Freitag, 29. März 2024

Archiv


"Ihr habt alle Möglichkeiten, Europa zu gestalten"

Bundespräsident Joachim Gauck beschreibt die europäisches Staatsschuldenkrise auch als Chance, das europäische Projekt weiterzuentwickeln. "Die Bevölkerung dieses Raumes muss sich noch gewöhnen daran, dass die Nation möglicherweise nicht der letzte Wert ist", sagt er.

Joachim Gauck im Gespräch mit Stephan Detjen | 30.09.2012
    Detjen: Herr Bundespräsident, am kommenden Mittwoch feiern Sie zum ersten Mal als Staatsoberhaupt den Tag der Deutschen Einheit. Müssen wir in dieser Zeit uns mehr auf die bedrohte Einheit Europas konzentrieren als auf die vollendete Einheit Deutschlands?

    Gauck: Ich denke, wir schauen doch jetzt stärker in Richtung Europa. Das hängt natürlich mit der Eurokrise zusammen, aber es ist so vieles im Leben von Menschen und vieles auch im Leben von Staaten, passiert ja nicht Schritt für Schritt. Ein Thema wird abgearbeitet, ein Problem beendet, dann kommt das nächste, sondern verschiedene Problemlagen existieren gleichzeitig. Und so können wir uns freuen über die fortgeschrittene innere Vereinigung Deutschlands, die noch nicht abgeschlossen ist. Und gleichzeitig ist es mit Europa auch so ähnlich. Auch da haben wir enorme Fortschritte. Und die Krise zeigt uns: Oh, jetzt gibt's bald eine Grundsatzfrage, wie viel Vereinigung wollen wir und wovor fürchten wir uns.

    Detjen: Aber beides, deutsche Einheit und Einigung Europas, hängen ja auch historisch gesehen zusammen. Die deutsche Einheit war nur möglich als eine Einheit Deutschlands in einem sich weiter integrierenden Europa.

    Gauck: Sie war tatsächlich nicht anders vorstellbar. Ob sie anders möglich gewesen wäre, ist eine andere Frage. Wenn man so geschickte Politiker gehabt hätte auf allen Seiten, wie es Helmut Kohl damals in dieser Zeit war – gut, aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Europa existierte schon, es gab schon eine europäische Idee. Und es gab nicht nur Vorväter dieser Idee, sondern Praktiker in verschiedenen politischen Lagern und Staaten. So hat der ganze Osten Europas schon im Grunde ein Modell gehabt, das er nicht erst definieren und erfinden musste. Es gab demokratische Staaten, die sich zu einer supranationalen Identität zusammengefunden hatten. Und es war auch erkennbar, dass das ein Prozess ist, der nicht abgeschlossen ist.

    Detjen: Aber auch die Suche nach den Ursachen der Staatsschuldenkrise, der Euro-Krise, die wir in diesen Tagen erleben, führt ja wieder zurück in diese Zeit der deutschen Einigung, in die frühen 90er-Jahre. Die Zustimmung Helmut Kohls zu der Währungsunion, so wie sie gestrickt war, war ja der Preis, den Kohl an Mitterand für dessen Zustimmung zur deutschen Einheit zahlen musste.

    Gauck: Ja, das war natürlich ein Versuch der damaligen französischen Politik, das was jetzt käme, nämlich ein sehr starkes – wie man das antizipiert hat – wirtschaftlich überaus dominantes Deutschland einzuhegen und einzubinden. Helmut Kohl hat ja damals mehrere mutige Entscheidungen getroffen. Und den Deutschen die D-Mark abzuverhandeln, das war schon nicht ganz einfach. Aber er wusste, weil er ein großes Ziel hatte, er wusste: Man muss für große Ziele auch Wagnisse eingehen.

    Detjen: Aber muss man es dann nicht so sehen, dass wir heute in der europäischen Staatsschuldenkrise auch noch mal einen Teil des Preises für die Deutsche Einheit abbezahlen?

