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Ihr Kinderlein kommet

Vor kurzem hat die französische Regierung noch einmal 140 Millionen Euro für Familien locker gemacht. Damit soll unter anderem die Einrichtung eines Erziehungsjahres finanziert werden, bei dem Eltern ab dem dritten Kind ein Jahr lang monatlich 750 Euro erhalten. Zusätzlich zu den vielen anderen Leistungen wie Kindergeld, Betreuungszulagen, Kinderkrippe und kostenloser Vorschule.

Von Christoph Heinemann | 04.02.2006
    807.400 Kinder sind derzeit Frankreichs ganzer Stolz. 807.400 Kinder wurden im vergangenen Jahr in Frankreich geboren. Damit liegen die Franzosen bei der Geburtenrate auf Platz zwei in Europa. Gleich hinter Irland und weit vor Deutschland. Während hierzulande bislang viel geredet und wenig verbessert wird, tun die Franzosen es einfach. Und begeistern damit ihren Premierminister: "2030 werden wir das bevölkerungsreichste Land Europas sein", jubelte vor kurzem Dominique de Villepin. In Frankreich ist Familienpolitik Chefsache, und eben nicht nur "Gedöns", wie Gerhard Schröder sich einst ausdrückte.

    Die Wende kam schon in den 70er Jahren: Weil die Wirtschaft stagnierte, strich der damalige Staatspräsident Valery Giscard D’Estaing die Zuschüsse für zu Hause bleibende Mütter. Fortan gab es Geld für den Ausbau von Krippen und Vorschulen. Bis heute sind die Motive die gleichen. Paris unterstützt Mütter und Familien weniger aus emanzipatorischen als vielmehr aus wirtschaftlichen, demografischen und nationalen Gründen. Das Ergebnis ist eine seit Jahren wachsende Geburtenrate und nicht selten zufriedene Mütter.


    Annick Seiwerling: Viel Geld fürs dritte Kind: Wie Frankreich in der Familienpolitik Maßstäbe setzt
    In der rue la Condamine im 17. Pariser Bezirk proben an jedem Sonntagabend die "Nanas du quartier". "Mädchen aus dem Stadtviertel", so nennen sich die 25 Sängerinnen, die alle in den umliegenden Straßen wohnen. Der Altersdurchschnitt der Gruppe beträgt etwa Ende 40. Annick Seiwerling hat den Chor vor fünf Jahren gegründet.

    "Mein Leben ist so wie das vieler Menschen: Ich arbeite, ich habe drei Kinder. Der Chor bedeutet für mich Freiheit. Man muss nicht ständig üben, aber es geht doch vorwärts. Und, wenn ich mir uns so anschaue: Wir sind alle ziemlich unterschiedlich. Und doch verstehen wir uns so gut, dass wir hier zusammen sind und etwas Schönes machen. Das ist doch toll."

    Die Chorleiterin wird von den Sängerinnen bezahlt, für die das Musizieren eine willkommene Abwechslung vom Alltag ist. Dessen Rhythmus wird von der Familie und der Arbeit geprägt. Kinder und Beruf - für die meisten Französinnen schließt das eine das andere nicht aus. Annick Seiwerling leitet die Abteilung für Stadtentwicklung eines Pariser Vorortes. Zusammen mit ihrem Ehemann Frédéric, der als Lehrer arbeitet, und den drei Söhnen im Alter von 18, 15 und 12 Jahren lebt sie in der Hauptstadt.

    "Ich wollte immer drei Kinder haben, nicht vier und auch nicht zwei, sondern drei. Vielleicht deshalb, weil auch meine Eltern drei Kinder haben. Mit dreien beginnt die große Familie, ohne dass es einen gleich überforderte. Da ich arbeite, habe ich mir gesagt, drei Kindern kann ich gerade noch die Zeit geben, die sie benötigen, und die ich für notwendig halte, um eine gute Mutter zu sein."

    Annick blättert in einem Stoß Papieren. "Da steht es", sagt sie: "257 Euro". Der Familienzuschlag, der ab dem dritten Kind gezahlt wird. Dazu kommt die "Allocation familiale", das Kindergeld, das mit der Anzahl der Kinder steigt. Seit 2004 gewährt der Staat außerdem eine Geburtenprämie von 800 Euro. "Weißt Du noch, wieviel die Steuerermäßigung seit der Geburt unseres dritten Kindes beträgt", fragt Annick ihren Ehemann, der im Wohnzimmer am Computer sitzt.

    So genau kann das auch Frédéric nicht beziffern, auf jeden Fall lohnt es sich, denn anders als beim deutschen Ehegattensplitting wird in Frankreich das zu versteuernde Einkommen auf jedes Familienmitglied aufgeteilt. Je höher die Kinderzahl, desto niedriger die Einkommensteuer.

    "Für Familien, die ein drittes Kind wünschen, aber finanziell knapp dran sind, erleichtern diese Leistungen sicherlich die Entscheidung. Sonst würden sie beim zweiten Kind vielleicht Schluss machen. Die französische Familienpolitik war immer natalistisch, also auf die Geburtenförderung ausgerichtet. Ab dem dritten Kind gibt es bei der Bahn einen Rabatt von 30 Prozent, das ist ganz ordentlich. Die Stadt Paris stellt Eltern von drei Kindern den Paris-Pass aus, das heißt freier Eintritt in Schwimmbäder und Museen. So gibt es viele kleine Hilfen, die einem die Entscheidung zum dritten Kind erleichtern, obwohl das natürlich nicht der wichtigste Grund dafür ist, Kinder zu bekommen."

