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"Idealist" im Dienste Hitlers

Karl Brandt zeichnete mitverantwortlich für unmenschliche Experimente an Menschen in den Konzentrationslagern der Nazis. Der Historiker Ulf Schmidt hat nun eine Biografie Brandts vorgelegt, die mehr aufzeigt, als den Lebensweg eines Mediziners aus dem engsten Umfeld Hitlers.

Von Conrad Lay | 10.08.2009
    Karl Brandt war eine "politische Schlüsselfigur" des Naziregimes; als Reichskommissar des Sanitäts- und Gesundheitswesens, Gruppenführer der SS und Generalleutnant der Waffen-SS verstand er sich als so genannter "Idealist" und steht damit prototypisch für eine ganze Generation von NS-Ärzten und Reformpsychiatern der dreißiger Jahre. Nachdem Hitler Karl Brandt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Tode verurteilt hatte, er der Vollstreckung des Urteils aber knapp entgangen war, machten ihn die Amerikaner 1946 als ranghöchsten deutschen Mediziner zum Hauptangeklagten im Nürnberger Ärzteprozess.

    "Your name is Karl Brandt?" - "Jawoll" - "Guilty or not guilty?" - "Ich erkläre jetzt auf nicht schuldig."
    Karl Brandt stellte sich als moralisch untadeliger Mediziner, als "Idealist" dar - was ist davon zu halten? Der durch die NS-Ärzte definierte "therapeutische Idealismus" begriff Gesundheit als Kollektivgut zur Heilung des "Volkskörpers". Als Ziel galt ihnen eine Volksgemeinschaft der Gesunden und Starken, letztlich die Utopie einer leidensfreien Gesellschaft. Am Ende des Prozesses sagte Karl Brandt in seinem Schlusswort:

    "Hier stehe ich unter furchtbarster Anklage. Als wenn ich nicht nur nicht Arzt wäre, sondern auch ein Mensch ohne Herz und Gewissen. Glaubt man, es sei mir ein Vergnügen gewesen, als ich den Ermächtigungsauftrag zur Euthanasie erhielt?"
    Karl Brandt erklärte, er habe Wert gelegt auf höchste "ethische" Maßstäbe bei der Umsetzung einer - wie er formulierte - "ehrlichen Euthanasie". Wobei er Letztere selbstverständlich im Sinne des rassenhygienischen Programms der Nazis verstand. Ulf Schmidt schreibt:

    In der Weltsicht Brandts und anderer Naziärzte war die Ermordung Zehntausender eine medizinische Operation. Zugleich glaubten sie tatsächlich, dass ihre Handlungen mit Hilfe ihrer edlen Motive gerechtfertigt werden könnten.
    Auf allen Ebenen der eugenischen und rassischen Aussonderungsmaschinerie waren deshalb Ärzte vorzufinden. Karl Brandt erwies sich innerhalb dieses Systems als besonders dienstbeflissen: So berichtet Ulf Schmidt, dass Brandt zunächst eigenhändig Giftspritzen verabreichte und später die erste Vergasung persönlich überwachte. Brandts Denkschema zufolge konnte er den Tötungen als Arzt erst zustimmen, nachdem er das Gas als - seiner Ansicht nach - "humanste" Tötungsart ausgemacht hatte. So zynisch es auch klingen mag: Die Nationalsozialisten hielten den Anschein einer medizinischen Behandlung aufrecht.

    Der Mythos des so genannten "Idealisten" fällt in sich zusammen, je genauer Ulf Schmidt die Strategie Karl Brandts herausarbeitet. Dank enormer Detailarbeit gelingt es dem Historiker, den "NS-Idealismus" als das darzustellen, was er war: eine Pseudo-Ethik, die den Wert des Menschenlebens nicht achtete.

