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Idealisierung des russischen Bauern

Turgenjev nannte ihn den "großen Schriftsteller der russischen Erde", für Nabokov war er der "bedeutendste russische Schriftsteller" überhaupt – Lev Nikolajevitsch Tolstoj. Nun gibt es eine Neuübersetzung von "Krieg und Frieden" durch die Slavistin Barbara Conrad.

Von Brigitte van Kann | 26.09.2010
    "Nun, mein Fürst, Genua und Lucca sind doch nur noch Apanagegüter der Familie Buonaparte. Nein, ich warne Sie, wenn Sie mir nicht sagen, dass wir im Krieg sind, wenn Sie sich weiterhin erlauben, all die Infamien, die Grausamkeiten dieses Antichrist ... zu beschönigen – dann kenne ich Sie nicht mehr, dann sind Sie nicht mehr mein Freund, nicht mehr mein getreuer Sklave, wie Sie sagen. Aber seien Sie gegrüßt. Ich sehe, ich mache Ihnen Angst, setzen Sie sich und erzählen Sie." Mit diesen Worten empfing im Juli 1805 die bekannte Anna Pavlovna Scherer, Hofdame und Vertraute der Kaiserin Marija Fjodorovna, den einflussreichen, ranghohen Fürsten Wassili, der als erster auf ihrer Abendgesellschaft erschien.

    Ein heftiger verbaler Überfall, ein fulminanter Einstieg, der ohne Umschweife mitten ins Geschehen hinein führt. Wie viel Aufmerksamkeit Tolstoj diesen ersten Sätzen widmete, bezeugen die 15 Anfangsvarianten von "Krieg und Frieden", aber auch seine Korrespondenz, in der er Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit des ersten Satzes eines Prosafragments von Puschkin rühmte und sich zum Vorbild nahm: "Im Landhaus trafen die Gäste ein"– so einfach und lapidar lautet dieser erste Satz.

    Auch "Krieg und Frieden", Tolstojs Werk über Russland und die Russen, beginnt mit dem Eintreffen der Gäste: Auf Anna Pavlovnas Soiree wird von Napoleons Siegeszug in Europa gesprochen werden, vom Kriegseintritt der Russen an der Seite der Österreicher – "Krieg und Frieden" ist vielleicht weniger ein Roman als das monumentale Panorama einer Epoche, der Zeit der Napoleonischen Kriege zwischen 1805 und 1812, die mit dem kläglichen Rückzug der Franzosen aus Russland und Napoleons Untergang endete. Auf der Abendgesellschaft, zu der Petersburgs Hochadel geladen ist, stellt Tolstoj nicht nur den bebrillten Pierre vor, der später als Zivilist über das Schlachtfeld taumeln und den Krieg aus dieser Außenseiterposition beobachten wird. Der Autor präsentiert auch zwei der drei Sippen, deren Geschicke er miteinander und mit Pierres Lebensweg verbinden wird: die Kuragins, die Familie des Fürsten Wassili und die Bolkinskijs, vertreten durch den jungen Fürsten Andrej und seine schwangere Frau Lise, von allen die "kleine Fürstin" genannt.

    "Die junge Fürstin Bolkonskaja war mit einer Handarbeit im goldbestickten Samtbeutelchen gekommen. Ihre hübsche Oberlippe mit dem kaum sichtbaren schwarzen Schnurrbärtchen war für ihre Zähne zu kurz, doch um so reizender stand sie offen und noch reizender streckte sie sich manchmal vor, senkte sich auf die Unterlippe. Wie immer bei ausgesprochen attraktiven Frauen wirkte dieser Fehler – die zu kurz geratene Lippe und der halbgeöffnete Mund – als besondere, ihr eigene Schönheit. Allen war es ein Vergnügen, diese hübsche, werdende Mutter anzusehen, die so voller Gesundheit und Lebhaftigkeit war und so leicht ihren Zustand ertrug. Den alten Herren und den gelangweilten, finsteren jungen Männern schien es, als würden sie selbst ihr ähnlich, wenn sie ein wenig bei ihr verweilten und mit ihr redeten. Wer mit ihr gesprochen und bei jedem Wort ihr freudiges Lächeln und die glänzenden weißen Zähne gesehen hatte, die ständig sichtbar waren, der meinte, er sei heute besonders liebenswert. Und das meinte jeder."

