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Illegale Textilfabriken
Bangladesch in der Toskana

Sieben Chinesinnen und Chinesen starben bei "Teresa Moda", eine von Tausenden chinesischen Textilfabriken in Prato. Enrico Rossi, der Präsident der Region Toskana, macht sich Sorgen. Er fürchtet um das Image der heiteren Urlaubsregion und möchte die "Sklaverei" in Prato beenden.

Von Conrad Lay | 01.03.2014
    "Eine Chinesin, hat mir zugerufen: "Da sind noch andere drin, viele Personen, die sind im Zwischengeschoss". Ihre Kleidung war halb durchnässt und vom Rauch ganz schwarz. Sie zeigte auf die obere Hälfte der Halle."
    Leonardo Tuci ist Carabiniere im toskanischen Prato. Am 1.Dezember, es war ein Sonntag, fuhr er morgens gerade zur Arbeit, als er mitten im Industriegebiet Rauch aufsteigen sah. In der Via Toscana hielt er an und sah eine brennende Fabrikhalle vor sich.
    "Ich habe versucht, an die Halle ranzukommen, aber Flammen und Rauch haben mich abgehalten. Man konnte kaum etwas sehen. Sie haben sicher noch geschlafen, als sie von den Flammen überrascht wurden."
    Sieben Chinesinnen und Chinesen starben bei "Teresa Moda", einer von Tausenden chinesischen Textilfabriken in Prato. Die Stadt liegt 20 Kilometer nordwestlich von Florenz, und von Prato ist es auch nach Vinci nicht allzu weit - dem Geburtsort Leonardo da Vincis. Allerdings ist von Renaissance und Humanismus hier nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Enrico Rossi, der Präsident der Region Toskana, macht sich deshalb Sorgen. Er fürchtet um das Image der heiteren Urlaubsregion:
    "Man muss verstehen, dass nirgendwo in Mittel- und Norditalien und vielleicht sogar nirgendwo in Europa mehr schwarzgearbeitet wird, als hier in Prato."
    Sklaverei in Prato beenden
    In einer ersten Stellungnahme rief der Regionspräsident dazu auf, die "Sklaverei" in Prato zu beenden und die chinesischen Betriebe nicht mehr als "extraterritoriales Gelände" zu betrachten.
    5000 chinesische Betriebe gemeldet
    Florenz gleicht einem Museum, das seine Industrie vor die Tore der Stadt ausgelagert hat. So ist Prato zu der drittgrößten Stadt Mittelitaliens geworden. Von den gemeldeten 200.000 Einwohnern sind 50.000 Chinesen, dazu kommen noch einige Zehntausend illegale Chinesen. Bei der Prateser Handelskammer sind knapp 5000 chinesische Betriebe gemeldet, darunter 3.700 aus der Textilkonfektion.
    Macrolotto heißt das Industriegebiet, es ist größer als die Altstadt von Prato und voller chinesischer Textilbetriebe. Kilometerweit reihen sich äußerlich unscheinbare, gesichtslose Fabrikhallen aneinander. Irgendwo zwischendrin ist eine rot-weiß-grüne Trikolore gehißt, ein Zeichen dafür, dass hier noch ein italienisches Unternehmen zuhause ist.
    Roberto Cenni, der Bürgermeister von Prato, ist ein ehemaliger Textilunternehmer. Er hatte seine Produktion nach China verlagert hat und musste mit seinem italienischen Textilunternehmen Konkurs anmelden. Die leeren Fabrikhallen hat er – wie viele andere Pratesen auch – an Chinesen vermietet. Fünf- bis zehntausend Euro bringt die Miete einer leeren Halle monatlich ein. Das federt den Niedergang der Prateser Stofffabrikanten ein wenig ab. Bürgermeister Cenni macht sich dennoch Sorgen:
    "In unserer Stadt sind die chinesischen Unternehmen mehr oder weniger alle so organisiert wie dasjenige, in dem sich die Brandkatastrophe ereignet hat. Wir haben es mit Tausenden von Firmen zu tun, in denen sich eine solche Katastrophe jederzeit wiederholen kann."
    Katastrophenbetrieb "Teresa Moda"
    Die Fertigungshalle der Textilbetriebe dient als Produktionsstätte, Stofflager, Aufenthalts- und Schlafraum in einem. Über einer Zwischendecke wohnen, schlafen, essen die Chinesinnen und Chinesen in kleinen, abgetrennten Verschlägen. Die Fenster sind mit schwarzem Zellophan zugeklebt. So auch im Katastrophenbetrieb "Teresa Moda".
