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Im Auftrag einer göttlichen Kommission

Wie schön war doch die Zeit im Paradies, als der Mensch sich nicht mit Arbeit herumschlagen musste. Johannes Ullmaier, Schriftsteller, Dozent und Lektor, bekam den Auftrag für das von ihm herausgegebene Buch "Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit" von einer göttlichen Kommission der Zukunft: Evaluiere die Arbeitswelt! Dies tut Ullmaier, mit der Hilfe 17 verschiedener Autoren.

Von Detlef Grumbach | 09.04.2008
    Erinnert sich noch jemand an den Bitterfelder Weg der DDR-Literatur? An Max von der Grün und die Gruppe 61 im Westen? Oder an den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt mit Buchtiteln wie "Ein Baukran stürzt um", an Erika Runges "Bottroper Protokolle", an Günter Wallraffs "Industriereportagen"?

    Noch bevor sich das Schlagwort von der postindustriellen Gesellschaft durchgesetzt hat, ist Arbeit, Industriearbeit, dreckige, anstrengende Lohnarbeit, knallhartes Handwerk aus der Literatur verschwunden. Erleben wir auch sonst literarische Figuren - Kommissare im Kriminalroman einmal ausgenommen - selten beim alltäglichen Broterwerb. Wenn in Ralf Rothmanns Roman "Hitze" ein Held täglich das Essen einer Großküche ausfährt oder - denken wir an "Milch und Kohle", "Junges Licht" - seine Geschichten von Bauern und Bergleuten handeln, bleiben das Ausnahmen.

    So überzeugt die Idee des Suhrkamp-Lektors Johannes Ullmaier, Autoren zu literarischen Reportagen aus dem Arbeitsleben einzuladen, auf den ersten Blick. Doch erste Zweifel kommen auf, wenn der Leser sich durch den statt eines Vorworts abgedruckten E-Mail-Wechsel zwischen Herausgeber und seinem Auftraggeber gearbeitet hat. Eine göttliche Kommission wendet sich aus weit vorangeschrittener Zukunft an den Verlag und beauftragt ihn gegen ein unmöglich auszuschlagendes Honorar mit der literarischen Feldstudie, einer, so wörtlich, "Evaluation der Arbeitswelt"; weil die Götter im Jahr 2440 wissen wollen, wie es zugeht innerhalb ihrer Schöpfung und vorliegende Statistiken ihnen allein nicht ausreichen.

    Muss ein Lektor seine Autorinnen und Autoren mit einer solch etwas sehr weit hergeholten "Idee" ködern, wenn es um ein profanes Thema wie ganz gewöhnliche Arbeitswelt geht? Führt er sie vielleicht sogar in die Irre?

    Wer nach diesem Auftrag aus der Zukunft in der "Schicht!" titulierten Sammlung Texte in der oben genannten Tradition, wer teilnehmende Beobachtung von Fließbandarbeit und Montage, aus Großraumbüros und Callcentern erwartet, sieht sich getäuscht. Gleich der erste Text wendet sich beispielsweise einem Milieu zu, in dem Arbeit so gut wie verschwunden ist, und mit der Arbeit auch viele Menschen. Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, entwirft eine ebenso altertümlich wie utopisch anmutende Szenerie, in der nicht nur klassische Arbeit, also auch kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, sondern auch die Hierarchie der Geschlechterverhältnisse ausgehebelt sind. Ein lesbisches Paar zieht in die Brandenburgische Provinz. Die eine, Reitlehrerin, sorgt freiberuflich dafür, dass die Pferde überlasteter Großstädter in Brandenburger Ställen gelegentlich mal bewegt werden, die andere renoviert in Eigenarbeit den alten Hof. Und schon finden wir, mit einer Portion Ironie ausgepinselt, das beinah idyllische Bild einer postindustriellen Tauschgesellschaft.

    Vielleicht war es der inszenierte göttliche Auftrag, der nicht nur Juli Zeh veranlasst hat, die Wahl ihrer Stoffe in einem gleichermaßen biblisch-archaischen, wie auch bei einigen Texten utopischen, Milieu ansiedeln, irgendwo am Rande der Moderne jedenfalls. Oder ist der landläufige Begriff "Arbeitswelt" nicht mehr so ganz kompatibel mit der Wirklichkeit? Der von Bernd Cailloux portraitierte Trendforscher bei VW, der nicht nur die Anforderungen an Mobilität und damit an ein Automobil in göttlicher Zukunft schon heute antizipieren muss, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse, Produktionsweisen, Materialien, erinnert jedenfalls eher an einen biblischen Propheten als an die Form von Arbeit, die man meist mit VW assoziiert.