    Jeder seiner Figuren verleiht Tolstoj so einzigartige Züge, eine fast "unausdrückbare individuelle Qualität", um es mit dem Philosophen Isaiah Berlin zu sagen, dass sie zu leuchten und zu leben beginnen. Dem Leser wachsen sie ans Herz und er pflegt Umgang mit ihnen, wie mit wirklichen Personen. Kein Wunder, dass Nabokov von der "unsterblichen Anna Karenina" sprach, die im Übrigen der kleinen Fürstin aus "Krieg und Frieden" ein wenig ähnlich sieht.

    Kehren wir in Anna Pavlovnas Salon zurück. Schon hier wirkt Tolstojs Programm, die Lüge des schönen Scheins zu entlarven und zur Wahrheit vorzudringen. "Der Held meiner Erzählung, den ich mit aller Kraft meiner Seele liebe – ist die Wahrheit", hatte er schon zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere geschrieben. Und so fädeln Anna Pavlovnas vornehme Gäste Geldheiraten ein und erpressen Gefälligkeiten – während an der Oberfläche alles glatt und comme il faut bleibt.

    "Wie der Besitzer einer Spinnerei, der den Arbeitern ihre Plätze angewiesen hat, in seinem Betrieb herumgeht, und weil er den Stillstand der einen Spindel oder den ungewöhnlich knirschenden, viel zu lauten Ton einer anderen bemerkt, eilig hinläuft und sie anhält oder wieder in Gang setzt, wie es sich gehört, so trat auch Anna Pavlovna, während sie in ihrem Salon herumging, zu einer Runde, die verstummt war, oder einer anderen, wo allzu viel geredet wurde, und setzte mit einem Wort oder einer Umgruppierung die Gesprächsmaschinerie wieder in gleichmäßigen, schicklichen Gang."

    So beiläufig Anna Pavlovna dafür sorgt, dass die Fäden des Gesprächs sich nicht verheddern oder abreißen, so kunstvoll führt der Autor in ihrem Salon die zukünftigen Helden seines Romans zusammen und schürzt an Ort und Stelle die ersten Knoten des elaborierten Beziehungsgeflechts, in das er sie auf den nächsten 2000 Seiten hineinziehen wird.
    Schon dieser Auftakt zeigt die ganze Meisterschaft des großen Russen, der tatsächlich nur noch einen weiteren gesellschaftlichen Anlass braucht, um sein übriges Romanpersonal vorzustellen: ein Fest im Hause des Moskauer Grafen Rostov, anlässlich des Namenstags seiner Frau und seiner Tochter Natascha, die fast noch ein Kind ist und in den kommenden Jahren zur wichtigsten weiblichen Figur des Romans heranwachsen wird.

    Die bodenständigen Rostovs sind so viel natürlicher und lebendiger als die High Society der Residenzstadt – und sie sind russischer: Beim Besuch eines Onkels auf dem Land zeigt Natascha, die von einer französischen Emigrantin erzogen wurde, wie perfekt sie dennoch die russische Art zu tanzen beherrscht. Ihr Vater macht sich nicht viel aus Rangunterschieden und spricht ein schlechtes Französisch – was in Petersburg überhaupt goutiert würde – aber er spricht es mit Selbstbewusstsein.

    In ihrer Neu-Übersetzung hat Barbara Conrad die zahllosen französischen Redepassagen, dazu gehört auch Anna Pavlovnas einleitende Attacke, im Original belassen. Leserfreundliche Fußnoten bieten die deutsche Übersetzung. So bleibt "das gesuchte Französisch, in dem unsere Vorfahren nicht nur redeten, sondern auch dachten", wie Tolstoj schreibt, als Kolorit der Epoche und als Distinktionsmerkmal erhalten.

    Ein mutiger und begrüßenswerter Entschluss der Übersetzerin. Ihre Kollegin Marianne Kegel hatte es in der letzten deutschen Übersetzung vor über 50 Jahren noch nicht gewagt, dem deutschsprachigen Leser so viel Französisch zuzumuten. Tolstoj selbst war offenbar auch unsicher in Bezug auf die vielen fremdsprachigen Einsprengsel: Vier Jahre nach der Erstveröffentlichung von "Krieg und Frieden" übertrug er sie ins Russische, wohl im Hinblick auf einen größeren Leserkreis.

