macht! Denn das, ...

Müchler: Anders als Herr Schirrmacher meint.

Biedenkopf: Ja, das Buch von Schirrmacher war meines Erachtens eine Selbstreflexion über seine eigene Angst vorm Alter. Anders konnte ich das nicht begreifen. Ich meine, insofern war es ein eindrucksvolles Buch, aber das eigentliche ist doch - und da ist auch ein Stück Angst von Schirrmacher -, dass das alles nicht funktionieren kann, Einsamkeit und kein Einkommen und so was wird die Folge. Wenn die Enkelgeneration, und zwar diejenigen, die die treibende Kraft sind ... In jeder Gesellschaft sind ungefähr 20 Prozent die treibende Kraft, und von denen werden auch die anderen mitgetragen. Und wenn die sagen, in diesem Land wird man ausgebeutet, dann haben sie die ganze Europäische Union und die ganze Welt als Alternative. Und deshalb haben die Alten zwar die Mehrheit, aber nicht die Macht.

Müchler: Was möchten Sie, das einmal in den Geschichtsbüchern über Sie steht?

Biedenkopf: Die Wahrheit.

Müchler: Und nichts als die Wahrheit.

Biedenkopf: Soweit man sie ermitteln kann - Wahrheit ist immer subjektiv. Aber ich habe nie in dieser Dimension gedacht. Ich habe ein sehr ausführliches Tagebuch geschrieben, auch während meiner Ministerpräsidentenzeit, und das werde ich vielleicht mal in einer kleinen Auflage, vielleicht sogar in einer Privatauflage, den Bibliotheken oder so zur Verfügung stellen, und da wird man sicher eine ganze Reihe von Dingen finden, die als Erfahrungen nützlich sein könnten. Aber das wäre mir schon genug. Ein Hochschullehrer lebt in seinen Schülern weiter, und ein Großvater in seinen Enkeln.

Müchler: Vielen Dank.