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    Véronique Olmi zählt zu Frankreichs bekanntesten Theaterautorinnen. Im Jahr 2001 erschien ihr erster Roman mit dem Titel "Meeresrand", der in seiner Atmosphäre oft an ein Kammerspiel erinnert. Im Mittelpunkt steht eine junge Mutter, die mit ihren zwei kleinen Söhnen, den Auflagen des Sozialamts und mit sich selbst völlig überfordert ist. Also nimmt sie den Nachtbus und flieht geradezu mit ihren Kindern ans Meer. Bei Dunkelheit und Kälte kommen sie in dem trostlosen kleinen Ort an.

    "Durchgefroren und pitschnass, wie wir waren, schafften wir es endlich, in dieses verdammte Hotel reinzukommen. Es war sehr dunkel, nur ein funzeliges Nachtlicht brannte am Empfang. Am Empfang saß so ein Junger, er angelte einen großen Schlüssel von einem Haken und murmelte, Sechster Stock dritte Tür links. Los, Kinder, sagte ich, ein kleines Stück noch. Stan nahm Kevins Tasche, der Kleine nahm meine Hand und fragte noch einmal, Ist das unser Hotel? Sicher hatte er sich unseren kleinen Ausflug etwas anders vorgestellt. Er fing an zu weinen, er sagte, er wäre müde, er sagte sogar, er wollte wieder nach Hause! Morgen ist Kindergarten, was sollen wir denn Marie-Hélène sagen? Marie-Hélène, antwortete ich, bringen wir eine Muschel mit. Dieser Einfall brachte Kevin zum Lächeln, ich war stolz auf mich, Ich kann gut mit meinen Kindern umgehen, dachte ich, wenn man mich nur machen lässt, wäre vielleicht eine diese Sozialarbeiterinnen auf so etwas gekommen? Das man einen Fünfjährigen dazu bringen kann, in den sechsten Stock zu gehen, indem man ihm von Muscheln erzählt? Nicht eine wäre draufgekommen, solche Dinge standen ja nicht mal in ihren Fragebögen. 'Sprechen Sie mit Ihren Kindern über Muscheln? – täglich; einmal im Jahr; nie.' Also, ich bin sicher, ganz viele würden 'nie' ankreuzen, und gerade die sollen gute Mütter sein? Nur weil sie nicht irgendwann gegen 18 Uhr in der Schule eintrudeln, sondern Punkt 16 Uhr 25 mit einem Schokocroissant am Tor stehen, ihren Knirps schnappen und sich aufregen, Du kommst natürlich wieder mal als letzter raus. Pff! Was war denn eigentlich wichtiger? Natürlich die Muscheln!"

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    Finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit: Im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit ist für viele Frauen heute beides die Voraussetzung, um sich für Kinder zu entscheiden. Das hat die französische Politik schon lange begriffen, und deshalb kommt sie berufstätigen Müttern entgegen. Ganz uneigennützig handelt der Staat dabei allerdings nicht, denn in Zeiten leerer Rentenkassen kann es sich kaum eine Regierung erlauben, auf erwerbstätige Frauen zu verzichten.

    Das erkennen auch immer mehr deutsche Politiker, nur sind sie zugleich ratlos, wie sich diese Einsicht mit der alt hergebrachten Mutter-Ideologie made in Germany vereinbaren lässt. Unkenrufe auch aus der Wirtschaft: Sie fordert mobile, agile und flexible Doppelverdiener. Nur wollen die dann eben keine Kinder mehr.

    Frankreich hat diesen Teufelskreis durchbrochen und sich weitgehend frei gemacht von Denk-Blockaden: Das Wort "Rabenmutter" kennen die Franzosen allenfalls von uns. 57 Prozent der französischen Frauen sind berufstätig. Damit ist die Zielmarke von 60 Prozent, die die Europäische Union im Rahmen ihrer Lissabon-Strategie vorgegeben hat, fast erreicht. Zu verdanken ist das unter anderem den umfassenden Betreuungsmöglichkeiten. Wer sich eine Tagesmutter oder eine Kinderfrau nicht leisten kann, dem stehen die Krippen zur Verfügung – auch wenn es vor allem in den Großstädten zu immer größeren Engpässen kommt. Entsprechend begehrt sind die Plätze, und entsprechend lang die Wartelisten…

    La Creche, die Kinderkrippe
    Florence Pinchon hat alle Hände voll zu tun. Eine Erzieherin meldet gerade über die Haussprechanlage, dass ein Kind Fieber bekommen hat. Die stellvertretende Leiterin der Kinderkrippe muss die Eltern verständigen. Alltag in der Creche im 20. Bezirk von Paris. 66 Kleinkinder werden hier betreut - die jüngsten sind gerade zweieinhalb Monate, die ältesten drei Jahre alt.

    In dem Gruppenraum sitzen rund 15 Kinder in einem Kreis. Die Erzieherin und ihre Assistentin singen ein Lied. Durch die Fenster dringt Licht in den großen Raum, die Wände sind in hellen Farben gestrichen. Im Erdgeschoss der Krippe, in dem die Großen, das heißt die Zwei- bis Dreijährigen, untergebracht sind, sorgt eine Betreuerin für acht Kinder. Bei den Kleinen, die noch nicht laufen können, beträgt das Verhältnis eins zu fünf. Spielen, Geschichten erzählen und Vorlesen und Singen, damit verbringen die Kinder den Tag. Die Erzieherin hat gerade das Lied von der traurigen Katze angestimmt, deren Mutter verreist ist.