    Nach der Brandkatastrophe ist die Empörung groß, doch die Zustände sind schon lange bekannt. Bereits 2006 war Andrea Frattani, dem damaligen Stadtrat für Integration, bewusst, was im Argen liegt. Und schon vor 8 Jahren hatte er das auch deutlich gemacht:
    Illegale Nähereien
    Vorbei an Lidl, dem deutschen Supermarkt in der chinesischen Parallelgesellschaft im toskanischen Prato, geht Andrea Frattani zielstrebig auf einen Fabrikhof zu. Als ein Chinese herauskommt, sind Männer und Frauen zu sehen, die dicht gedrängt an Nähmaschinen sitzen. Andrea Frattani sagt, die Näherei sei illegal.
    Früher waren hier italienische Stofffirmen. Heute nähen hier Chinesen Konfektionsware. Aber sie arbeiten nicht nur hier, sie wohnen, schlafen, essen, alles an einem Ort. Ich mache keine Scherze, es ist wirklich so, schauen Sie hier rein. Die Fenster sind verdunkelt, damit man nicht sieht, was drinnen vor sich geht. Das sind Bedingungen wie zu Beginn des 19.Jahrhunderts. In chinesischen Industriebetrieben sieht es heute noch so aus.
    In einer Nische des Hofes steht ein Wäscheständer, eine Chinesin tritt aus der Tür des Textilbetriebes und setzt ihr kleines Kind in einen Kinderwagen. Der Stadtrat tut sich schwer, genauer hinzuschauen: Er findet es beschämend, den Näherinnen zuzuschauen und diese elenden Arbeitsbedingungen zu sehen. 15, 16 Stunden nähen die Chinesinnen Stoffe zusammen, Tag und Nacht, ohne sozialversichert zu sein, ohne dass Tarifbestimmungen oder Arbeitsschutzgesetze eingehalten würden. Schwarzarbeit in Reinform.
    Nichts lässt darauf schließen, dass sich das jetzt, acht Jahre später geändert hat: Breite Straßen führen durch das Industriegebiet Macrolotto: Via Toscana, Via Liguria, Via Val d’Aosta. Die chinesischen Textilfirmen links und rechts haben Phantasienamen: "Lucky Pronto Moda”, "Freestyle Pronto Moda” oder "Oscar Pronto Moda".
    "Made in Cina" und "Made in Italy" bedeutungslos
    Pronto Moda, also "Schnelle Mode", das soll bedeuten: Man imitiert die neuesten Trends bei den Modeschauen in Mailand und Paris und näht in kürzester Zeit die Konfektionsware zusammen. Die Kleidungsstücke in China zu fertigen und nach Europa zu transportieren, würde viel zu lange dauern. Der Vorteil der Chinesen in Prato ist ihre Schnelligkeit – und natürlich das Label "Made in Italy". Wenn billige chinesische Stoffe von Chinesen in Prato zu Kleidungsstücken zusammengenäht werden, ist das selbstverständlich "Made in Italy", sei die Qualität auch noch so schlecht. Angelockt durch die in der Toskana übliche, hohe Toleranz gegenüber der Nicht-Einhaltung von Gesetzen haben die Chinesen die Grenzen zwischen "Made in Cina" und "Made in Italy" längst bedeutunglos gemacht.
    In der Via Val d’Aosta ist etwas Außergewöhnliches zu sehen: Ein chinesischer Textilbetrieb, den Chinesen besetzt halten. Von Weitem schon sind Transparente zu sehen. Auf einem steht auf italienisch und chinesisch zu lesen: "Wir wollen, dass die Eigentümerin den sieben Todesopfern Gerechtigkeit widerfahren lässt". Über dem Transparent sind die sieben Fotos der Opfer von "Teresa Moda" angeheftet.
    Essen und schlafen in der Fabrik
    Am Eingang des besetzten Betriebs stehen die Verwandten, die Hinterbliebenen der Opfer. Zunächst fehlt es an einem Übersetzer, denn es gibt in Prato nicht allzuviele Chinesen, die italienisch sprechen; die chinesische Comunity lebt äußerst abgeschottet vom Rest der Pratesen. Dann beginnt eine der Witwen zu erzählen, eine junge Chinesin übersetzt:
    "Mein Mann arbeitete seit acht Jahren in Italien. Er wollte hier mehr verdienen als in China, denn wir wollten Kinder haben und gut leben. Ich habe meinen Mann in diesen acht Jahren kein einziges Mal gesehen, er konnte nicht aus Italien ausreisen, denn er hatte keine Aufenthaltsgenehmigung. Deshalb konnte er mich nicht besuchen."
    Als Chinese in Prato illegal zu leben, heißt: 15 oder 18 Stunden zu arbeiten, in der Fabrik zu essen und zu schlafen, und nicht zuletzt: die Familie in China niemals besuchen zu können.
