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"Ihr Europäer nehmt Menschenhandel einfach nicht ernst genug"

Jährlich werden mehrere hunderttausend Menschen nach Europa verschleppt, fast die Hälfte der Opfer sind Frauen, die in die Prostitution gezwungen werden. In den Niederlanden versucht die Polizei seit drei Jahren einen nigerianischen Frauenhändlerring zu sprengen. Seit diesem Frühjahr stehen nun zehn Angeklagte vor Gericht.

Von Kerstin Schweighöfer | 11.05.2009
    Gift hat ihre beiden Töchter vom Kindergarten abgeholt. Die 27 Jahre alte Nigerianerin wohnt in einem Reihenhäuschen irgendwo in den Niederlanden. Den Ort will sie nicht nennen, auch ihren vollständigen Namen nicht.

    Denn Gift ist das Opfer von Menschenhändlern und hat immer noch Angst um das Leben ihrer Familie. Mit 17 Jahren wurde sie von einem nigerianischen Bekannten in die Niederlande gelockt:

    "Ich kam nach Europa, um der Armut zu entfliehen", erzählt die junge Frau. Sie sollte für ein nigerianisches Ehepaar in Holland als Au-pair-Mädchen arbeiten, doch stattdessen landete sie in der Zwangsprostitution.

    Hunderten, wenn nicht Tausenden anderer junger Frauen aus Nigeria ist es bereits ebenso ergangen. Die Täter wenden immer dieselbe Methode an. Das hat die Operation "Koolvis" deutlich gemacht: Die nigerianischen Mädchen landen auf Amsterdam-Schiphol. Es gibt Direktflüge aus Nigeria, dadurch sind die Niederlande für die Menschenhändlerbanden das Tor zu Europa. Dann beantragen die Mädchen Asyl. Denn in den Niederlanden landeten minderjährige Asylbewerber bis vor Kurzem in offenen, kinderfreundlichen Auffangzentren. Ein weiteres Bandenmitglied fängt sie dort ein paar Wochen später ab und reist mit ihnen weiter durch Europa zu einem Bordell. Das wird in der Regel von einer so genannten "Madame" geleitet, einer nigerianischen Frau.

    Allein in den letzten beiden Jahren verschwanden auf diese Weise 140 minderjährige Nigerianerinnen aus niederländischen Asylbewerberheimen in den Bordellen Europas. Hilfsorganisationen sprechen von der Spitze eines Eisberges.

    Gift landete bei einer "Madame" in Italien, die sie wie eine Sexsklavin ausbeutete und misshandelte:

    "Ich wurde für 12.000 Dollar an sie verkauft, ich hörte, wie sie am Telefon über den Preis verhandelten. Ich musste jeden Tag von sechs Uhr abends bis zehn Uhr am nächsten Morgen als Prostituierte arbeiten, das waren jedes Mal 20 oder 25 Männer. Ich weiß nicht mehr, wie ich das überleben konnte, ich habe jeden Tag geweint, ich dachte, ich würde sterben."

    Nach einem Jahr wurde Gift nach Leipzig weiterverkauft. In diesem Bordell war die Aufsicht weniger streng, Gift gelang die Flucht. Mit dem Zug reiste sie zurück nach Holland. Dort suchte sie bei Hilfsorganisationen Schutz und wagte es, Anzeige zu erstatten:

    "Es war eine sehr schwere Entscheidung, denn sie hatten mir ja immer wieder gedroht, mich und meine Familie zu töten, wenn ich zur Polizei gehen würde!"

    Um die Mädchen einzuschüchtern, werden viele vor ihrer Abreise mit einer Art Voodoo-Bann belegt: Dazu müssen sie einem Priester ein Säckchen mit Blut, Haaren und Nägeln übergeben. Im "Koolvis"-Prozess wurde deshalb ein nigerianischer Priester eingeschaltet:

    "Der hat mit den Mädchen gesprochen und den Bann gebrochen", erklärt Staatsanwalt Warner ten Kate. Zehn Mädchen haben sich daraufhin getraut, Anzeige zu erstatten.

    Gifts Täter wurden in einem anderen Verfahren bereits verurteilt - zu vier Monaten Haft. "Unbegreiflich!" findet die junge Frau:

    "Ihr Europäer nehmt Menschenhandel einfach nicht ernst genug! So wird das nie aufhören! Ich war so wütend. Keiner kann sich vorstellen, was es für uns Opfer bedeutet! Wie man versuchen muss, sein Leben zurückzubekommen. Man kann nicht vergessen, und trotzdem muss man weiterleben."

    In den Niederlanden wurde die Höchststrafe für Menschenhandel inzwischen von sechs auf acht Jahre erhöht; bei minderjährigen Opfern sind es sogar zwölf Jahre. Der offene Auffang für minderjährige Asylbewerber wurde abgeschafft, obwohl diese nun protestieren, da sie sich wie in einem Gefängnis vorkommen. Und ein Spezialteam der niederländischen Justiz fängt direkt vor Ort in Nigeria alleinreisende minderjährige Mädchen ohne Pass ab, bevor sie ins Flugzeug steigen können, und schickt sie zurück nach Hause. Staatssekretärin Albayrak vom Justizministerium will diese Teams auch in anderen Ländern wie Indien einsetzen.

    Außerdem sucht sie verstärkt Kontakt zu ihren EU-Kollegen. Denn gelöst werden - und da sind sich alle einig - kann dieses Problem nur zentral, auf europäischer Ebene. "Es geht doch nicht an, dass in unserem schönen, grenzenlosen Europa Minderjährige in Bordelle verschleppt werden, das ist Europa unwürdig", so das angesehene NRC Handelsblatt in einem Kommentar.

    Ökonomisch gesehen sei Europa bereits ein Hochgeschwindigkeitszug, klagt Staatsanwalt ten Kate, juristisch jedoch immer noch ein Pferd mit Karren. Deshalb machen er und seine Ermittler sich auch keine Illusionen: Amsterdam ist als Tor zu Europa inzwischen weniger einladend geworden. Doch in den letzten Monaten landen auffallend viele nigerianische Mädchen in Genf und Budapest. Der Frauenhandel geht weiter.