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Identitätsverlust und Euroskepsis

Lettland wird als 18. Land den Euro bekommen, doch die Letten brechen nicht gerade in Jubel aus wegen des neuen Zahlungsmittels. Das hat weniger wirtschaftliche Gründe, als vielmehr historische und ethnische.

Von Sabine Adler | 09.07.2013
    Wenn man Letten fragt, was sie richtig gern tun, bei den meisten wie aus der Pistole geschossen: Singen. Aiva Rosenberga legt sofort los mit der lettischen Nationalhymne.
    Gesungen wird auf Lettisch, meist im Chor. Als am Wochenende Bundespräsident Joachim Gauck Lettland besuchte, nahm er selbstredend am allerwichtigsten Ereignis der Nation teil, dem Sängerfest.

    Die russischsprachige Minderheit, in Lettland ist das jeder Dritte, bleibt dabei draußen, denn viele, auch wenn sie bereits jahrzehntelang in Lettland leben, beherrschen die Sprache des Zweimillionenvölkchens kaum. Sie wollten Russisch zur zweiten Amtssprache erheben, die Letten lehnten ab, obwohl sie häufig Russisch können. Die Letten hängen an allem, was Lettisch ist. An ihrem Lats zum Beispiel. Die lettische Währung gilt ihnen als Symbol ihrer Unabhängigkeit, der Überwindung der russischen bzw. sowjetischen Okkupation. Deswegen, nicht wegen der Krise, tauschen sie ihn nur ungern gegen den Euro ein.

    Anna Muhkas Familie harrte während der Besatzung in Schweden aus, kehrte zurück, als Lettland seine Souveränität wiedererlangt hatte.

    Anna Muhka:
    "Es war bei uns zu Hause irgendwie immer klar: Wenn Lettland mal frei wird, ziehen wir nach Hause. Ich und meine Familie hatten das Glück, dass das klappte. Aber das wir nach Hause ziehen, das war klar."

    Im Zweiten Weltkrieg besetzte Stalin Lettland, eine Herrschaft, die nach dem Sieg über Hitlerdeutschland fortgesetzt wurde. Die lettischen Partisanen wehrten sich bis 1952. Detlef Henning vom Nordost-Institut der Universität Hamburg.

    "Um diese Unterstützung der Partisanen zu brechen, hat man am 25. März 1949 in einer großen Aktion nochmals 50.000 Bauern in einer Nacht nach Sibirien deportiert."

    Das war die dritte Massendeportation durch die Sowjets. Die Erste fand am 14. Juni 1941 statt, kurz bevor Deutschland die Sowjetunion und damit auch Lettland überfiel. 15.000 Menschen wurden nach Sibirien transportiert. Ein Ereignis, das sich eingebrannt hat ins kollektive lettische Gedächtnis und auch Künstler bewegt. Ein Glasmaler beispielsweise stellte die Deportation auf einem Kirchenfenster dar, die sonst Bibelszenen vorbehalten sind.

    Während der Sowjetzeit wurde das verbotene Kirchenfenster versteckt und erst 1989 wieder hervorgeholt, erzählt die heutige Diakonin Ausma Rozentahle. Sie kennt sich aus in der Geschichte des ehemals deutsch-baltischen Gutes Groß Roop, eine Autostunde von Riga entfernt.

    Noch ein Stückchen weiter, in dem kleinen lettischen Städtchen Cesis, hat in der Burg ein seltsames Begräbnis stattgefunden. Ein 20 Meter hoher Lenin aus Stein ruht hinter dem Graben und liegt in einer offenen Holzkiste.

    Detlef Henning:
    "Das Lenin-Denkmal hat man in der ersten Emphase 1991 natürlich abgeräumt. Alle anderen sowjetischen Denkmäler sind stehen geblieben und müssen auch stehen bleiben, weil es einen zwischenstaatlichen Vertrag zwischen Lettland und Russland gibt."