    Die Situation der Hinterbliebenen ist in jeder Hinsicht schwierig, denn die chinesische Eigentümerin von Teresa Moda ist nicht auffindbar. Silvia Pieraccini, Wirtschaftsjournalistin der Zeitung "Il Sole – Ventiquattro Ore", ist der Sache nachgegangen. Ihr Resumee:
    "Im Fall von Teresa Moda ist eine Chinesin mit Wohnsitz in Rom zur Prateser Handelskammer gegangen und hat die Firma angemeldet. Ich habe die angebliche Adresse in Rom überprüft und festgestellt: Dort ist eine Niederlassung der Caritas."
    Da die Handelskammer nicht mit dem Einwohnermeldeamt zusammenarbeitet, sind solche Falschangaben jederzeit möglich. Nun verlangen die Hinterbliebenen die letzten Monatslöhne sowie eine Hinterbliebenenrente – allerdings von einer Person, von der niemand weiß, ob es sie wirklich gibt, geschweige denn, wo sie sich befindet.
    Den Kontakt zu den Hinterbliebenen hatte Yang Shi hergestellt. Der chinesische Schauspieler ist zugleich Dolmetscher und einer der wichtigsten Vermittler zwischen Italienern und Chinesen. Mit der Regisseurin Cristina Pezzoli vom Theater "Compost" trifft er sich in einem Restaurant mitten in der Prateser Chinatown zum Mittagessen. Von Sklavenarbeit will Cristina Pezzoli nicht sprechen:
    "Die italienischen Zeitungen haben berichtet, dass es sich in Prato um Sklaven handelt. Aber das ist falsch. Hier wird kein chinesischer Arbeiter von einem Sklavenhändler an die Nähmaschine gefesselt. Das passiert in einem von 1000 Fällen. Aber in 999 Fällen halten es die chinesischen Arbeiter für richtig, sich selbst auszubeuten, wie es alle Migranten auf der Welt tun, und sie hoffen, im Lauf von vier, fünf Jahren, in denen sie eine Super-Ausbeutung hinnehmen, einen sozialen Aufstieg zu schaffen, damit ihre Kinder ein besseres Leben haben werden."
    18 Stunden Arbeit am Tag
    Yang Shi bestätigt dies: Er sagt, es gebe einfach sehr große Mentalitätsunterschiede:
    "Wenn man einem Chinesen gegenüber von Selbstausbeutung spricht, versteht er das einfach nicht. Er fühlt sich herabgewürdigt. Für ihn ist es nichts Negatives, sich aufzuopfern, und er versteht nicht, dass er mit 18 Stunden Arbeit am Tag gegen gewerkschaftliche Tarifbestimmungen verstößt."
    Yang Shi berichtet von einem Arbeiter bei "Teresa Moda", der zum Glück entlassen worden war. Aus diesem Grund überlebte er den Brand. Seinem Arbeitgeber sei er zu langsam gewesen. Er habe für das Bügeln eines Kleidungsstückes 12 Cents bekommen. Aber - und hier wird es kompliziert - er habe im Monat zwischen 3.000 und 4.000 Euro verdient.
    Wie kann das sein? Eine Minute pro T-Shirt, 60 T-Shirts pro Stunde, 15 Stunden am Tag: Wenn er nun 15 Stunden am Tag gearbeitet hat, macht das gut 100 Euro. Multipliziert mit 30 Tagen, inklusive Samstag und Sonntag, kommt er auf einen Monatslohn von über 3.000 Euro. In China hätte er – bei vergleichbaren Arbeitsbedingungen – 200 Euro verdient. An dieser Stelle wird das Kalkül der illegal in Prato arbeitenden Chinesen deutlich. Und wie Cristina Pezzoli sagt, auch die Haltung der italienischen Öffentlichkeit:
    "Was regt die Italiener in Prato wirklich auf? Dass die Chinesen sehr viel arbeiten und sehr gut verdienen. Das ist purer Sozialneid, da geht es gar nicht um die Menschenrechte der Chinesen, das ist Heuchelei. Yang Shi war zwei Tage nach der Brandkatastrophe in einem Handyladen. Ein Italiener, der in der Schlange hinter ihm stand, sagte zu ihm: 'Warum bist Du nicht mit verbrannt?'"