    Gauck: Das könnte man so sehen, wenn man die deutsche Brille alleine nutzen würde, um die europäischen Zustände zu beurteilen. Das ist nicht gut, das zu tun. Also, wir haben möglicherweise, weil wir Europa unbedingt wollen, vor uns noch erneut ein Wagnis einzugehen. Aber um etwas zu bezahlen, was uns damals gewährt worden ist, so würde ich das nicht sehen. Nur es war, um die Prozesse zu beschleunigen und um ein "Ja" zur rechten Zeit zu erlangen, für Helmut Kohl unerlässlich, überhaupt für die ganze deutsche Politik unerlässlich, zu sagen: Wir integrieren uns in Europa. Es gibt keinen Neustart irgendeiner Form von Wilhelminismus, eines Wunsches der deutschen Dominanz über Europa, sondern wir wollen in Europa ein wesentlicher und konstitutiver Bestandteil sein.

    Detjen: Wir haben in der zurückliegenden Woche Helmut Kohl zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit gesehen bei seiner Fraktion, beim Festakt im Deutschen Historischen Museum. Wie haben Sie ihn da wieder gesehen, als einen tragisch gebrochenen Riesen, als der er manchmal beschrieben wird, als großen Europäer?

    Gauck: Wissen Sie, ich nehme mal davon Abstand, hier die letzten Jahre von Helmut Kohl irgendwie zu bewerten. Das würde ich als unfair empfinden. Sondern für mich als Ostdeutschen zumal ist Helmut Kohl schon seit längerer Zeit auf einem Denkmal auf einem Denkmalsockel. Und zwar wegen dieser Rolle, über die ich eben gesprochen habe – 1989/90. Das war unglaublich faszinierend zu sehen, kein Mensch konnte damals genau sagen: Wie soll das überhaupt gehen mit der deutschen Einheit. Und wie kriegen wir das zusammen mit Europa oder wie kriegen wir die wirtschaftlichen Probleme gelöst, die die deutsche Einheit mit sich bringt? Und Helmut Kohl hat dann ökonomisch zum Beispiel für Ökonomen Unfug betrieben, als er den Ostdeutschen die Ostmark eins zu eins mit einem Sockel, und eins zu zwei eingetauscht hat. Das war irgendwie nicht vernünftig, wenn nur die Ökonomen die Vernunft bestimmen. Aber er hatte eine politische Ratio. Und er hat sich vorgestellt, dass die Integration der Ostdeutschen in dieses sehr wohlhabende Westdeutschland nur gelingen kann, wenn man ihnen den Start in die neue Einheit erleichtert. Und so kann es manchmal sein, dass das ökonomische Denken dem politischen unterzuordnen ist. Das geht nicht uferlos – nicht, weil man das Vermögen einer Bevölkerung nicht verschleudern kann, aber in einer kalkulierten Weise gehört das finanzielle Risiko zum Leben der Menschen, nicht nur zum Geschäftsleben, sondern überhaupt zur menschlichen Existenz. Und darum ist das Erscheinen von Risikoszenarien im Prozess der europäischen Einigung nicht etwas Erschreckendes, sondern es ist eigentlich etwas Normales. Und der Blick auf Helmut Kohl könnte uns lehren, dass es auch einer gewissen Souveränität – oder sagen wir es einmal so –, einen Glauben an die Meisterung von noch heraufziehenden Krisen braucht, um Politik zu gestalten.

    Detjen: Helmut Kohl wird ja jetzt ganz bewusst auch von der eigenen Partei, von den eigenen Freunden historisiert. Am Donnerstag ist er von der Adenauer-Stiftung mit einem großen Festakt im Deutschen Historischen Museum gewürdigt worden. Sie waren an dem gleichen Abend in einer Fernseh-Talkshow mit dem anderen Altkanzler Helmut Schmidt und haben mit ihm über Europa gesprochen. War das eine bewusste Entscheidung für den einen gegen den anderen Helmut?

    Gauck: Nein. Als bei uns dieses Projekt besprochen wurde, mit Schülerinnen über die Zustände in Deutschland und Europa zu diskutieren, war bei uns von dieser Veranstaltung überhaupt nichts bekannt. Und das hängt überhaupt nicht zusammen, wäre auch grotesk. Also, ich bin wirklich in der Lage, die Größe und Leistung ganz unterschiedlicher Menschen auch mit Freude zur Kenntnis zu nehmen. Und das betrifft sowohl die Leistung von Helmut Schmidt als auch die von Helmut Kohl, die in je unterschiedlicher Zeit Enormes geleistet haben und mit Recht von den Deutschen hoch geachtet sind.

