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Ilse Aichinger
Schriftstellerin wollte sie nie werden

Die Österreicherin Ilse Aichinger gehört zu den großen deutschsprachigen Autorinnen der Nachkriegszeit. Sie beschrieb die Schrecken der Kriegsjahre - und damit auch das Schicksal ihrer eigenen, jüdischen Familie. Später sagte sie einmal, sie habe immer nur berichten wollen, wie es gewesen sei.

Von Stephan Ozsvath | 11.11.2016
    Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger.
    Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger. ( dpa - Bildarchiv)
    Die österreichische Autorin Ilse Aichinger ist tot. Sie starb im Alter von 95 Jahren. Das bestätigte ihre Tochter Mirjam Eich der Deutschen Presse-Agentur. Zuletzt hatte Aichinger sehr zurück gezogen in Wien gelebt, wohin sie 1988 zurückgekehrt war.
    Geboren wurden Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga 1921 als Töchter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers in Wien. Früh ließen sich die Eltern scheiden, ihre Kindheit verbrachte Ilse Aichinger in Linz. Später kam sie in die Obhut ihrer Großeltern in Wien. Ihre Großmutter wurde von den Nazis in einem LKW abtransportiert. Ilse Aichinger ist Augenzeugin. "Nach Hitlers Einmarsch gehörten wir zu den Untermenschen in Österreich. In Wien wurde das schon etwas früher deutlich, er ist ja auch hier mit großem Jubel begrüßt worden."
    Ihre Schwester emigriert nach London. Ilse Aichinger bleibt in Wien. Sie will berichten, was passiert. Bereits 1942 beginnt sie mit ihrem Roman "Die größere Hoffnung" - im Zentrum des Werks steht eine Gruppe jüdischer Kinder in der Nachkriegszeit. "Jemand hat mich immer gefragt, was ich eigentlich so tue. Und da habe ich gesagt, das schreibe ich einfach auf, was im Krieg war. Und der hat das dann dem Bermann Fischer und seiner Frau in die Hand gespielt, die in Wien waren. Und so kam's und sie nahmen es - aber sie lobten es nicht sehr."
    Teil der Gruppe 47
    Heute zählt es zu den großen Werken der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. 1950 wird Ilse Aichinger Lektorin in dem Verlag, der ihre Werke veröffentlichte. In ihrem langen Leben verfasste Ilse Aichinger vor allem Gedichte, Erzählungen und Hörspiele. Sie gehörte auch der Schriftsteller-Gruppe 47 um Heinrich Böll an. "Ich habe einmal etwas geschrieben: Dass für mich die Gruppe 47 insofern sehr wichtig war, als dass ich immer schon zu den Pfadfindern wollte. Aber dazu war kein Geld da. Ich fand es vor allem, und das hat mir auch mein ganzes Leben geholfen, Dinge zu bestehen. Ich fand es sehr komisch, ich fand eine große Komik in den ganzen Inszenierungen, in den Strandhotels und den ganzen Ritterburgen, und was sich so abspielte. Ich hatte es gern."
    Der literarische Durchbruch gelingt ihr mit der "Spiegelgeschichte". Darin erzählt sie das Leben rückwärts von der Bahre bis zur Wiege. Ihre Botschaft: Es gehe darum, alles zu verlernen. Auch und besonders die Sprache. Verdichten, darum ging es ihr. "Es hat irgendjemand gesagt: 'Es ist nötig, von allem etwas zu wissen, wenn auch von allem sehr wenig.' Und das genau finde ich schrecklich. Ich finde, es ist nötig, von einer oder zwei Sachen sehr viel zu wissen. Und dann erfährt man auch das andere, was notwendig ist."
    Über die Gruppe 47 lernt sie auch ihren Mann Günter Eich kennen, einen Kollegen. Mit ihm bekommt sie zwei Kinder - ihre Tochter wird Bühnenbildnerin, ihr Sohn Clemens ebenfalls Literat und Schauspieler. Als er bei einem Unfall stirbt, zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Im Laufe ihres langen Lebens erhielt Ilse Aichinger zahlreiche Auszeichnungen. Sie selbst blieb stets selbstkritisch. Ein Medizinstudium hatte sie nach fünf Monaten abgebrochen. Sie sei zu ungeschickt gewesen, sagte sie einmal. Und Schriftstellerin wollte sie nie werden. "Wenn ich an einen solchen Beruf gedacht hätte, hätte ich vielmehr an Journalist gedacht. Ich wollte auch später etwas berichten. Ich wollte berichten, wie es war."