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Ideologisch geprägtes Mitleid

Am Tod und Leid anderer nehmen wir Menschen eher ungleich Anteil. Oder ist man gleichermaßen berührt, wenn in Afghanistan Amerikaner getötet werden oder afghanische Zivilisten? Eine Problematik, mit der sich Judith Butler in ihrem neuesten Buch befasst.

Von Kersten Knipp | 16.08.2010
    "Die Würde des Menschen ist unantastbar", erklärt der erste Absatz des Grundgesetzes. Schön. Fragt sich nur: Wer ist ein Mensch? Oder, mit Herbert Grönemeyer gesprochen: Wann ist ein Mensch ein Mensch? Sind es alle Menschen gleichermaßen? Oder sind es die einen mehr und die anderen weniger? Dass es sich so verhalten könnte, dieser Vermutung geht die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Judith Butler in ihrem Buch "Raster des Krieges" nach. "Warum wir nicht jedes Leid beklagen", heißt es im Untertitel. Damit ist die zentrale Frage aufgegriffen: Warum scheinen uns manche Menschen näher zu stehen als andere, und zwar auch dann, wenn wir sie gar nicht kennen? Warum erschrecken wir über den Tod eines Europäers oder Nordamerikaners mehr als über den eines Afrikaners oder Arabers? Dass es so ist, lernen wir während jeder Nachrichtensendung. Das Zugunglück in Südindien lässt uns relativ kalt, die Entgleisung eines Zugs in heimischen Gefilden beschäftigt uns auch dann, wenn ungleich weniger Tote zu beklagen sind als in Indien. Dasselbe lässt sich auch von Kriegsopfern sagen. Auch hier empfinden wir unterschiedliche Grade von Betroffenheit. Warum? Weil auch unsere Gefühle politischen Vorgaben folgen, erklärt Judith Butler. Auch unser Empfindungshaushalt ist ideologisch geprägt.

    Wenn wir einige Gruppen von Wesen, die bislang nicht wirklich als Menschen galten, für menschlich erklären, gestehen wir zu, dass der Anspruch auf "Menschsein" kein ein für alle Mal festgelegtes Vorrecht ist. Die einen nehmen ihr Menschsein als selbstverständlich an, während andere zu kämpfen haben, um Zugang zum Menschsein zu bekommen. Der Begriff "Menschsein" ist konstant doppelsinnig, in ihm kommt zugleich die Idealität und der Zwangscharakter der Norm zum Ausdruck: Die einen Menschen kommen als Menschen infrage, die anderen Menschen nicht.
    Das Phänomen leuchtet in die eher dunklen Ecken der westlichen Zivilisation – und natürlich in die der anderen Zivilisationen. Wenn wir auf ein und dasselbe Phänomen – Leid und Tod - so unterschiedlich reagieren, und zwar in Abhängigkeit davon, in welchem Teil der Welt das Phänomen auf die Bühne tritt: Was sagt das dann eigentlich über unsere ethischen Standards aus? Eines auf jeden Fall: Sie sind zumindest ausbaufähig, müssen raus aus dem Halbschattenreich der Affekte. Denn noch stehen sie unter dem Einfluss zwar wenig bewusster, aber gerade darum umso wirkungsvollerer Vorgaben. Einerseits preisen wir die globale Gültigkeit menschenrechtlicher Standards. Andererseits aber urteilen wir immer noch nach Maßgaben vormodernen Stammesdenkens: Uns rührt, was Teil von uns ist, uns zumindest aber nahe steht. Je weiter das Leid von uns entfernt ist, desto kälter lässt es uns. Das ist einerseits verständlich, denn Mitleid mit allem und jedem würde jeden Menschen überfordern. Zugleich aber haben wir symbolische Allianzen geschmiedet. Denn auch wenn wir es nicht gern hören: Der Tod eines Amerikaners trifft uns immer noch mehr als der eines Arabers. Doch in Zeiten einer zusammenwachsenden und damit auch immer konfliktreicheren, immer bedrohteren Welt sind diese Standards zu schwach. "Framings", "Rahmen", nennt Judith Butler die ideologischen Vorgaben, die unsere Empfindung regulieren – und die es um des globalen Friedens willen unbedingt zu korrigieren gilt.