    So wie er als Mensch nach Vervollkommnung strebte, so änderte er und besserte er auch in seinem opus magnum herum – sieben Mal hat seine Frau Sofja Andrejevna "Krieg und Frieden" eigenhändig abgeschrieben. Die sowjetischen Literaturwissenschaftler, die in den 1930er-Jahren eine Version von "Krieg und Frieden" als verbindlich festlegten, bewiesen durchaus philologischen Mut.

    Tolstojs wuchernde Varianten-Produktion, seine akribische Selbstbeobachtung in Tagebüchern verschiedener Geheimhaltungsstufen, seine ausufernde Korrespondenz, lassen die geplante neue Gesamtausgabe auf 100 Bände anschwellen.

    Auch der Titel "Vojna i mir" – "Krieg und Frieden" – war zunächst ein anderer: das russische Wort "mir" heißt einerseits Frieden, aber auch Erde, Welt, Gemeinde, Gemeinwesen. Zu Tolstojs Zeiten, vor der russischen Rechtschreibreform, waren die Bedeutungen orthografisch unterschieden. Den ursprünglichen Titel hätte man vielleicht mit "Krieg und nationale Gemeinschaft" übersetzen können, bevor der Autor das Wort "mir" in der anderen Schreibweise mit der Bedeutung "Frieden" einsetzte. Dabei hätte der ursprüngliche Titel dem Werk sogar besser entsprochen – denn der innere Kern, um den es in vielfacher Variation kreist, ist die Idee des russischen Volkes: "Krieg und Frieden" ist ein zutiefst patriotisches Buch über die Napoleonischen Kriege, besonders über den "Vaterländischen Krieg", wie Napoleons Russlandfeldzug von 1812 genannt wird.

    Mit Geschichte beschäftigte sich Tolstoj schon als junger Mann, sah jedoch in der üblichen Geschichtsschreibung "nichts als eine Sammlung von Fabeln und nutzlosen Banalitäten". Für seine Geschichte der Napoleonischen Kriege las er die einschlägigen Darstellungen, betrieb Quellenstudien in den Archiven, befragte Zeitzeugen und reiste sogar zu den Schauplätzen. Bei aller faktografischer Genauigkeit seiner Arbeit, die unbestritten ist, interessierten ihn doch vor allem die verborgenen Triebkräfte des Geschehens. Tolstoj erkannte sie nicht im Willen der großen Führer und Feldherren wie Napoleon, den er "das nichtswürdigste Werkzeug der Geschichte" und einen "Schauspieler" nennt, sondern im "Gesetz der Notwendigkeit", dem geheimnisvollen, zufälligen, chaotischen Gang der Dinge. Bei dieser Betrachtungsweise kann es keine "heroischen" Helden geben – in den Mahlstrom der Ereignisse einzugreifen, ist lächerlich und fatal. Tolstojs Verehrung gilt dem russischen Oberkommandierenden Kutusov, der alt und gebrechlich ist und nicht einmal mehr allein aufs Pferd steigen kann. Er führt den russischen Sieg über Napoleon herbei, indem er eher abwartet als agiert. Getragen von einem starken Nationalgefühl erkennt Kutusov, der Zauderer, der nur noch ein Auge besitzt, die "zukünftige Bedeutung eines Ereignisses in der Gegenwart". Gegen ihn ist Napoleon blind, verblendet vom Irrglauben, dem Lauf der Geschichte seinen Willen aufzwingen zu können.

    Im Kampf gegen Hitlers Armeen, den die sowjetische Führung sofort nach dem deutschen Überfall den "Großen Vaterländischen Krieg" nannte, wurde "Krieg und Frieden" sogar zum Propaganda-Instrument: So tapfer und gewitzt, wie die Russen Napoleon aus Russland vertrieben hatten, so sollten die Sowjetbürger nun gegen die deutschen Besatzer kämpfen. Millionenfach wurde das Werk damals in billigen Ausgaben gedruckt, mehrfach in ganzer Länge im Rundfunk gelesen.

