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Ideologie der Zumutungen

Ideologiefrei und alternativlos sind die Stichworte, auf die sich der Werbefeldzug für mehr Markt und weniger Staat im Wesentlichen stützt. Wie die Strategie zur Durchsetzung dieses Konzepts im Weltmaßstab funktioniert, beschäftigt Wissenschaftler verschiedener Disziplinen. In einem Sammelband hat deshalb Christoph Butterwegge, gemeinsam mit Bettina Lösch und Ralf Ptak unterschiedliche Forschungsergebnisse zusammengestellt. Ruth Jung hat die 21 Beiträge für uns gelesen.

Von Ruth Jung | 25.02.2008
    Der Neoliberalismus ist eine Kampfansage an alle, die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, eine Ideologie der Zumutungen an die Beherrschten, die auf Verzicht, auf Verarmung, verschärfte Ausbeutung, Unterwerfung und Botmäßigkeit in allen Aspekten des Lebens zielt, während das Bürgertum, soweit es nicht selbst Opfer der Restrukturierung ist, seine Gewinne steigert und sich triumphierend selbst feiert,
    so der Politologe Alex Demirovic, dessen Studie Neoliberalismus und Hegemonie den prominent besetzten Sammelband eröffnet. Seine Herausgeber stellen sich der Herausforderung, das "neoliberale Projekt" selbst wieder ins Zentrum zu rücken, wie der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge einleitend schreibt, weil in den meisten der mittlerweile zahlreichen Publikationen die Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis des Neoliberalismus sowie möglichen Gegenstrategien gar nicht im Vordergrund stehe. Tatsächlich ist der Begriff seit Ende der 90er Jahre zu einem politischen Schlagwort geworden, das sehr allgemein für die negative Entwicklung der sogenannten Reformprozesse steht, die im Kern auf die Demontage erkämpfter Sozialrechte und letztendlich den Abbau des Sozialstaats zielen.

    Was aber genau unter Neoliberalismus zu verstehen ist, welche theoretischen Verortungen sich ausmachen lassen, welche gesellschaftlichen Bereiche neoliberaler Wirkungsmächtigkeit im Einzelnen zu analysieren sind, wie die verschiedenen die Produktionsverhältnisse definierenden Fraktionen des Kapitals ihre Identität im Neoliberalismus finden, blieben bisher weitgehend unbeantwortet. Hier versprechen die 21 Beiträge renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue Analysen und Einsichten, mehr noch: im vierten und letzten Kapitel des umfangreichen Bandes werden "Alternativen für eine postneoliberale Agenda" vorgestellt. Diese Verknüpfung von theoretischer Erkenntnis mit Vorschlägen zur praktischen Umsetzung macht das Buch besonders lesenswert.

    Zwar sei der Neoliberalismus seit der Jahrtausendwende zunehmend in eine Legitimationskrise geraten, sind sich alle Autoren einig, dennoch sei die Dominanz dieser auf globale Machtergreifung zielenden Ideologie vorläufig ungebrochen. Und deren Verfechter wären bereit, ihre Interessen notfalls auch mit diktatorialen Mitteln zu verteidigen.

    Auch Christoph Butterwegge zeigt in seinem grundlegenden Beitrag Marktradikalismus und Rechtsextremismus die dem Neoliberalismus eigenen totalitären Tendenzen auf.

    Als "passive Revolution" beschreibt der Politologe und Wirtschaftswissenschaftler Elmar Altvater im Beitrag Globalisierter Neoliberalismus die historisch-ökonomische Entwicklung seit den 70er Jahren. Mit der Regierungsübernahme von Margret Thatcher 1979 in Großbritannien sei der keynesianisch-korporative Klassenkompromiss am Ende gewesen. Sie stehe für die "moderne Version des Neoliberalismus" und die vollständige Liberalisierung der Finanzmärkte. Mit ihrer radikal marktorientierten Politik und Rhetorik machte die "eiserne Lady" den Weg frei für die "Konterrevolution" der Neoliberalen. Welchen Wahnwitz dieses auf kurzfristigen ökonomischen Gewinn gerichtete System hervorbringt, diskutiert Elmar Altvater am Beispiel der "verrückten"und nichtsdestotrotz allgemein akzeptierten Idee des Handels mit sogenannten Emissionszertifikaten:

    Dabei geht es um die Privatisierung der Atmosphäre als Deponie für Treibhausgase durch Ausgabe von Emissionszertifikaten, die auf dem Markt, nach Vorstellung der Vertreter dieser Idee auf einem Weltmarkt für Verschmutzungsrechte, gehandelt werden können. Finanzinstitutionen erblicken im Zertifikatehandel ein neues Feld der Kapitalanlage oder eine Chance, sich als Makler und mit Beratungsdienstleistungen ein Stück aus dem Kuchen zu schneiden. An dem Geschäft auf dem Verschmutzungsmarkt sind inzwischen Hunderte von Händlern, Maklern und Vermittler beteiligt, darunter auch große Bankhäuser, die an den Gebühren gut verdienen. Warum unterstützen Vertreter/innen von grünen Parteien und Umweltorganisationen dieses Instrument,
    statt sich dafür einzusetzen, dass der Ausstoß von Treibhausgasen massiv reduziert wird? Doch der Markt, so Altvater, gelte eben als adäquater Problemlöser für alle Wechselfälle der Industriegesellschaft. Altvater sieht im Neoliberalismus eine "konzertierte Aktion", ein geplantes und gesteuertes Projekt. Wie aber ist zu erklären, dass neoliberale Dogmen zu allgemein akzeptierten "Wahrheiten" werden konnten? Sollte es auch daran liegen, dass, wie Elmar Altvater meint, der Neoliberalismus eine "sehr optimistische Ideologie" ist

    die das Dogma einschließt, dass die Menschheit für alle Probleme, denen sie ausgesetzt ist, geeignete Lösungen findet. Auch der Klimakollaps oder die absehbaren Grenzen der Versorgung mit fossilen Brennstoffen lassen sich nach neoliberalem Verständnis mit Hilfe des Marktmechanismus lösen.
    Dabei hat sich die Formel "Der Markt wird es richten" längst als gefährlicher Irrtum erwiesen. Dennoch gelingt es den Vordenkern und Wortführern immer wieder, die neoliberalen Dogmen und Normen in den Köpfen der Menschen zu verankern.

    Welchen Einfluss die im Lifestyle-TV dargebotene Marktlogik auf die moderne Lebensführung hat, zeigt Tanja Thomas in ihrem Beitrag; und welche absurde Funktion neuerdings der Wissenschaftstheorie an den Universitäten zukommt, die "das Prinzip des Nichtwissens im Jahrhundert der Wissenschaften" vertreten, analysiert Jürgen Nordmann. Annäherungen, die insgesamt richtungweisend sein können, um sich der beunruhigenden Frage zu stellen, warum die Ideologie des Neoliberalismus auch die letzten Bastionen der Zivilgesellschaft, Universitäten, Schulen und unabhängige Medien, hat erreichen können.

    Dass es auch innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems durchaus Alternativen gäbe, entwickelt der Jesuit und Frankfurter Professor für Christliche Ethik Friedhelm Hengsbach auf erfrischend konkrete Weise. Hengsbach schlägt "eine demokratische Aneignung des Kapitalismus" vor und geht dabei von zentralen - einfachen - Erkenntnissen Marxscher Gesellschaftsanalyse aus. Hengsbach schreibt:

    In der ausschließlichen Orientierung am Gewinn statt an der Wertschöpfung manifestiert sich der kapitalistische Interessenkonflikt, dass die Einkommensansprüche der Kapitaleigner die Ansprüche der anderen Vermögensträger verdrängen, dass der Kapitalismus also die Vorleistungen der Natur, der Arbeit, der Gesellschaft wenn nicht zum Nulltarif, so doch weithin unter dem angemessenen Preis in Anspruch nimmt. Eine demokratische Aneignung des Kapitalismus würde darin bestehen, den ökologischen, sozialen und humanen Ansprüchen ein größeres Gewicht zu verleihen.
    Zur "Vergötzung des Marktes", so Hengsbach unter Bezugnahme auf die römisch-katholische Sozialverkündigung, gebe es eine Alternative, nämlich die Ordnung des Marktes durch gesellschaftliche Kräfte und staatliche Organe. Eine Position, die nicht etwa von Attac stammt, sondern aus einer Verlautbarung von Papst Johannes Paul II.

    Wenn die "Entwendung" eines Teils der Wertschöpfung, die zustandekomme durch gemeinsam erbrachte Leistungen, durch den Einsatz von Kapital und Arbeit nämlich, wenn die Gewinne also einseitig auf den Konten von Aktionären und Spitzenmanagern landeten, dann sei dies nichts anderes als eine unerträgliche Anmaßung:

    Anders als das Eigentum an Gebrauchsgütern, die durch eigene Arbeit erworben werden, kann das Eigentum an Produktionsmitteln nur unter Einsatz fremder Arbeitskraft, nämlich abhängig Beschäftigter, produktiv eingesetzt und gewinnbringend vermehrt werden. Folglich ist die durch Einsatz von Arbeit und Kapital gemeinsam erbrachte Wertschöpfung kein ausschließlich privates Gut der Aktionäre, sondern Eigentum aller, die sich im Unternehmen engagieren. Wenn den Mitarbeiterinnen der ihnen zukommende Teil der Wertschöpfung entrissen und einseitig auf die Konten der Aktionäre und Spitzenmanager überwiesen wird, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit und Solidarität verletzt.

    Eine Rezension von Ruth Jung über: Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, herausgegeben von Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak, erschienen im VS Verlag für Sozialwissenschaften. 432 Seiten hat das Buch und kostet 24,90 Euro.