    "Natürlich wächst ein Kind besser bei seiner Mutter auf", erklärt die stellvertretende Leiterin der Kinderkrippe. "Aber in Frankreich wollen oder müssen viele Frauen arbeiten und bleiben nicht zu Hause. Wir versuchen, den Kindern so weit wie möglich gerecht zu werden. Wohl wissend, dass wir die Mutter nicht ersetzen können."

    Die Crèche ist täglich von 7.30 bis 18.30 Uhr geöffnet. Ab dem vollendeten ersten Lebensjahr verbringen die meisten Kinder täglich etwa achteinhalb Stunden in der Krippe. Es gibt eine Terrasse und einen kleinen Garten - in Paris eher ungewöhnlich und in einem blau gekachelten Raum sogar ein großes Planschbecken. "Die Kinder können hier die Badehose anziehen und unter Aufsicht im Wasser spielen", erklärt Florence Pinchon.

    Nebenan wird inzwischen das Mittagessen aufgetragen. Plastikdecken mit Blümchenmuster bedecken die Kindertische. Gekocht wird in der hauseigenen Küche. Beim Essen und auch in den Ruheräumen zum Schlafen hat jedes Kind seinen festen Platz.

    Ein kleines Mädchen rührt nichts an. Die kleine Clemente berichtet, dass ihre Freundin Klara unter Bauchschmerzen leidet. Auch im oberen Stockwerk, dort wo die Säuglinge und die Ein- Zweijährigen betreut werden, steht das Essen auf dem Tisch. Höchste Zeit, jemand ist hörbar müde.

    Über die Vergabe eines Krippenplatzes entscheidet in Paris das jeweilige Bezirksrathaus. Voraussetzung ist, dass beide Eltern arbeiten oder eine Beschäftigung suchen. Darüber hinaus werden solche Familien bevorzugt, die vom Sozialamt vorgeschlagen werden, etwa weil es zu Hause Probleme gibt. Ein staatlicher Krippenplatz kostet die Eltern je nach Einkommen zwischen 1,65 und 28,50 Euro pro Tag, Essen und Windeln inklusive. Die meisten Kinder verbringen 16 bis20 Tage pro Monat in der Crèche. Die Eingewöhnungsphase ist entscheidend für ihr Wohlbefinden, erklärt Florence Pinchon. Und dafür lassen wir uns Zeit. Zusammen mit den Eltern wird ein Plan mit dem Tagesrhythmus des Kindes aufgestellt. Während der Eingewöhnungswoche ist zumindest ein Elternteil anwesend.

    "Am ersten Tag kommt das Kind mit seiner Mutter für eine Stunde hierher. Es lernt die Räumlichkeiten und seine Pflegerin kennen. Am zweiten und dritten Tag wird die Aufenthaltszeit etwas verlängert und es gibt die erste Mahlzeit. Am vierten Tag kann das Kind nach dem Essen erstmals hier schlafen. Und am Freitag bleiben die Kinder dann erstmals ohne Eltern in der Krippe - ungefähr von 10.00 bis 15.00 Uhr."

    "Wir versuchen hier in der Crèche, den Kinder so gut wie möglich bei der Trennung von den Eltern zu helfen", erklärt die Erzieherin Caroline Lefebvre. "Wenn das Kind mit drei Jahren in die Vorschule kommt, ist es besser an das Leben in einer Gruppe gewöhnt als ein Kind, das zu Hause aufwächst, wo es dies nicht oder weniger kennen gelernt hat."

    Die beiden Erzieherinnen der Kinderkrippe haben drei Jahre lang Pädagogik studiert, die 15 Assistentinnen eine einjährige Ausbildung in Kinderpflege hinter sich.

    "Die Crèche ist eine gute Einrichtung", sagt eine Mutter, die gerade ihren Sohn abholt. "Unser Kinderwunsch bestand allerdings unabhängig von dem Betreuungsangebot, das heißt, wir wollten auf jeden Fall Kinder haben, auch wenn wir keinen Platz bekommen hätten. Mein Sohn fühlt sich hier wohl. Er hat keine Angst vor anderen Leuten, er ist ziemlich offen und die Crèche erleichtert es ihm, auf andere zuzugehen. Ich glaube, es geht ihm hier gut."

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    "Ich hörte Geräusche im Nebenzimmer, Stimmen, einen Schlag gegen die Wand, wie hatte ich mir nur einbilden können, in diesem Hotel wäre kein Mensch? Das ist wieder typisch für mich, wenn ich mich allein fühle, glaube ich, die Leute verschwinden. Wie lange es zum Beispiel gedauert hat, bis ich meine Nachbarn erkannt habe! Jahre, glaube ich. Jetzt, wo ich sie kenne, sehen sie gar nicht ungut aus, trotzdem verlasse ich meine Wohnung lieber nur, wenn es auf dem Flur still ist, wenn ich sicher sein kann, niemandem über den Weg zu laufen. Es gibt natürlich Leute, die ich treffen muss. Auf dem Sozialamt. In der Schule. Ich mag es gar nicht, wenn mich Marie-Hélène hinbestellt, Kevin ist zwar ihr Liebling, das weiß ich, trotzdem beglückwünscht sie mich nie, sondern kommt andauernd mit allen möglichen Fragen, Warum hat er nie Turnschuhe dabei? Wann geht er denn abends ins Bett, er schläft am Vormittag hier ein! Ach, diese Marie-Hélène! Manchmal, wenn ich Kevin einen Schrecken einjagen will, drohe ich ihm mit ihr, ich sage, Das werde ich aber Marie-Hélène erzählen, dass du dein Püree nicht aufessen willst und dass du schon wieder ins Bett gemacht hast. Natürlich werde ich ihr kein Wort davon erzählen, aber wenn man als allein erziehende Mutter zwei Knirpse aufzuziehen hat, muss man sich ja irgendwie ein bisschen Autorität verschaffen."