    Der Schriftsteller und Frontkorrespondent Wassili Großman bekannte einmal, während des Kriegs nur ein einziges Buch gelesen zu haben, das jedoch zwei Mal: "Krieg und Frieden". Für seinen eigenen Stalingradroman "Leben und Schicksal" entlehnte er bei Tolstoj nicht nur die wuchtige Titelfügung, sondern auch die Grundkonstruktion mit den ineinander verflochtenen Familiensagas, den historischen und essayistischen Passagen. Nicht zuletzt übernahm der Sowjetschriftsteller Großman von seinem großen Vorbild die Technik der Montage, die hier wie dort den rasanten, übergangslosen Wechsel der Schauplätze ermöglichte.

    Mit dieser filmreifen "Schnitt-Technik" war Tolstoj dem Kinematografen zuvorgekommen, dessen Anfänge er noch mit erlebte und dessen Massenwirksamkeit ihn so überzeugte, dass er sich vornahm, für das neue Medium zu schreiben. Von ihm selbst gibt es ein paar Filmaufnahmen. Eine, die man auf Youtube sehen kann, zeigt ihn als hochbetagten Greis, wie er sich geschickt und kraftvoll aufs Pferd schwingt, um dann ganz langsam durch den Schnee aus dem Bild zu reiten.

    Sein Tod auf der Bahnstation von Astapovo – am 7. November 1910, nach dem alten russischen Kalender, am 20. November nach dem neuen, europäischen, den die Sowjetmacht einführte – war eines der ersten großen internationalen Medienereignisse überhaupt. Selbstverständlich hatten Firmen wie Pathé ihre Kameraleute und Korrespondenten vor Ort.

    "Krieg und Frieden" ist mehrfach verfilmt worden, am berühmtesten: die Hollywood-Version von 1956 mit Audrey Hepburn als Natascha Rostova und die von Sowjetregisseur Sergej Bondartschuk aus dem Jahr 1968. Sein Werk erhielt einen Oscar und ist mit rund acht Stunden der wohl längste Spielfilm, der je gedreht wurde – ein Monument der Literaturverfilmung, bei dem allein 40.000 Armeesoldaten als Statisten im Schlachtgetümmel mitwirkten.

    Doch zurück zur Neu-Übersetzung von "Krieg und Frieden": Barbara Conrad hat vermieden, was ihre Vorgänger, einem anderen, wie sie es nennt "auf den Leser ausgerichteten" Verständnis von Übersetzung folgend, durch die Bank getan haben: den Inhalt ungeachtet seiner sprachlichen Gestalt zu transportieren. Sie hat Tolstojs Stil nicht geglättet und auf vermeintliche Eleganz getrimmt. Seine geradezu manischen Wort-Wiederholungen wiederholt sie eben auch und schiebt ihm nicht schulmeisterlich ein anderes Wort unter. Ein weiteres Merkmal seines Stils, die parallel geführten Satzkonstruktionen, behält sie bei und macht sie erstmals für deutsche Leser erfahrbar. Wenn Anna Pavlovna am Morgen ihrer Soiree einen "roten Lakaien" mit den Einladungskarten herumschickt, so wird nicht erklärend ein "Lakai in roter Livree" daraus. Wer wissen will, was ein "roter Lakai" ist, findet das Nötige im Anhang.

    Wie ungewohnt und fordernd das an manchen Stellen sein mag – aufs Ganze gesehen hat Barbara Conrad mit ihrer transparenten Übersetzungskunst eine so entschlackte, strahlende deutsche Fassung des großen Klassikers geschaffen, dass man sie und ihre Leser nur beglückwünschen kann.

    Mit welcher Sorgfalt und welchem Recherche-Aufwand die Übersetzerin zu Werke gegangen ist, zeigen die 50 Seiten Anmerkungen zu allen historischen Personen, Ereignissen und Details des Lebensstils einer versunkenen Epoche und Gesellschaftsschicht. Graf Lev Tolstoj, aus einer alten, sehr angesehenen Familie stammend, die in Russland Militärs und Staatsmänner gestellt hatte, kannte sich aus mit dem Luxus und den Moden der Zeit. Jagden, Diners und die Ballroben seiner Heldinnen beschreibt er mit einer Freude am Detail, die den Kenner verrät. Comme il faut zu sein, war ihm in seiner Jugend als höchste Eigenschaft eines Menschen erschienen.