    Der Palazzo Banci Buonamici, ein prächtiger Renaissancepalast mit großartigen Wandgemälden, ist der Sitz der Provinzverwaltung Prato. Hier war Edoardo Nesi Kulturdezernent, bevor er Parlamentsabgeordneter wurde. Früher war Nesi Textilunternehmer. Auch er musste allerdings mit seinem Familienunternehmen Konkurs anmelden, begann zu schreiben, verarbeitete seinen Erfahrungen literarisch und wurde mit dem Premio Strega, dem wichtigsten Literaturpreis Italiens, ausgezeichnet. Die Bedingungen, unter denen chinesische Arbeiter in Prato arbeiten, vergleicht Edoardo Nesi mit jenen, die in den Romanen von Charles Dickens beschrieben werden:
    "Das als Ausbeutung zu bezeichnen, ist schwierig. Nach unseren Gesetzen, den italienischen, deutschen, österreichischen, europäischen Gesetze ist das mehr als Ausbeutung, Super-Ausbeutung. Aber das Problem ist, dass die chinesischen Arbeiter sich nicht ausgebeutet fühlen, sie wollen auch nicht von Sklaverei sprechen, im Gegenteil, sie sagen, sie seien denen dankbar, die sie hierher gebracht haben. Was vielleicht noch schlimmer ist, sie fügen hinzu, dass es ihnen in China noch schlechter ergangen ist."
    Prato ist durch Ausbeutung reich geworden
    Die Wirtschaftsjournalistin Silvia Pieraccini hat ausgerechnet, dass allein die Prateser Chinesen auf diese Weise eine Million Kleidungsstücke pro Tag herstellen. Der Jahresumsatz beträgt zwei Milliarden Euro, die Hälfte der Ware wird in Schwarzarbeit hergestellt.
    In einem verwinkelten Gässchen, mitten in der Chinatown, hat der Fotograf Andrea Abati sein Studio. Dort erinnert er sich an die "goldenen Zeiten" Pratos:
    "Prato ist reich geworden, indem die Pratesen sich selbst ausgebeutet haben, indem sie keine Steuern gezahlt haben, indem sie Stoffe von anderen imitiert haben. Darauf beruhte ihr Wohlstand. Das wurde historisch als Tugend angesehen. Heute sind es andere, die solche Tugenden an den Tag legen."
    Die Chinesen seien genauso geschäftstüchtig wie die Pratesen, sagt Abati. Nur hätten sie deren Konzept kopiert und ins Extreme radikalisiert.
    Im Buddhistischen Tempel zu Prato wird das Neujahrsfest gefeiert. Am Eingang herrscht ein dichtes Gedränge, 200 bis 300 Menschen sind gekommen, Chinesen, aber auch viele Italiener, darunter die Honoratioren der Stadt. Jeder Gläubige bringt die große, vergoldete Glocke mit einem Schlag zum Klingen, um das neue Jahr zu begrüßen. Unter den Besuchern ist auch Giorgio Silli, der heutige Stadtrat für Integration:
    "Die Chinesen finden in Prato ein fruchtbares Feld vor. Denn italienische Tuchmacher müssen ihre Fabriken schließen, die leeren Hallen wollen sie vermieten. Außerdem waren die Prateser früher den Chinesen von heute sehr ähnlich, im Erdgeschoss hatten sie ihre Webstühle, im ersten Stock wohnten sie."
    Im Unterschied zu italienischer Schwarzarbeit vergangener Tage werden, so sagt Silli, heute jeden Tag 1 bis 1,5 Millionen Euro per "Money Transfer" nach China überwiesen.
    Armutszuwanderung
    Die Chinesen in Prato sorgen für eine Armutszuwanderung der besonderen Art. Sie fordern nichts, wollen keine Sozialhilfe, keine Sozialwohnungen, nichts. Sie wollen nur in Ruhe gelassen werden und zu ihren Bedingungen arbeiten können. So haben sie ein in sich geschlossenes System der Illegalität entwickelt.
    Prato gleicht einem Labor, wo sich die Folgen einer nicht regulierten Globalisierung beobachten lassen. Die chinesischen Zuwanderer sind keine "Verzweifelten der Dritten Welt", sondern junge, intelligente Leute, die ihr Glück versuchen und mindestens so geschäftstüchtig sind wie die Pratesen. Lange hatte man ihren enormen Willen, aufzusteigen, unterschätzt.
    Wird es gelingen, das illegale System der 5000 chinesischen Betriebe in die Legalität zu überführen? Die Wirtschaftsjournalistin Silvia Pieraccini ist skeptisch:
    Chinesen denken nur an das Heute
    "Ich bezweifle, dass die Chinesen dazu bereit sind. Denn bislang gründet ihr Wohlstand darauf, dass sie die Gesetze nicht einhalten. Ansonsten würden ihre Vorteile schwinden. Anders ist es nur für jene Chinesen, die ihr ganzes Leben in Italien bleiben und hier investieren wollen. Aber das ist seltener der Fall. Chinesische Unternehmer sagen mir oft, dass sie nicht wissen, wo sie einmal leben werden. Das ist zum Teil verständlich, denn eine so junge Zuwanderung hat als erstes Ziel, Geld zu machen. Was danach kommt, haben sie noch gar nicht überlegt. Sie denken nur an das Heute."