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    So neidvoll Deutschland auch über den Rhein blickt: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Die heftigen Gewaltausbrüche in den französischen Vorstadt-Ghettos waren im letzen Herbst nicht allein Folge der verfehlten Integrationspolitik. Die Aggression der Jugendlichen war vielmehr auch ein Indiz für die Schwachstellen in der Familien- und Sozialpolitik. Sie hört auf zu fruchten in jenen Gegenden, in denen es keine gut verdienenden Eltern gibt, keine pädagogisch wertvollen Betreuungseinrichtungen, keine guten Schulen, keine Lehrstellen und damit keine Perspektiven. 9000 brennende Autos haben die Regierung nun wachgerüttelt. Vor kurzem stellte der Premierminister neue Pläne im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit vor, außerdem sollen die Eltern mehr Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. Familienpolitisch wurde indes kaum reagiert, abgesehen von der Polygamie-Debatte. Mehrere Mitglieder der bürgerlichen Regierungs-Partei UMP dachten laut nach über den Zusammenhang zwischen der Gewalt und der Vielweiberei in den Einwandererfamilien. Auch Christine Boutin ist Abgeordnete der UMP und setzt sich seit Jahren für eine christlich-soziale Familienpolitik ein. Die Mutter dreier erwachsener Kinder will für Frankreich eine höhere Geburtenrate. Von Kinderkrippen hält sie indes nicht besonders viel – und spricht zugleich sehr entspannt über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie

    Christine Boutin, christlich-soziale Familienpolitikerin der UMP
    "Es war nicht sehr schwierig, obwohl es natürlich tägliche Anstrengungen erforderte. Wir konnten dies allerdings nur dank meines Mannes so einrichten, der nicht das Gesicht verzogen hat, wenn ich abends nicht zu Hause war. Unsere drei Kinder haben darunter nicht gelitten. Wenn ich zu Hause war, habe ich mich natürlich ganz und gar um sie gekümmert. Sonst war mein Mann immer für sie da. Wir haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen und dann mit unseren Kindern darüber gesprochen. Sie haben mitbekommen, dass es wegen meiner politischen Verpflichtungen zwischen ihrem Vater und mir keine Spannungen gegeben hat."

    Christine Boutin sitzt in ihrem Büro, das sich in einem Gebäude hinter der Pariser Nationalversammlung befindet. Die Abgeordnete der Regierungspartei UMP gehört zu den wenigen französischen Politikern, die aus ihren christlichen Überzeugungen keinen Hehl machen. Leidenschaftlich zog und zieht die praktizierende Katholikin gegen die eingetragene Lebenspartnerschaft, die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare oder die Stammzellenforschung zu Felde. Schwerpunkt ihrer Arbeit: eine Politik für Familien, die es, wie sie meint, kaum noch gibt:

    "Wir zehren noch heute von der Zeit nach dem Krieg, die durch eine sehr starke Familienpolitik geprägt war. Daraus wurde mehr und mehr eine Sozialpolitik der Familie. Der Unterschied besteht darin, dass die Familienpolitik die Familie und die Geburten von Kindern fördert, während die Sozialpolitik die Unfälle des Lebens absichert, also den Tod eines Partners, Arbeitslosigkeit oder Scheidung und so weiter. Das ist zwar auch notwendig, führt aber nicht dazu, dass mehr Kinder geboren werden. Seit Jahrzehnten sage ich, dass sich Frankreich wegen seiner Demografie sorgen müsste. Langsam beginnt diese Debatte, aber sie wird noch nicht so geführt, dass auch entschiedene Taten folgen würden."

    So wie höhere Staatsschulden irgendwann höhere Steuern zur Folge hätten, so führte eine zu geringe Geburtenrate zwangsläufig zu mehr Einwanderung. "Ich habe zwar weder Chemie noch Physik studiert", sagt Christine Boutin, "aber es gibt in der Wissenschaft einen einfachen Grundsatz: Die Natur scheut den leeren Raum."

    "In ein Land, das sich langsam entvölkert, werden immer mehr Einwanderer kommen. In Deutschland wird diese Entwicklung dramatisch verlaufen, aber auch bei uns wird sie spürbar sein. Ich stemme mich nicht dagegen, ich bin uneingeschränkt für das Leben und für die Menschen und denke, dass solche Bewegungen im Zeitalter der Globalisierung unausweichlich sind. Nur ist die Öffentlichkeit nicht darauf vorbereitet, Menschen aus anderen Kulturkreisen aufzunehmen."

