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Illusion der Chancengleichheit

Der Soziologe Sighard Nickel hat anstatt einer Geldspritze mehr institutionelle Veränderungen im Bildungsbereich gefordert. Damit könnte Kindern mehr geholfen werden als mit individuellen Lösungen, die das Budget der Eltern erhöhten.

Sighard Nickel im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 10.02.2010
    Stefan Koldehoff: Nach dem gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wird es Hartz IV in absehbarer Zeit nicht mehr geben können, jedenfalls nicht so, wie es das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt am 1. Januar 2005 festgeschrieben hat. Die Grundlagen für die Höhe der Sozialleistungen, die Bedürftige vom Staat erhalten könnten, seien nämlich nie klar festgeschrieben worden, kritisierten die Richter, und das gelte besonders für Kinder und Jugendliche unter 14. Ihre Bedürfnisse habe niemand ermittelt, stattdessen sei einfach der Satz für Erwachsene Pi mal Daumen gekürzt worden. Auf diese Weise aber, so das Urteil weiter, drohe Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, wenn ihre Eltern zum Beispiel nicht einmal mehr Schulbücher und Hefte bezahlen können. Das solle nun alles besser werden, gelobten gestern sofort Politiker aller Parteien – Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen sprach sogar von einem Sieg für die Kinder –, und ich frage den in Wien lehrenden Soziologen Professor Sighard Nickel: Dann gibt es also bald mehr für die Kinder und Chancengleichheit und alles wird gut, oder ist das alles eine gesellschaftliche Lebenslüge, mit der wir da leben?

    Sighard Neckel: Ja, wir sprechen in der Sozialwissenschaft in der Tat von der Illusion der Chancengleichheit. Wir meinen damit, dass der Bildungserfolg von Kindern im Wesentlichen von dem sozialen Milieu abhängig ist, in dem die Kinder jeweils aufwachsen. Eine Geldspritze ist eine möglicherweise individuelle Hilfe, die aber strukturell nichts daran verändert, dass die Kinder aus unteren Schichten, die Kinder von Zuwanderern in Deutschland erheblich schlechtere Chancen haben, eine weiterführende Bildung erfolgreich absolvieren zu können. Weniger Geld ist hier eigentlich gefordert als institutionelle Veränderungen, und hier kommt vor allen Dingen die Ganztagsschule in Betracht und die Gesamtschule. Würde man mehr darüber reden, diese institutionellen Bedingungen der Bildung zu verändern, würde man mehr darüber reden, die beschämend niedrige Quote des Staatsbudgets, das wir in Bildung stecken, zu erhöhen, dann wäre den Kindern hinsichtlich der Bildung mehr geholfen als jetzt mit individuellen Lösungen, die darauf abzielen, das Budget der Eltern etwas aufzubessern.

    Koldehoff: Nun werden aber doch Formen wie die Ganztagsschule oder die Gesamtschule eigentlich auch nur dazu führen, Kinder aus ihrem sozialen Kontext länger rauszuhalten; man ändert diesen sozialen Kontext, der für die ungleichen Bildungschancen verantwortlich ist, dadurch aber ja nicht.

    Neckel: Nein, das ist richtig, und insofern hat die Bildungspolitik insgesamt natürlich immer auch Grenzen. Bildungspolitik ist davon abhängig, welches soziale Schicksal bestimmte gesellschaftliche Milieus insgesamt erfahren. Insofern ist eine gute Bildungspolitik natürlich auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Es wird ja immer umgekehrt so gesagt, es wird immer gesagt, Bildungspolitik sei das beste Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, aber umgekehrt ist das eben auch der Fall. Das heißt, wenn ich die Arbeitslosigkeit bekämpfe, die sozialen Bedingungen in den Elternhäusern verbessere, dann profitieren davon auch die Kinder und Jugendlichen.

    Koldehoff: Wenn man jetzt auf die ersten Reaktionen schaut, die es nach dem gestrigen Urteil in Karlsruhe gibt, dann ist das allgemeiner Jubel bei den Politikern, das Bekenntnis, wir werden das ganz schnell politisch umsetzen, was da juristisch gefordert worden ist, und man kann fast ein bisschen den Eindruck haben, dass das Geld doch wieder als das Allheilmittel gesehen wird. Die Frage an Sie als den Sozialwissenschaftler: Was kann man denn den Politikern da mit auf den Weg geben, wie kann man das denn schaffen, das, was Sie gerade beschrieben haben, dieses Bewusstsein, nicht etwa Bildungsschwäche als Ursache von Arbeitslosigkeit, sondern auch sozial schlechte Strukturen als Ursache für Bildungsmisere. Hört man da auf Sie?

    Neckel: Na ja, es wäre schon viel damit gewonnen, wenn man jetzt an diese Diskussion über das vermehrte Geld, was den Eltern zukommen soll, nicht sogleich wieder eine Stigmatisierung unterer Milieus anschließen würde. Es hat ja dann sofort auch die Debatte darüber gegeben, ob Eltern aus unteren Schichten das Geld dann tatsächlich auch für ihre Kinder verwenden würden oder es nicht besser verjubeln. Das erinnert daran, dass es schon immer in bürgerlichen Kreisen so eine Art paternalistischen Affekte gegeben hat, die dann einsetzten, wenn untere soziale Schichten etwas erhalten sollten. Da schickt man dann am liebsten die Sozialarbeiterin oder heute die Super-Nanny vorbei, um dort mal nach der Ordnung schauen zu lassen. Das sind dann tatsächlich Maßnahmen, die am Ende eher eine Belastung darstellen, weil sie eben mit diskriminierenden Aussagen verbunden sind.

    Koldehoff: Schon Kindern drohe der Ausschluss von Lebenschancen, haben gestern die Karlsruher Richter gesagt. Sie haben eine Möglichkeit genannt, wie man das verändern könnte: das Schulsystem grundlegend verändern. Was wären weitere Punkte, die Sie fordern?

    Neckel: Es ist sicherlich so, dass wir versuchen müssen, die Polarisierung in der Gesellschaft insgesamt abzumildern und etwas zurückzunehmen. In dem Maße, wie die Gesellschaft sich teilt in Gewinner und Verlierer, in dem Maße, wie die Gesellschaft sich segregiert, sich abschließt, die sozialen Kreise sich untereinander abschließen, werden diejenigen, die gute Anlagen haben, die in der Regel begabt sind, aber schlechtere Bedingungen haben für ihre Entwicklung von Bildungschancen, diejenigen werden allein gelassen. Und insofern ist eine aktive Gesellschaftspolitik gefordert, die versucht, soziale Spaltungen zurückzunehmen, abzumildern. Davon profitiert dann auch die Bildung und davon profitieren auch Kinder, die dann von sozialen Lebenschancen weniger ausgeschlossen werden.

    Koldehoff: Das Hartz-IV-Urteil allein genügt also nicht, um bessere Bildungschancen zu gewährleisten. Der Soziologe Sighard Neckel war das.