    Es gibt Arten des Framings, durch welche das Menschsein in seiner Fragilität und Gefährdung vor Augen geführt wird und durch die es uns möglich wird, für den Wert und die Würde des menschlichen Lebens einzustehen und mit Zorn auf seine Entwürdigung oder Entwertung zu reagieren. Und es gibt Rahmensetzungen, die jede Empfänglichkeit ausschließen, und die selbst permanent diesen Ausschluss betreiben, indem sie gleichsam negieren, was nicht explizit gezeigt wird. Alternative Rahmen, die andere Inhalte zuließen, würden vielleicht ein Leid vermitteln, das unsere politische Einschätzung der letzten Kriege verändern könnte.
    Eben darauf kommt es an: Sensibel zu machen für das Leid der anderen. Denn das den Anderen, sprich: den Schwächeren sorglos zugefügte Leid kommt als Bumerang zurück. Immer wieder bezieht sich Judith Butler auf den von der Bush-Regierung provozierten Irakkrieg und den in dessen Folge aufgetretenen Terrorismus. Der hat nach dem 11. September in den Vereinigten Staaten nur darum nicht zuschlagen können, weil so viel Geld und Energie in Geheimdienstarbeit und Heimatschutz investiert wird. Aber gerade diese Aufrüstung zeigt, wie riskant und potenziell folgenreich das Messen mit zweierlei Maß ist. Die Frage ist zudem, wie lange sich diese Abwehrmechanismen finanzieren lassen – und wo die nächsten Lücken sind, die Terroristen finden werden. Unser Empfinden ist gespalten, schreibt Judith Butler, weil auch unsere politischen Vorgaben es sind.

    Es kann nicht sein, dass der andere der Zerstörung ausgesetzt ist, ich aber nicht, und umgekehrt. Es kann nur sein, dass als gefährdet begriffenes Leben ein Allgemeinzustand ist, der sich unter bestimmten politischen Bedingungen radikal verschärft oder radikal verleugnet wird. ... Die erläuterte Spaltung hat ihren Platz in einer Politik, die beim Gedanken an die Zerstörbarkeit der eigenen Nation oder der ihrer Verbündeten von Entsetzen getrieben ist. Sie bildet einen Riss im Herzen des Subjekts des Nationalismus, einen Riss, über welchen dieses Subjekt sich keine Rechenschaft ablegt.
    Zuletzt ist Butlers Essaysammlung eine Meditation über die condition humaine. Der Mensch, schreibt sie, ist nicht allein in der Welt. Er ist es auf fundamentale Weise nicht. Auf sich allein gestellt, ohne andere, kann er nicht existieren. Der Gedanke scheint heute, in Zeiten globaler Überbevölkerung, nicht mehr sonderlich relevant. Und doch bildet er vielleicht die Grundlage einer neuen Ethik. Diese müsste klar herausarbeiten, dass die Achtung des Menschen vor dem Menschen ein dringendes Gebot der Stunde ist. Denn Aktion provoziert Reaktion. Und da die Regionen der Welt durch die Technik – auch Kriegstechnik – immer näher aneinander rücken, wird das Risiko, angegriffen zu werden, auch für die westlichen Gesellschaften immer größer. Hinzufügen muss man freilich auch, dass wir das nicht erst durch Judith Butler erfahren. Den Hinweis aber, dass wir unseren Gefühlen nicht allzu vorschnell vertrauen sollten, kann man nicht oft genug geben. Unsere Empfindungen sind längst nicht so spontan, wie wir meinen. Insofern hat Judith Butler ein kluges Buch gegen unsere Neigung geschrieben, unseren Eindrücken nur darum zu vertrauen, weil sie "aus dem Bauch" kommen. Der Bauch ist ein Verdauungsinstrument. Zur Beurteilung politischer Fragen sollten wir den Kopf benutzen.

    Judith Butler: Raster des Krieges - Warum wir nicht jedes Leid beklagen. 180 Seiten, erschienen im Campus Verlag, der Preis beträgt 19 Euro 90, ISBN 9783593391557.