    Christine Boutin ist davon überzeugt: Ohne eine Aufwertung der Familie lässt sich die demografische Zeitbombe nicht entschärfen. Dies gelte auch im 21. Jahrhundert, in dem es viele von der Gesellschaft anerkannte Formen des Zusammenlebens gebe.
    "Man darf unterschiedliche Verhaltensweisen nicht stigmatisieren, ausschließen oder verurteilen. Aber gleichzeitig müssen wir betonen, dass es ein Modell gibt, das, auch wenn es manchmal scheitert, größere Chancen als andere für ein ausgewogenes Heranwachsen des Kindes bietet. Eine Familie, die dauerhaft aus Mann, Frau und Kind besteht, kann den künftigen Erwachsenen besser strukturiert heranbilden als alle anderen Modelle. Die Politik müsste dies eigentlich offen aussprechen. Sie wagt dies heute aber nicht."

    Für Christine Boutin ist dies eine Folge der 68er Bewegung, die zwar zur recht vieles in Frage gestellt, gleichzeitig aber einem individualistischen Lebensideal den Weg bereitet habe. Ein Ergebnis sei die Sinnkrise in den vergreisenden Gesellschaften. Über deren Zukunft entscheide heute auch die Familienpolitik: "Ich hätte niemals Karriere auf Kosten meiner Familie gemacht", sagt die Politikerin:

    "Mein Mann und meine Kinder wussten, das ich sofort alles aufgegeben hätte, wenn ein ernsthaftes Problem aufgetreten wäre. Denn meine Familie hat für mich Vorrang"

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    Manchem Deutschen könnte es fast schwindelig werden, angesichts der französischen Nachwuchsförderung: Es gibt nicht nur Kindergeld, es gibt auch Beihilfen für die Betreuung und für Alleinerziehende, ferner Wohnzuschüsse, Steuervorteile für Familien, Geburtenprämien, und schließlich werden Kinder auch bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Voraussetzung ist eine richtige Familie. Wer sich so nennen darf und wer nicht, das definiert weiterhin der Staat. Soeben hat die Nationalversammlung gegen die Einführung der Homoehe gestimmt und das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben abgelehnt. Alleinerziehende sollen hingegen stärker unterstützt werden. Vor allem sie sind aus finanziellen Gründen angewiesen auf die staatlichen Betreuungsangebote. Größter Erfolgsschlager ist da die Ecole Maternelle, jene Vorschule, die nahezu alle Kinder in Frankreich ab dem dritten Lebensjahr besuchen. Immer wieder aber steht sie auch in der Kritik: Zu viel Drill, heißt es, und von "ästhetischer Gleichschaltung" ist die Rede. Die Kinder könnten kaum eigene Fantasie entwickeln; Zuneigung und Lob gebe es nur gegen entsprechende Leistungen, so die Kritiker. Besuch in einer Ecole Maternelle im 16: Arrondissement, im vornehmen Stadtteil Passy.

    Die Ecole Maternelle
    Die wenigen Nachzügler, die erst um 8.30 Uhr in der Schule eintreffen, beeilen sich: "Mach schnell", sagt eine Mutter zu ihrer kleinen Tochter, die über den Schulhof in das alte Gebäude mit den Klassenzimmern läuft.

    20 Kinder spielen in dem großen Raum. Eine Lehrerin und eine Assistentin kümmern sich um die Kinder. An einer Wand hängen die Fotos der Kleinen versehen mit den Namen. "Wir setzen uns jetzt in einen Halbkreis, ruft Madame Forrestier. Alice ist noch mit einem Puzzle beschäftigt. Schließlich setzt auch sie sich zu den anderen, während die Lehrerin die Anwesenheitsliste durchgeht: "Ich bin da", antworten die Kinder, deren Namen aufgerufen wurde. Die Lehrerin beginnt, eine kleine Geschichte zu erzählen. Beide Hände formen entsprechende Gesten. Stille im Klassenzimmer. 20 Augenpaare hängen an den Lippen der Lehrerin. Dann wiederholen die Dreijährigen die Geschichte im Chor.

    Diese und andere Reime kennen die Kinder auswendig. Mit ihren Händen ahmen sie die Bewegungen der Lehrerin nach. So beginnt der Vormittag in der Ecole Maternelle: Geschichten werden erzählt oder vorgelesen, und die Dreijährigen singen, zum Beispiel das Lied von Bruder Jakob.

    Gleiches Programm in der moyenne section, der Klasse der Vier- bis Fünfjährigen: In dem Raum stehen mehrere runde Tische, in der Spielecke entsteht gerade ein Turm aus Legosteinen. Die meisten Kinder sind mit Malarbeiten beschäftigt. Paul setzt gerade ein Puzzle zusammen: Er sei genervt, dass er immer wieder von vorn anfangen müsse, weil die Kleineren alles kaputt machen, meint der Vierjährige.

    Von halb neun bis halb fünf verbringen die Drei-bis Sechsjährigen den Tag in der Ecole Maternelle. Zwei Pausen unterbrechen das Vor- und Nachmittagsprogramm. Mittags essen die Kinder entweder zu Hause oder in der Schulkantine. Die Kleineren halten anschließend einen Mittagsschlaf. Spielen ist das eine, die spielerische Vorbereitung auf die Schule ein anderes wichtiges Element der Ecole Maternelle.

    "Wir beginnen mit den Kindern zu zählen und bereiten sie auf das Schreiben vor", erklärt die Lehrerin Mireille Cohen. Die Kinder malen Bögen und die ersten Buchstaben. Andere Übungen dienen dem erkennen geometrischer Formen.

    Sophie zählt ohne Stocken bis 50. Das können die meisten ihrer Altersgenossen in der grande section, der Klasse der Fünf- bis Sechsjährigen. Ab September werden diese Kinder die Grundschule besuchen. "Wir stehen am Anfang der schulischen Erziehung", meint Francoise Maurice, die Direktorin der Ecole Maternelle.