    Jeder Dritte in Lettland betrachtet den Euro skeptisch. Allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen. Auf der einen Seite stehen die freiheitsliebenden Letten. Auf der anderen Seite die Angehörigen der russischen Minderheit, die fürchten, sich mit dem Euro noch weiter von Moskau zu entfernen.

    Als Symbol für die andauernden Spannungen zwischen ihnen und den Letten gilt das Siegesdenkmal im Zentrum.
    Detlef Henning:
    "Da hinten neben der Nationalbibliothek sehen sie eine hohe Stele, das Siegesdenkmal. Da feiern die Russen am 9. Mai ihr großes Volksfest, mit roten Fahnen und den alten Orden. Eine Zeit lang dachte man, diese Sowjet-Nostalgie stirbt aus, aber seit Putin an der Macht ist, nimmt das wieder zu und wird von russischer Seite bewusst gefördert."

    Auch über die staatlichen Medien im benachbarten Russland, die ergreifen offen Partei, beklagt Ainras Dimants, der Chef des Staatlichen Lettischen Rundfunk-Rates.

    Ainars Dimants:
    "Der Ansporn kommt aus Russland. Das haben auch unsere Nachrichtendienste festgestellt. Über Lettland kann man ja auch Einfluss auf die Entscheidungen der Europäischen Union und der NATO nehmen. Wenn zum Beispiel eine Partei, die auf Russland orientiert ist, an die Macht kommt. Das ist hier so ein bisschen ein kalter Krieg."

    Beim Referendum 2003 stimmten die russischen Letten gegen den EU-Beitritt, die Einführung des Euros jetzt wird nicht freundlicher begleitet.

    Ainras Dimants:
    "Das sind Putin-Sender und dieser Einfluss ist klar auf die russischsprachige Bevölkerung hier und das ist spaltend."

    Dem Historiker Ilgvars Misans fällt seit einiger Zeit eine Ungereimtheit auf: Als die Deutschen einmarschierten, erhofften sich die Letten durch sie die Befreiung von den Sowjets, deswegen kollaborierten sie freiwillig mit den Nazis. Doch die deutschen Besatzerwaren noch schlimmer, brachten rund 90.000 Letten um, davon 70.000 Juden. Trotzdem, so der Historiker Misans, sind die Erinnerungen an die Gräueltaten der Nazis, wohl auch aus Scham über die Beteiligung daran, in den Hintergrund geraten, die der sowjetischen Besatzer dagegen weit stärker präsent.

    Ilgvars Misans:
    "Die größte Auseinandersetzung findet zwischen Letten und Russen statt. Also das heißt, der vorletzte Okkupant ist immer ein bisschen lieber als der letzte Okkupant."

    300.000 russische Letten, also die meisten, haben sich nicht einbürgern lassen. Sie bekamen einen sogenannten "Nicht-Bürger-Pass", mit dem sie zwar nicht wählen, aber unbeschränkt reisen können.

    Nils Sakss vom Finanzministerium, der schon von Amtswegen die Euroskeptiker nicht überbewerten darf, mag die russischstämmigen Letten nicht über einen Kamm scheren.

    Nils Sakss:
    "Derzeit geht von Russland keine Bedrohung aus, wie wir sie in den Jahrzehnten zuvor erlebt haben. Aber Russland hat wirtschaftliche Interessen im Baltikum und wir können davon profitieren, quasi als Brücke von Russland in die EU, denn bei uns hat jeder Dritte Russisch als Muttersprache. Ein Unternehmer sagte mir: Wenn man der Euro-Zone angehört, befindet man sich in einem zivilisierten Land und genießt mehr Vertrauen."

    In einem aber gibt es keinen Unterschied, jedenfalls nicht bei den Frauen: Das Kopfsteinpflaster in der Altstadt von Riga nehmen Lettinnen und Russinnen gleichermaßen souverän – auf High Heels.