    Detjen: Herr Bundespräsident, das europäische Projekt, über das wir hier sprechen, ist in seiner Genese ein ganz westdeutschen Projekt gewesen, das gerade durch Figuren wie Helmut Kohl in ihrer Biografie, auch in ihrer geografischen Nähe in der nachbarschaftlichen Herkunft zu Frankreich geprägt worden ist. Was für ein Bild von Europa, welche Bedeutung hatte Europa für Sie, als Sie 1990 zum Politiker Joachim Gauck wurden?

    Gauck: Ja, für mich war es ganz merkwürdig. Ich gehörte zur Bürgerrechtsbewegung und Demokratiebewegung. Und in dieser Bewegung gab es eine altlinke Scheu vor der Nation. Und für viele war es deshalb eine pragmatische Entscheidung: Wir sprechen mal mehr über Europa als über die deutsche Wiedervereinigung. Und in vielen Texten taucht schon dann Schritt für Schritt die Idee der Wiedervereinigung auf, die mehr aus der Mitte der unpolitischen Bevölkerung kommt. Die politisch Aktiven haben schon mehr Europa als Zielvision gehabt. Und nun gibt es noch etwas anderes. Es war so, dass wir auch gesehen haben – wir Ostdeutschen – dass Deutschland an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte und die Schatten und Bindungen an die Vergangenheit abgelegt hatte, weil es so ein entschlossenes "Ja" zu Europa gesprochen hatte. Wir konnten uns, ehrlich gesagt, nicht mehr vorstellen, wie einige Altlinke im Westen es getan haben, dass bei der Vereinigung tatsächlich ein nationalistisches Deutschland entsteht. Dazu waren Figuren, gerade auch im konservativen Lager, wie Konrad Adenauer oder eben Helmut Kohl, über den wir gesprochen haben, aber auch Hans-Dietrich Genscher und die Liberalen insgesamt, dazu waren auch die Sozialdemokraten allesamt zu europäisch. Deshalb haben wir gesagt: Europa – eine wunderbare Vision. Und es war auch für uns dann hilfreich, die Kontakte der polnischen Dissidenz etwa nach Frankreich zu sehen. Und etwa dann auch von Polen und Tschechen wieder daran erinnert zu werden, dass die osteuropäische Dissidenz Wertegrundlagen aufbewahrt hatte, die die Systeme aufgegeben hatten, aber die in den einzelnen Bürgern noch lebendig waren. Und welche Werte waren das? Das waren doch die, die in den europäischen Grundordnungen der Länder beschrieben und definiert worden waren.

    Detjen: Sie erwähnen Polen, das ja auch in Ihren Lebenserinnerungen, die Sie 2009 veröffentlicht haben, als der wichtigste außerdeutsche Bezugspunkt in Europa erscheint: War Ihr Europa oder ist Ihr Europa vielleicht noch östlicher als das der traditionellen westdeutschen Europapolitiker?