    "Die Ecole maternelle leistet viel. Vielleicht müsste man allerdings den Schultag etwas kürzen. Diejenigen Kinder, die nicht mittags schon abgeholt werden, sind nach sechs Stunden Programm trotz der Pausen sehr müde. Hinzukommt", meint die Direktorin, "dass manche Eltern der Schule die Erziehungsarbeit überlassen. Wir müssen den Kindern Werte vermitteln, was eigentlich Aufgabe der Eltern wäre. Es gibt eine Entwicklung dahin, dass man dies lieber der Schule überlässt."

    "Die Familie ist wichtiger", meint eine Mutter. "Im Schulunterricht sollten begleitend die Werte vertieft werden, die die Kinder zuvor in der Familie erlernen müssen." Die Kleinen gehen gern in die Ecole Maternelle. Sie haben dort ihre Freunde, sie können dort spielen. Sie werden dort auf ein Leben in der Gemeinschaft vorbereitet."

    Das Urteil des fünf Jahre alten Arnaldo ist ausgewogen: "Manchmal mag ich die Ferien, manchmal die Schule."

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    Die einen gehören ohnehin zur Generation Praktikum, die anderen schaffen den Sprung ins Arbeitsleben erst mit etwa 30 Jahren. So ergeht es heute vielen Akademikern in Deutschland. Spätestens dann bricht die so genannte Rush Hour an: Trotz oft befristeter Verträge sollen Berufseinsteiger Fuß fassen im Job, sie sollen zügig eine Familie gründen, und beides dann irgendwie miteinander vereinbaren. Das politische Berlin einigt sich derweil über die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und streitet weiterhin über das Elterngeld. Am vermeintlichen Gebärstreik der Frauen hat das bislang wenig geändert, ebenso wenig am wachsenden Zeugungsstreik der Männer. Ein Grund dafür ist die deutsche Wirtschaft: Noch immer stellen Personalchefs nicht gern Frauen im gebärfähigen Alter ein, und sie lassen Väter nur selten ohne Spott in die Elternzeit ziehen.

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    Am nächsten Tag, so ein Pech aber auch, regnete es immer noch. Als ich aufwachte, keine Ahnung, wie spät es war, waren die Knirpse schon auf, sie standen beide am Fenster und veranstalteten einen Regentropfen-Wettbewerb. Wir gingen zur Dusche am anderen Ende des Flurs, aber es war besetzt. 'Ich habe Hunger', sagte Kevin wieder, als wären das die einzigen zwei Worte, die er kannte, und da war es genug, beschloss ich, meine Knirpse sahen weder wie Putzlappen aus noch wie Ferkel, ich hatte das nur so gesagt, um es den anderen Müttern gleichzutun, die immer herummeckern müssen und alles perfekt haben wollen, innerlich fand ich meine Bengel großartig, und was hätten ein paar Spritzer kaltes Wasser uns schon gebracht?"

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    Jenseits des Rheins herrscht bisweilen eine andere Unternehmenskultur als in Deutschland, und manchmal zählen da auch Kleinigkeiten: Ein Pariser Möbelgeschäft bietet Schwangeren an der Kasse verkürzte Wartezeiten an, und ein französischer Autohersteller konstruiert Fahrzeuge, in denen sogar im Kleinwagen Platz für drei Kindersitze ist. Außerdem kommen Betriebskindergärten immer mehr in Mode. Irgendwie, so scheint es, tickt Frankreich beim Thema Kinder einfach anders als wir und das trotz einer Arbeitslosenquote von über neun Prozent, und trotz sinkender Einkommen. Umso mehr hängt der Staat sich rein, denn Kinder kurbeln den Konsum an und sind damit letzten Endes ein Wirtschaftsfaktor. Yves-Marie Laulan, der Direktor des Instituts für Geo- und Bevölkerungspolitik in Paris, hat darüber ein Buch geschrieben. Ein Buch über Deutschland mit dem Titel "Chronik eines angekündigten Todes".

    Die Demografie, die Wirtschaft und das Problem der späten Geburten
    Yves-Marie Laulan ist ein ungeduldiger Mann. Wenn er spricht untermalen die Hände jedes Wort gestenreich. Demografie ist das Steckenpferd des ehemaligen hohen Ministerialbeamten, der unter anderem für die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gearbeitet hat.

    "Keine Kinder und immer weniger Familien - das führt dazu, dass die aktive Bevölkerung erst stagniert und altert und dann schrumpft. Und das belastet die Wirtschaft immer stärker. Denn Nachfrage und Verbrauch gehen zurück. Das kann man in Deutschland jetzt schon beobachten. Die deutsche Wirtschaft wächst kaum noch. Die Deutschen lassen sich immer noch vom Exportgeschäft täuschen. Die Ausfuhren bilden aber den unwichtigsten Teil einer Volkswirtschaft. Viel wichtiger ist die Nachfrage der Verbraucher. Wenn die nicht stark ist, wird weniger investiert. Ein Land, dessen Bevölkerung schrumpft und altert, stagniert erst und geht dann in die Knie."

    Trotz der im europäischen Vergleich hohen Geburtenrate beobachten die Demografen mit Sorge, dass auch in Frankreich vor allem die gut ausgebildeten Frauen immer später Kinder bekommen, aus den unterschiedlichsten Gründen:

    "Ich reise viel", sagt eine junge Frau. "Ich habe jetzt keine Zeit für ein Kind. Wenn ich alles gemacht habe, was ich mir beruflich und privat vorgenommen habe, dann möchte ich ein Kind haben."