    Zum zweiten, und das ist ein weiteres Verdienst von Ulf Schmidt, gelingt es dem Autor, das Herrschaftsgefüge im innersten Kreis Adolf Hitlers offen zu legen. An der Person Karl Brandt, der ja beständig Zugang zu Hitler hatte, lassen sich die Kompetenzunklarheiten, die konkurrierenden Hierarchien besonders gut aufzeigen. Ulf Schmidt:

    Hitlers personalisierte Herrschaftsform fragmentierte und verzerrte die Staatsadministration und etablierte eine Vielzahl einander überschneidender und miteinander konkurrierender Institutionen und Ämter, die allein vom 'Führerwillen' abhängig waren.
    Der Kompetenzwirrwarr hatte durchaus eine gewisse Logik: dieses gewissermaßen "polykratische Regime" führte zu einer - wie Schmidt es bezeichnet - "kumulativen Radikalisierung". Jede der Nazigrößen wollte in vorauseilendem Gehorsam und in Erwartung, den Wünschen des Führers zu entsprechen, noch radikaler vorgehen. Klarer Befehle bedurfte es in einer solchen Situation nicht.

    An Schmidts Arbeit lässt sich auch der neueste Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft ablesen: Während man noch in den achtziger Jahren das Ende des Euthanasieprogramms auf das Jahr 1941 datierte, entdeckte man in der Folgezeit, dass das Morden in dezentralisierter Form als so genannte "wilde Euthanasie" fortgesetzt wurde. Doch der Autor weist nach, dass das NS-Herrschaftsgefüge mit der Bezeichnung "dezentralisiert" nicht angemessen beschrieben ist. So war Karl Brandt darum bemüht, die Verantwortung für die Durchführung der Euthanasie abzuwälzen und zu verschleiern. Dies gilt gerade auch für die zweite Phase, als der Krankenmord 1941 offiziell beendet war, aber das Töten weiterging, jetzt allerdings ohne schriftlichen "Führerbefehl". Brandt begnügte sich damit, dass diejenigen, die die Euthanasie durchführen sollten, annahmen, sie handelten im Sinne Hitlers, oder eine Stufe darunter: im Sinne Karl Brandts, der schließlich unmittelbaren Zugang zu Hitler hatte, und daher wissen musste, was der Führer wollte. Ulf Schmidt nennt dieses Vorgehen "distanzierte Führung":

    Die Nazis hatten eine Form der Kommunikation kultiviert, die es der Führung ermöglichte, Ausmaß und Tempo rechtswidriger Handlungen über versteckte Anspielungen und Euphemismen zu kontrollieren. Und an der Basis war man bestrebt, diese richtig zu interpretieren.
    Ulf Schmidt gelingt es in erstaunlicher Detailarbeit, diese zunächst verwirrenden Strukturen herauszuarbeiten und die verhängnisvollen, sich radikalisierenden Folgen darzustellen, die daraus resultierten. Er scheut sich nicht, im Einzelfall auch Karl Brandt als glaubwürdigen Zeitzeugen heranzuziehen, wobei er stets sorgfältig abwägt. Exakter kann man wohl kaum eine Person und das Räderwerk beschreiben, in dem sich das Individuum Brandt bewegt und das zugleich durch ihn bewegt wird. Das Wort "Analyse" ist hier überaus zutreffend: Ulf Schmidt nimmt die Maschinerie der NS-Herrschaft Rädchen für Rädchen auseinander, bis deren Mechanik offen liegt und das scheinbare Rätsel einer sich radikalisierenden Herrschaftsstruktur gelöst ist. Insgesamt eine aufregende, höchst aufschlussreiche Biografie, die weit über die Lebensgeschichte Karl Brandts hinausgeht.

    Das Versteckspiel, das Karl Brandt im Nürnberger Prozess um seinen so genannten "Idealismus" aufbaute, war letztlich kein Erfolg. Die amerikanischen Militärrichter verurteilten ihn zum Tod durch Erhängen.

    "Military tribunal One ... sentence ... Karl Brandt to death by hanging. May God have mercy upon yourself."

    Conrad Lay war das über: Ulf Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt - Medizin und Macht im Dritten Reich. Das Buch ist im Aufbau-Verlag erschienen, hat 750 Seiten und kostet 29,95 Euro.