    Sein Vorwort zur Urfassung von "Krieg und Frieden" 1866 – diese Version des Romans veröffentlichte er nicht, sondern baute sie zu dem uns heute bekannten Werk aus – ist nicht frei von aristokratischem Hochmut:

    "Ich bin kein Kleinbürger, wie Puschkin mit Stolz sagte, und ich sage frei heraus, dass ich Aristokrat bin, von Geburt, von meinen Gewohnheiten, meiner Stellung her. Ich bin Aristokrat, weil ich von Kindheit an in der Liebe und Achtung zum Schönen erzogen wurde, das nicht nur in Homer, Bach und Raffael zum Ausdruck kommt, sondern auch in den Kleinigkeiten des Lebens: in der Liebe zu sauberen Händen, zu schöner Kleidung, zu einem eleganten Tisch und einer eleganten Equipage. Ich bin Aristokrat, weil ich das Glück hatte, dass weder ich, noch mein Vater und mein Großvater die Not und den Kampf zwischen dem Gewissen und der Not kannten, nicht die Notwendigkeit sahen, irgendjemandem etwas zu neiden, sich zu verbeugen, nicht die Erfordernis kannten, sich um des Geldes, um der Stellung in der Gesellschaft und ähnlicher Heimsuchungen willen, auszubilden."
    In der Tatsache, dass nicht alle diese Privilegien besitzen, sah Tolstoj erklärtermaßen keinen Grund, sich von ihnen loszusagen und sie nicht zu nutzen. Bekanntlich tat er später genau das, als er sich – zumindest zeitweise – von der Literatur verabschiedete und "statt des bunten Abenteuers individueller Kunst" das "einfache strenge Leben verallgemeinerter Menschlichkeit" suchte, um Nabokovs Worte zu gebrauchen.

    Auch wenn in Tolstojs Leben vieles nach einer radikalen Wende aussieht, sollte man doch nicht von einem Bruch sprechen – als wären seine späteren Werke, "Der Tod des Ivan Iljitsch" etwa, nicht auch große Literatur. Nabokov hat seine Kunst "so mächtig, so strahlend, so originär und umfassend" genannt, "dass sie die Predigt spielend überwindet". Und andererseits ist auch "Krieg und Frieden" nicht frei von den Gedanken, die ihn später umtrieben. Misogyn grundierte Kritik an der Ehe formulierte er nicht erst in der "Kreutzersonate" – schon der jung verheiratete, maßlos ehrgeizige Fürst Bolkonskij rät seinem Freund Pierre mit deutlichen Worten von einer Heirat ab:

    ""Heirate nicht, bis du dir sagen kannst, dass du alles getan hast, was du konntest, und bis du aufgehört hast, die Frau zu lieben, die du dir ausgesucht hast, bis du sie klar erkennst, sonst machst du einen grausamen, irreparablen Fehler. Heirate, wenn du alt bist und zu nichts mehr taugst. Sonst geht alles verloren, was gut und edel ist in dir, wird an Nichtigkeiten vergeudet. Ja, ja, ja! Sieh mich nicht so erstaunt an. Solltest du noch etwas von dir erwarten, wirst du auf Schritt und Tritt spüren, dass für dich alles vorbei ist, alles dir verschlossen ist außer dem Salon, wo du dann auf einer Stufe stehst mit Hoflakaien und Idioten. Was rede ich!"
    Er winkte energisch ab.
    Pierre nahm die Brille ab, wodurch sich sein Gesicht veränderte, seine Gutmütigkeit noch deutlicher hervortrat, und blickte erstaunt auf den Freund.
    "Du verstehst nicht, weshalb ich das sage", fuhr Fürst Andrej fort. "Du behauptest, Bonaparte und seine Karriere", sagte er, obgleich Pierre überhaupt nicht von Bonaparte gesprochen hatte. "Du behauptest, Bonaparte; aber Bonaparte ging, wenn er arbeitete, Schritt für Schritt auf sein Ziel zu, er war frei, hatte nichts als sein Ziel, und das erreichte er. Aber verbinde dich mit einer Frau – und wie der Sträfling im Block verlierst du jede Freiheit. Salons, Klatsch, Bälle, Eitelkeit und Trivialität – das ist der Teufelskreis, aus dem ich nicht heraus kann. Diese törichte Gesellschaft, ohne die meine Frau nicht leben kann, und diese Frauen. Mein Vater hat recht. Egoismus, Eitelkeit, Stumpfsinn, Erbärmlichkeit in allem – das sind die Frauen, wenn sie sich zeigen, wie sie sind. Siehst du sie in der Gesellschaft, dann scheint es, als wäre da was, dabei ist da nichts, nichts, nichts! Ja, heirate nicht, mein Lieber, heirate nicht", schloss Fürst Andrej."