    Vor dieser Haltung warnt die Ärztin Joelle Belaisch-Allart:

    "Eine ganze Generation von Frauen ist mit dem Slogan der Familienplanung aufgewachsen: Ich bekomme ein Kind dann, wenn ich es will. Aber so geht das nicht. Dieser Slogan ist eine Lüge. Es müsste vielmehr heißen: Ich bekomme dann ein Kind, wenn ich es bekommen kann."

    Zwar sind die Ausbildungszeiten in Frankreich deutlich kürzer als in Deutschland, entsprechend früher steigen die Hochschulabsolventen in den Beruf ein, dennoch führt die Suche nach dem richtigen Partner oder Wunsch zu reisen oder zu konsumieren dazu, dass die Entscheidung zum Kind häufig aufgeschoben wird. Die Folgen bekommt die Ärztin täglich zu spüren:

    ""Mehr als ein Drittel der Frauen, die mit 40 ein Kind haben möchten, werden niemals eins bekommen. Viele Frauen wissen das nicht. Ich bin häufig traurig, wenn Frauen meine Praxis weinend verlassen, weil es nicht klappt. Viele sagen, man hätte ihnen geraten zu warten. Sie wussten nicht, dass es zu spät sein könnte."

    Yves-Maire Laulan kritisiert, dass die Familienpolitik viel zu wenig die Bedürfnisse der jungen Frauen berücksichtige. Seine Ehefrau, die heute in leitender Funktion im Finanzministerium arbeitet, habe das erste der fünf gemeinsamen Kinder noch während der Ausbildung an einer Elitehochschule bekommen, sagt Laulan. Es gehe heute nicht mehr nur darum, für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu sorgen, auch die Ausbildung dürfe einem Kinderwunsch nicht länger im Wege stehen:

    "Es muss möglich sein, dass eine Frau an der Elitehochschule Ecole Polytechnique studiert und ein Kind hat. Eine Frau ist mit 20 Jahren darauf eingestellt, Kinder zu bekommen. Und in diesem Augenblick schlägt man ihr die Tür vor der Nase zu. Das ist doch idiotisch."

    Für Yves-Marie Laulan ist Familienpolitik immer noch zu sehr mit Tabus behaftet:

    "In Deutschland herrscht noch das schädliche Denken vor, welches Frauen, die Kinder haben und arbeiten wollen, verurteilt. Man spricht immer noch von Rabenmüttern. Ich halte das für vollkommen falsch. Die Frauen in Frankreich und Deutschland sind hervorragend ausgebildet, manchmal besser als die Männer. Sobald Frauen in Deutschland Kinder bekommen, sagt man ihnen: 'Schluss, ihr macht jetzt den Haushalt - die berühmte Trilogie: Küche, Kirche, Kinder'.

    Das ist doch verrückt und die Frauen lehnen das ab. Umgekehrt können wir in Frankreich von Deutschland lernen, dass die Frauen, die bewusst zu Hause bleiben und sich um ihre Kinder kümmern wollen, keine Schmarotzer sind. Nach dem Beispiel der Skandinavischen Länder müssten sie eine Rente, einen echten Status und soziale Anerkennung bekommen. "

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    "Wieder verließen wir im Gänsemarsch das Zimmer, zwängten uns durch die halboffene Tür. Jeder für sich, in seine eigenen Gedanken vertieft, kamen wir im Erdgeschoss an, ohne es zu merken. Ich ging aufs Geratewohl los, mit meiner Ich-kenn-mich-aus-Miene, die Knirpse vertrauten mir, und das brachte mir Glück, denn plötzlich standen wir – na wo? Vor dem Meer! Es war überhaupt nicht blau, es sah aus wie ein schlammiger Sturzbach. Stan hatte sich entfernt, er lief kreuz und quer über den Strand, als würde er verfolgt, Irgendwie ist dieser Bengel nicht in Ordnung, dachte ich, es sah aus, als wollte er entkommen – dem Regen, der Kälte, einem unsichtbaren Gegner. Stan! rief ich, Stan! Komm sofort zurück! Er aber rannte weiter gegen seine Mauern an, also ging ich zu ihm, aber sogar, als ich schon fast auf seiner Höhe war, stellte er sich noch taub, es machte mich wahnsinnig, ich packte ihn an der Kapuze seiner Regenjacke, und da geschah etwas Furchtbares, Stanley erhob die Hand und schlug auf meinen Arm ein, und ich ließ die Kapuze los. Nie, nie hatte er sich gegen mich gestellt, So sieht also die Zukunft aus, dachte ich.
    Kevin reichte es. Nun schrie er herum, rannte zu seinem Bruder, griff nach seiner Hand, und sie kamen mir entgegen, klatschnass alle beide.

    Ich spürte keinen Zorn mehr auf Stan, und als er auf meiner Höhe war, griff auch ich nach seiner Hand. Um in dieser Stadt herumzulaufen, in der es keine Gehsteige gab, war es sicherer, wir hielten uns an der Hand, wir drei."