    Feridun Zaimoglu führt uns in ein halb verwaistes Gewerbegebiet auf dem Land, wo sich Susanne, Fachverkäuferin für Haushaltswaren, mit einigem Gestöhne vor der Webcam, und mit dezenter Unterstützung des Operators, etwas Geld für ihre geliebten Fernreisen dazu verdient: die Tempelhure des Web2.0.

    Andere Geschichten erzählen von einem Ex-DDR-Zöllner, der die Wandlungen seines Jobs durch den Systemwechsel und die Öffnung der Grenzen erlebt, oder vom Bettler, der seinen Broterwerb durch etwas mehr Professionalität zukunftssicherer machen sollte. Sie handeln von einem Aussteiger aus der Großstadt, der als Ziegenhirte berufliche Befriedigung findet oder von einem jungen Mann, der hart daran arbeitet, seine Kochlehre in der Spitzengastronomie erfolgreich zu bestehen.

    Der Leser lernt den Beruf des politischen Mitarbeiters im Deutschen Bundestag kennen, einen Künstler, den wie aus heiterem Himmel das Schicksal der Verbeamtung trifft, einen Profi in Sachen Arbeitsbeschaffung und allen möglichen staatlichen Programmen, der sein Arbeitsleben lang beschäftigt war, andere Leute nur irgendwie in Arbeit zu bringen, einen Arbeiter auf der Meta-Ebene also, der sich auf seinen Ruhestand freut.

    Irgendwie zwischen biblischen Zeiten, erster, zweiter und dritter industrieller Revolution und ferner Zukunft pendeln sich die Bilder der Arbeitswelt also doch in der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland ein. Zu den Autorinnen und Autoren der Sammlung zählen unter anderen auch Wilhelm Genazino, Gabriele Goettle, Georg Klein. Peter Glaser zeigt prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der new economy, Oliver Maria Schmitt die abgeschiedene Welt, in der ehrenamtliche Kräfte Demenzkranke pflegen, durchaus komisch erzählt lernen wir einen neuen Bestattungstourismus kennen, weil Grabmiete und Pflege in Polen nun wirklich billiger zu haben sind.

    Günter Wallraff ist gerade 65 geworden, als Industriereporter im wohlverdienten Ruhestand. Und wann immer "Arbeitswelt" in der Gegenwartsliteratur "Konjunktur" hatte, hatte sie diese in Verbindung mit starken, sozialen Bewegungen: im Arbeiter- und Bauernstaat sowieso, aber auch im Westen, in den sechziger und siebziger Jahren, in Zeiten des sozialen Aufbruchs, als sogar Studenten in die Betriebe gingen. Heute zerfranst das Bild des Arbeiters, lösen sich klassische Bilder der Arbeitswelt auf, befinden sich Erwerbsbiographien in einem radikalen Wandel. Alles dreht sich um eine neue Mitte, was immer damit gemeint ist.

    Wahrscheinlich deshalb hat Herausgeber Johannes Ullmaier ein Ausrufezeichen hinter den Titel gesetzt. "Schicht!", auch im Sinne von: "Ende, Sense, aus!" Was kommt stattdessen, was entwickelt sich - an den Rändern, im Abseits? Das vor allem erkunden die auf gut 400 Seiten versammelten, vielstimmigen, größtenteils auch literarisch überzeugenden Reportagen mit ethnologischem Blick. Sie entfalten jede Menge Wirklichkeit, bewahren sich eine staunende Distanz, treten einen Schritt zurück, üben sich in sanfter Ironie. Ein zuverlässiges Bild von Arbeitswelten im Sinne des göttlichen Auftrags liefern sie wahrscheinlich nicht, ein aufschlussreiches Lesevergnügen für neugierige Zeitgenossen hier und heute bilden sie allemal!

    Johannes Ullmaier (Hrsg.) : Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit
    Edition Suhrkamp
    417 Seiten, 12 Euro