    Auch Tolstojs spätere Fixierung auf den Tod deutet sich in "Krieg und Frieden" schon an – so viel und so unterschiedlich wird hier gestorben, dass man bei aller glühenden Lebensbejahung, die aus diesem Werk spricht, von einer regelrechten Todes-Erkundung sprechen kann. Deutlich ausgeprägt ist bereits seine Verehrung und Idealisierung des einfachen Volkes, des russischen Bauern, seiner Demut und naturwüchsigen Schlichtheit, am schönsten wohl in der Figur des Bauern Platon Karatajev, der zusammen mit Pierre Besuchov in französische Gefangenschaft gerät:

    "Platon Karatajev musste wohl über fünfzig Jahre alt sein, nach seinen Erzählungen über die Feldzüge zu urteilen, an denen er als altgedienter Soldat teilgenommen hatte. Er selbst wusste nicht und war außerstande, genauer zu bestimmen, wie alt er war; doch seine Zähne, hellweiß und kräftig, die in ihren beiden Halbkreise immer zum Vorschein kamen, wenn er lachte (was er häufig tat), waren alle gut und heil; kein einziges graues Haar gab es in seinem Bart und seinen Haaren, und sein ganzer Körper wirkte geschmeidig und vor allem stabil und ausdauernd. Er konnte alles, nicht besonders gut, aber auch nicht schlecht. Er backte, kochte, nähte, hobelte und flickte Stiefel. Er war immer beschäftigt und gestattete sich nur nachts Gespräche, die er liebte, und Lieder. Er sang die Lieder nicht wie Liedersänger singen, die wissen, dass man ihnen zuhört, sondern wie Vögel singen, offenbar, weil es ihm ein Bedürfnis war, diese Töne von sich zu geben, wie es ein Bedürfnis ist, sich zu recken und zu strecken; es waren immer feine, sanfte, fast weibliche, melancholische Töne, und sein Gesicht war dabei sehr ernst.
    Als er in Gefangenschaft geriet und sich den Bart wachsen ließ, warf er offenbar alles ab, das Fremde, Soldatische, das ihm übergestülpt worden war, und kehrte unwillkürlich zu seiner ursprünglichen volkstümlich-bäuerlichen Art zurück. Die Redensarten, von denen sein Reden voll war, waren nicht von der meist unanständigen und frechen Art, wie Soldaten sie benutzen, sondern es waren volkstümliche Sprüche, die so unbedeutend wirken, wenn man sie für sich nimmt, jedoch plötzlich die Bedeutung einer tiefen Weisheit erlangen, wenn sie im rechten Moment gesagt werden."

    Dass wir Tolstojsche Helden wie Platon Karatajev so plastisch vor uns sehen und sie uns immer, wie alte Bekannte erscheinen, führte Nabokov nicht auf die lebhafte Wahrnehmung des Autors zurück, sondern auf ein Geheimnis seines Zeitgefühls: "Tolstojs Prosa hält Schritt mit unserem Puls" sagte er in seinen Literatur-Vorlesungen, "seine Gestalten scheinen sich im selben Rhythmus zu bewegen wie die Menschen, die am Fenster vorübergehen, an dem wir beim Lesen seines Buches sitzen."

    Man kann es ausprobieren mit Barbara Conrads neuer Übersetzung – und wird eine weitere Entdeckung Nabokovs bestätigt finden: "... wer Tolstoj liest, liest einfach weiter, weil er nicht mehr aufhören kann".

    Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Neu übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad. Hanser Verlag, München 2010, Band eins: 1102 Seiten; Band zwei: 1182 Seiten