    Gauck: Ja, selbstverständlich. Und das hat Vorteile und Nachteile. Die Bevölkerung dieses Raumes muss sich noch gewöhnen daran, dass die Nation möglicherweise nicht der letzte Wert ist. Es ist eine Ungleichzeitigkeit in Europa vorhanden. Und zwar in den kollektiven Identitäten. Was für den einen ein Erlernen und Begreifen eines größeren eben europäischen Raumes ist, ist für den anderen schon irgendwie eine Realität, die uns langsam auf den Senkel geht. Also, dann spricht man über den Bürokratismus, der von Brüssel ausgeht. Das sind so Spätzeitüberdrüsse, die da geäußert werden. Und die anderen erfüllt das noch mit Hoffnung, besonders diejenigen, die noch davorstehen, aufgenommen zu werden – an den Rändern Europas. Das heißt, Europa wird noch beflügelt von Sehnsüchten aus dem Osten, aus dem baltischen Raum, überhaupt aus Ost- und Mitteleuropa. Und dann bringt dieses Europa auch noch etwas ein, was das westliche Europa dringend braucht, nämlich die tiefe Überzeugung, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit so hohe Werte sind, dass sie weit über den Sorgen steht, ob wir genügend Geld verdienen, ob die Prosperität und die finanzielle Sicherheit gewährt ist. Wer einmal alles verloren hat, was die Menschenwürde garantiert, die Freiheit, die Demokratie, übrigens auch den Wohlstand – und das ganz nebenbei – und Rechtssicherheit, wer all das verloren hat, der weiß, dass Europa mehr ist als nur eine Finanzunion und eine Währungsunion und ein materielles Glücksversprechen. Er weiß, dass es ein Versprechen ist für mehr Menschlichkeit. Und diese Begeisterung oder sagen wir mal eine tiefe Herzensüberzeugung – hier sind die Werte aufgehoben, die meine Väter und Vorväter und ich schmerzlich vermisst haben, dieses tiefe Gefühl für die inneren Werte Europas, die den Menschen nach dem Krieg bewusst waren, aber heute oft verloren gehen. Das bringen wir aus dem Osten und aus Mitteleuropa ein. Und deshalb missfällt mir zutiefst, wenn manchmal aus dem tiefen Westen heraus in den Osten Europas so geschaut wird: Na ja, Ihr mit Euren Gefühlen und mit Eurer Geschichtsphilosophie, kommt mal erst mal im Westen an, dann dürft Ihr mitreden. Ja, Pustekuchen. Da stimmt was nicht.

    Detjen: Sind die viel dramatischeren Bruchkanten und auch kulturellen Differenzen, die in Europa jetzt im Zeichen der Staatsschuldenkrise deutlich werden, nicht viel weniger west-östliche Differenzen als Nord-Süd-Differenzen in Europa?

    Gauck: Das kommt nun hinzu. Und es ist so interessant, zu sehen. Also, im Moment ist es schmerzhaft, die Differenzen zu sehen. Später werden viele Doktorarbeiten darüber geschrieben werden. Und wir müssen nun sehen, dass unterschiedliche Lebensentwürfe zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten bei den vielen Teilnehmerstaaten der Union geführt haben. Und nun kann man natürlich von heute aus sehen, dass einige Staaten offenkundig ein wenig zu früh eingetreten sind in diesen gemeinsamen europäischen Raum, jedenfalls, wenn er eine gemeinsame Währung hat. Und eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Geldpolitik, ohne auch nur Grundvorstellung davon, was Verlässlichkeit im Gebrauch der öffentlichen Ausgaben bedeutet, das ist natürlich schwierig. Und so erleben wir auf dem Sektor der Währungsstabilität und der Finanzpolitik Differenzen, von denen wir eigentlich in der Europabegeisterung gedacht haben, das hat sich alles erledigt, wir sind schon ein großer Wirtschaftsraum. So, nun müssen wir miteinander diese Unterschiedlichkeit von Lebensstilen, auch von Regierungsverantwortung, die es offensichtlich in Europa gibt, debattieren. Ohne Debatte per Dekret geht es nicht.

    Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit dem Bundespräsidenten, mit Joachim Gauck. Herr Bundespräsident, Sie haben vor einiger Zeit gesagt, es sei die Aufgabe der Bundesregierung, die Aufgabe von Angela Merkel, ihre Europapolitik zu erklären. Das ist auch als Kritik an der Bundeskanzlerin aufgefasst worden. Ist diese Aufforderung rein auf die Innenpolitik gemünzt gewesen oder muss sich auch Deutschland in Europa seinen europäischen Nachbarn, von denen wir gerade gesprochen haben, stärker erklären als bisher?