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    Ségolène Royal ist 52 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und derzeit der Shooting Star unter Frankreichs Sozialisten. Ihre politische Karriere begann sie unter Francois Mitterand. Mittlerweile führt Ségolène Royal alle Umfragen an und will nun im Rennen um die französische Präsidentschaftskandidatur antreten. Dafür allerdings muss sie sich schon mal öffentlich fragen lassen, wer denn im Falle ihres Wahlsiegs auf die vier Kinder aufpasse. Auch Frankreich ist nicht frei von machohaften Denkschemata. Da hilft es denn auch wenig, dass führende Managerinnen sich im Wochenbett mit Laptop ablichten lassen; die traditionellen Rollenbilder sind zäh. Und so gehen trotz eines garantierten Rückkehrrechtes an den Arbeitsplatz nur wenige Männer in Frankreich in die Elternzeit. Dabei zahlt der Staat drei Jahre lang monatlich mindestens 500 Euro, zusätzlich zum Kindergeld. Ein zweiter Besuch, zu Hause bei Annick Seiwerling und ihrer Familie in Paris.

    Annick Seiwerling: Wie man die Männer in die Pflicht nimmt
    "Das ist unser Großer", erklärt Annick Seiwerling stolz, als der 18 Jahre alte Maxime die Haustür öffnet. In der Küche bereitet Ehemann Frédéric unterdessen das Abendessen vor. Für Frankreich eher untypisch.

    "Die meisten Frauen tragen eine doppelte Last: Beruf sowie Haushalt und Familie. Ich hätte das nie hingenommen. Wir hätten keine drei Kinder, wenn mein Mann nicht mit anpackte. Vielen meiner Kolleginnen, die Kinder haben, geht es da anders: deren Männer tun zu Hause nichts. Die Frauen müssen morgens um sechs Uhr aufstehen. Wir teilen uns die Arbeit seit 25 Jahren entsprechend unseren Vorlieben: Er geht gern einkaufen, ich mache lieber die Wäsche. Der erste, der abends nach Hause kommt, kocht. Das gleiche gilt für die Arbeit mit den Kindern. Jeder von uns ist nachts aufgestanden, wenn die Kinder gerufen haben. Manchmal gibt es auch Streit, wenn einer von uns den Eindruck hat, er müsse zu viel machen. Ich zum Beispiel vergesse manchmal, dass er den ganzen Papierkram erledigt. Ich hasse das, es ist obendrein sehr zeitaufwändig. In den meisten Familien in Frankreich gibt es diese Arbeitsteilung nicht."

    Ihr Mann und sie legten Wert darauf, dass auch ihre drei Jungen lernten, dass Hausarbeit nicht Sache der Frauen sei, erklärt Annick:

    "Unsere Jungs bringen manchmal Freundinnen mit nach Hause. Bei uns räumen die Kinder nach dem Essen den Tisch ab. Manchmal dauert es etwas, bis unser Ältesten das Geschirr abträgt, und dann steht seine Freundin auf und fängt schon mal an. Ich sage ihr jedes Mal: Du bist Gast hier, Du bist eine Frau also stehst du nicht auf!"

    In der Generation ihrer Eltern hätten die Männer nicht einmal den Kinderwagen geschoben. Zumindest das habe sich inzwischen geändert.

    "In unserer Generation schämen sich die Männer, wenn sie überhaupt nichts tun. Sie wollen ein bisschen helfen. Und dieses Wort stört mich schon: Es geht nicht um helfen, sondern um eine gleichwertige Teilnahme."

    Frauen sollten sich nicht alles bieten lassen, meint Annick Seiwerling, weder zu Hause noch im Beruf:

    "Während der Arbeit kommen manchmal Stadträte zu mir und wollen, dass ich einen Kaffee mache. Ich sage jedes Mal nein. Viele halten mich für eine extreme Feministin. Aber ich sage deshalb nein, weil dieselben Leute nie einen Mann bitten würden, Kaffee zu machen. Alles, wozu man mich auffordert, nur weil ich eine Frau bin, lehne ich ab."

    Für Annick Seiwerling, die früher in der Sozialistischen Partei aktiv war, ist Feminismus und Familie kein Widerspruch, im Gegenteil, meint sie: Dass Mütter arbeiten, sei im Land längst normal. Jetzt müssten die Väter lernen, zu Hause Verantwortung zu übernehmen. Und diese Lektion beginne am Arbeitsplatz:

    "Ich erlebe es gelegentlich, dass Geschäftspartner Besprechungen für 18.00 Uhr ansetzen. Ich sage dann ganz klar, um 18.00 Uhr gehe ich nach Hause, ich habe auch noch anderes zu tun. Es gibt immer noch eine ganze Generation von Männern, die nach Hause kommen, wann sie wollen, weil die Frauen alles erledigen. Manchmal sind Frauen übrigens auch deshalb viel effizienter im Beruf, weil sie weniger Zeit haben. Die Männer werden vielleicht eines Tages lernen, dass alles Spaß machen kann, auch Haushalt und Küche. Und dies ist auch wichtig für den letzten Lebensabschnitt: Viele Männer, die in den Ruhestand gehen, wissen oft nicht, was sie den ganzen Tag lang anfangen sollen, weil sie immer nur gearbeitet haben."

    Ihrem Mann werde das wohl nicht so ergehen, meint Annick Seiwerling. "Aber auch bei uns bleibt manchmal etwas liegen", sagt sie schmunzelnd: "Wenn wir mal keine Lust haben zu kochen, dann stellen wir Brot und Käse auf den Tisch oder eine Suppe."

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    Die Literaturauszüge stammen aus dem Roman "Meeresrand" von Véronique Olmi. Erschienen ist der Roman im Kunstmann Verlag.