    Gauck: Zunächst einmal war dieser Satz aus einem Interview nicht eine Kritik an einer aktuellen Handlungsweise unserer Bundeskanzlerin, sondern es war Teil einer politisch-pädagogischen Rhetorik, die ich seit Jahren betreibe. Ich finde unsere Politik und unsere Politiker nicht so schlecht, wie das Ansehen in der Bevölkerung ist – um es mal ganz platt zu sagen. Und meine Erklärung ist, dass oftmals die Bevölkerung total verunsichert ist. Sie ist noch nicht wütend, aber verunsichert. Und dadurch entsteht ein Vertrauensverlust. Und die Verunsicherung der Bevölkerung kann man minimieren, wenn uns deutlicher erklärt wird, welche Politik machen wir gerade, warum gehen wir diesen Schritt. So weit, wie es möglich ist, kann man so etwas erklären. Die Abgeordneten müssen es in ihrem Wahlkreis, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger treffen, auch tun. Und da fehlt mir oft etwas. Also das war es. Aber jetzt zu Ihrer Frage, müssen wir es auch Europa erklären? Genau das tun unsere Politiker. Sie tun es natürlich mit unterschiedlichen Gaben. Und manche sagen, vielleicht hätte Helmut Kohl es besser erklärt. Kann sein, kann nicht sein. Aber tatsächlich gibt es auch Widerspruchslagen, in die Deutschland bewusst eintreten darf. Es ist einer deutschen Regierung erlaubt, das, was sie in verantwortlicher Politik in den letzten Jahren gestaltet hat und was uns wirtschaftlichen Erfolg und politische Stabilität gebracht hat, es ist uns erlaubt, diese positiven Erfahrungen in Europa einzubringen in die Debatte. Es ist sogar hilfreich. Und dazu würde auch gehören, unsere europäischen Partner zu fragen: Wenn euch Deutschland jetzt etwas zu stark ist und ihr den Eindruck habt, erdrückt zu werden, hättet ihr uns lieber als den kranken Mann Europas? Ein großes, die wirtschaftliche Struktur bestimmendes Land kann sich einfach nicht leisten ein Laissez-faire in Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Beschäftigungspolitik.

    Detjen: Dieses Erklärungsbedürfnis stellt sich ja gerade in den Staaten, die im Augenblick am härtesten unter dem Reformdruck leiden, der auf ihnen liegt. Griechenland etwa, da gibt es wieder Generalstreiks in dieser Woche. Müsste sich da die deutsche Politik nicht eigentlich stärker engagieren? Die Frage kann man ja auch an Sie richten als Staatsoberhaupt, das Deutschland nach außen repräsentiert. Wäre es nicht hilfreich, wenn ein deutscher Bundespräsident in dieser Zeit nach Griechenland fährt und deutsche Positionen, Europa dort erklärt.

    Gauck: Ich kann mir denken, dass einige das für hilfreich halten würden. Andere würden es für einen Versuch, wieder eine Dominanzpolitik zu betreiben, deuten. Das steht dahin. Ich werde als Bundespräsident sehr sorgfältig überlegen, wann ich wohin fahre. Gehen Sie davon aus, dass das abgesprochen wird mit den politischen Entscheidern hier im Lande, dass ich auch meinen eigenen Willen habe. Aber das Entscheidende ist nicht, dass Deutsche den Griechen erzählen, was zu tun ist, sondern das Entscheidende ist, dass in Griechenland ein Diskurs in Gang kommt, der die Fakten wahrnimmt – ohne Wahrnehmung der Fakten keine Wahrheit über den Zustand. Und keine Nation lässt sich gerne von einer anderen Nation, schon gar nicht von einer, die früher über diese Nation hergefallen ist, belehren, wenn das, was zu lernen ist, weh tut. Und in den Bevölkerungen, in denen Strukturreformen erforderlich sind, muss diese Debatte aus dem Inneren heraus kommen. Wir können nur sagen, schaut unsere Erfahrungen an, aber nicht im Grunde als Präzeptoren von ganz Europa auftreten. Was wir aber tun sollten, ist, unsere Erfahrungen auch nicht zu leugnen und so zu tun, als hätten wir unsere Erfahrungen nicht gemacht. Es gibt so ein niedliches Bild von Erwachsenen, die möchten eigentlich ihr ganzes Leben unerwachsen sein, die Gespielinnen ihrer Töchter und nicht die Mutterrolle übernehmen, die Erwachsenenrolle. Und das hat Deutschland auch so ein bisschen, die Tendenz, na ja, wenn andere die Verantwortung übernehmen – aber wir sind ja so eine geschlagene Nation mit unserer Geschichte, wir wollen da nicht dominieren. Und wir sind jetzt in so einer sehr speziellen Entwicklungssituation unserer Nation, wo ein gewachsenes Selbstbewusstsein, das nicht schlecht begründet ist, nämlich nicht durch Dominanzgebaren oder durch die Absicht, andere zu unterjochen geprägt ist, sondern das aus Erfahrung mit Demokratie, mit Debatte, mit Rechtsstaat erwachsen ist, unsere Erfahrung europaweit zu zeigen, schaut. So kann es gehen.

    Detjen: Herr Bundespräsident, die Verfassung dieses Rechtsstaates weist Ihnen ja auch eine ganz formelle Funktion im europäischen Krisenmanagement dieser Tage zu. Sie haben vor ein paar Tagen den nach wie vor vor dem Bundesverfassungsgericht umstrittenen ESM-Vertrag ausgefertigt. Das Bundesverfassungsgericht hat Sie ja ganz ausdrücklich und in einer ungewöhnlich offenen Form gebeten, damit zunächst einmal bis zu einer zumindest ersten Karlsruher Entscheidung zu warten. Haben Sie in dieser Entscheidungssituation Druck verspürt?

    Gauck: Nein, die Situation, auf die Sie abzielen eben in Ihrer Frage ist eher aus Versehen entstanden. Also, wir hätten hier sehr genau gewusst, was wir zu tun haben. Und durch eine möglicherweise etwas unglückliche Presseverlautbarung aus Karlsruhe ist dann der Eindruck entstanden, Karlsruhe hätte Druck auf mich ausgeübt. Diesen Eindruck habe ich nicht gehabt. Also, das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht kennt die Situation und die staatsrechtlichen, verfassungsrechtlichen Implikationen des eigenen Handelns viel zu gut, als dass man das versucht hätte, den Bundespräsidenten irgendwie zu nötigen oder zu binden. Die haben Respekt vor sich selber, also haben sie auch Respekt vor dem Bundespräsidenten.

    Detjen: Aber es ist ja interessant, dass man in diesem Ringen um das europäische Krisenmanagement auch eine Diskussion erlebt um die Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen – was dürfen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel beschließen, wo müssen die Parlamente gefragt werden, wie weit reicht die Macht des Verfassungsgerichtes in Deutschland? Diese Diskussionen gehen ja bis dahin, dass über eine Verfassungsrevision, ein neues Grundgesetz mit möglichen Volksabstimmungen diskutiert wird. Ist es nötig, dieses Diskussion jetzt zu führen? Brauchen wir möglicherweise eine neue Verfassung?

    Gauck: Also, es gibt einen Meinungsstreit darüber, wann man am besten Veränderungen angeht. Und die einen sagen, es geht nicht anders als aus einer Krise heraus. Und die anderen sagen, lasst uns erst mal die Krise bewältigen und dann atmen wir ruhig durch und tun dann den nächsten Schritt. Das wäre das Ideale übrigens. Aber wenn wir die Lebenswirklichkeiten von Menschen, Menschen in Beziehung, von Parteien und von der ganzen Kultur eines Landes anschauen, dann sehen wir, oft ist die Krise Beginn von etwas völlig Neuem. Und deshalb glaube ich, dass gerade jetzt, wo wir Sorge haben um den Wert unserer Vermögen, des Volksvermögens wie der Vermögen der Einzelnen, dass da ein vertieftes Nachdenken über Europa einsetzt. Es ist irgendwie die falsche Stelle, aber es ist real. Und aus diesem Grunde kann es auch nicht verwundern, wenn von Richtern her oder auch von führenden Politikern wie Herrn Schäuble gesagt wird, ja übrigens ist alles Mögliche möglich, aber nicht einfach mit unserer jetzigen Verfassung. Und von daher kommt eigentlich ein bisschen zu früh diese Debatte über eine mögliche Verfassungsänderung. Und zwar in einem solchen Maße, dass das nicht der deutsche Bundestag entscheiden könnte, sondern da müsste eine Bevölkerungsentscheidung her. Und ich denke, das werden wir jetzt nicht heute oder morgen haben, aber ich nehme das Signal mal positiv auf. Und dann ist der Beginn dieser Debatte eigentlich folgendes Signal in die Öffentlichkeit hinein: Schaut mal, ihr habt alle Möglichkeiten, Europa zu gestalten. Es gibt ein verbessertes Miteinander autonomer Nationalstaaten. Aber denkt einmal weiter und einige Intellektuelle und Politiker tun es, geben uns auch Texte, und sagen: Schaut mal, ist es vielleicht richtiger, wenn wir eine gemeinsame Währung haben, auch einen gemeinsamen Finanzminister zu haben. Ja, mit unserer jetzigen Verfassung geht es nicht, aber es wird doch wichtig sein, dies zu debattieren. Und deshalb begrüße ich, dass das in großen überregionalen Zeitungen, Zeitschriften, im Fernsehen, aber auch in den Fachdebatten von Juristen und Ökonomen im Grunde die unterschiedlichen Varianten jetzt debattiert werden. Wir sind in einer Debattenphase, wo wir uns anfreunden mit der möglichen Abgabe von Souveränität. Und je europäischer wir denken können, desto weniger wird uns das Schrecken einjagen. Und da können wir etwas dazu leisten, nämlich unsere Haltung verändern. Aber wir brauchen bei den europäischen Partnern dann auch dieses Element von Verlässlichkeit, das nun den Deutschen erlauben würde, lockerer damit umzugehen. Wollen wir denn nun Souveränität abgeben oder nicht? Und ich denke, beides muss sich miteinander entwickeln. Und indem ich das beschreibe, können Sie ja sich vorstellen, dass ich mir vorstelle, wenn wir es jetzt machen, unmittelbar, wäre es zur Unzeit, sondern dieser Diskussionsprozess muss vorangeschritten sein und wir müssen auch bei unseren südeuropäischen Partnern sehen, dass der Wille zu Reformen, zu Strukturreformen wirklich sichtbar ist. Das müssen nicht nur einige wenige Fachleute sehen, sondern es muss auch in der Bevölkerung ankommen.

    Detjen: Herr Bundespräsident, letzte Frage. Sie sind jetzt fast auf den Tag genau ein halbes Jahr in diesem Amt. Als wir uns das letzte Mal im Deutschlandfunk an dieser Stelle im Interview der Woche unterhalten haben, das war vor zwei Jahren am 3. Oktober 2010, da lag die damalige Wahlniederlage gegen Christian Wulff in der Bundesversammlung gerade ein halbes Jahr hinter Ihnen und Sie haben damals gesagt, na, da ist vielleicht doch auch ein Kelch an mir vorübergegangen mit diesem Amt. Jetzt ist Ihnen der Becher gereicht worden. Wie schmeckt der denn nach einem halben Jahr?

    Gauck: Ja, die Existenz vorher war gefüllt mit Arbeit. Ich hatte sehr viele Einladungen, gute Möglichkeiten, mit Leuten zu sprechen. Und ich hatte auch noch so eine Welle der Zustimmung und musste nicht jeden Tag beweisen, dass das richtig ist, dass ich diese Zustimmung empfange. Das ist jetzt anders und man schaut sehr genau hin. Aber dieses halbe Jahr hat mir auch dazu verholfen, ein inneres "Ja" zu dieser Aufgabe zu sagen. Es ist so, dass wir hier im Hause deutlich spüren, wir hatten jetzt unseren Bürgertag und offenes Haus und offenen Park. Und wenn ich hier mit den Menschen zusammentreffe, dann spüre ich, das ist schon in Ordnung. Es gibt ein Zutrauen zum Amt und zur Person, das mir dann auch Freude gibt, sodass vor unserem Nationalfeiertag ich sagen kann, das ist schon in Ordnung.

    Detjen: Herr Bundespräsident, vielen Dank, dass Sie mit sichtbarer Freude dieses Gespräch mit uns geführt haben.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Der Leiter des Deutschlandradio-Hauptstadtstudios, Stephan Detjen im Interview mit Bundespräsident Joachim Gauck
    Der Leiter des Deutschlandradio-Hauptstadtstudios, Stephan Detjen im Interview mit Bundespräsident Joachim Gauck (Bundespresseamt / Gero Breloer)