Donnerstag, 18. April 2024

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Im Café und auf der Straße. Geschichten

Eine Kuh schiebt sich von rechts ins Blickfeld, schwarzweiß gezeichnet, knochig und schwer. Sie schiebt sich mühsam voran, mit träge schaukelndem Leib, den Kopf vorgestreckt. Sie stößt ein Schnauben aus, langsam und genau. Dann bleibt sie stehen, dreht den Kopf, um sich die Flanke zu lecken, hält ein und schaut zum Mann hinüber, der drüben an der Hausmauer sitzt. Sie glotzt ihn an, reglos, sie scheint nicht mehr zu atmen, sie wartet, sie wartet ...

Martin Krumbholz | 04.11.2002
    Was wir eben gehört haben, ist der Schluss des Textes Mitten am Nachmittag; nicht am Anfang oder am Ende des Nachmittags, die Begegnung findet statt in der Mitte des Nachmittags, und Hansjörg Schneider nimmt es mit seiner Chronistenpflicht so genau wie die Kuh mit dem Schnauben, mit dem Lecken und mit dem Schauen. Da blicken sich zwei, die ein idyllisches Fleckchen Erde miteinander teilen müssen, lange in die Augen und warten. Aber worauf? Nicht zufällig ist es ein Tier, das sich hier so breit ins Blickfeld schiebt – nicht weil Schneider dem Urbanen abgeneigt wäre und die Naturidylle bevorzugte, er lebt schließlich in Basel, sondern weil er die Kreatur schlechthin liebt, auch die menschliche Kreatur. Dem Untertitel des Bändchens zum Trotz sind dies im Grunde keine Geschichten, es passiert ja fast nichts in ihnen, es sind Begegnungen mit Menschen und Tieren, die selten in eine Pointe münden. Einmal heißt es: "Ich gehe im Kreis. Dieses Gehen ist schön. Man will nirgends hinkommen in diesem Park, man will nur gehen." Etwas von dieser kontemplativen Ziellosigkeit eignet auch Schneiders Prosaminiaturen: die Sprache scheint nirgends hinkommen zu wollen, sie hängt zärtlich an den Dingen, an den Menschen, an den Sujets, und will sie nirgendwo hintreiben.

    Mir ist aufgefallen, dass ich mit den Augen schreibe. Ich schaue, und ich beschreib, was ich sehe. Es kommt auf den Blick an, den man hat, wenn man vielleicht einen schnellen Blick hat oder gar nicht genau hinschaut, dann sieht man halt nicht so viel. Und ich hab ja immer Zeit gehabt. Ich bin einfach ein Augenmensch, ich beschreib das, was ich sehe, so, dass es mir gefällt, und wenn’s mir gefällt, dann interessiert’s vielleicht auch jemand anders. Das sind Momentaufnahmen, da fällt plötzlich ein Licht auf etwas, was gar nicht auffällig ist. Das entspricht schon meiner Absicht, dass ich Dinge rausheben will, damit sie dastehen, auch wenn es ganz alltägliche Dinge sind.

    Die Texte dieses Bandes sind ursprünglich für Zeitungen entstanden, es sind klassische Zeitungsfeuilletons. Hansjörg Schneider, der 1938 im Schweizerischen Aarau geboren wurde, hat den Beruf des Reporters erlernt und die dazugehörige Sprache: einfach, knapp und präzise. Das Medium prägt die Form. Es ist kein Schreiben für die Ewigkeit, für die Nachwelt, sondern für die Mitwelt, ein Schreiben aus Zeitgenossenschaft. Ein Autor wie Hemingway, der ebenfalls von der Reportage herkommt, ist das Vorbild. Und Zeitungen sind auch etwas Altmodisches:

    Ich liebe Zeitungen, das ist gedrucktes Wort, meistens in sehr hohen Auflagen, jeden Tag neu, am Abend wirft man’s wieder weg: das ist eine sehr schöne altertümliche Art der Lektüre. Und wenn man da einen poetischen Text hineinschreiben kann, der vielleicht ein bisschen aus dem Normalen herausragt... das ist eine kleine Oase neben dem Alltäglichen, ich find das eigentlich sehr schön. Als ich da jetzt die Texte in diesem Buch versammelt hatte, und ein bisschen drin geblättert habe, hab ich schon gedacht, das ist ja... also das darf ich ja wohl sagen, ich hab gedacht, das ist ja ziemlich gut, was ich da geschrieben hab... Also wichtig ist für mich, dass ich die meisten dieser Texte nicht geschrieben hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, sie kommen in einer Zeitung. Ich finde auch, dass wird heutzutage viel zu wenig gemacht. Es ist nicht mehr so leicht wie vor 30 Jahren, eine Kolumne zu schreiben, weil es gibt immer mehr Journalisten und immer weniger Zeitungen, also der Druck auf die Redaktionen nimmt zu.

    Häufig sucht Schneider die Gesellschaft der Underdogs, der gescheiterten Existenzen. Wenn er über eine Nachtbeiz schreibt, in der einsame Männer sich betrinken, spürt man die Sympathie des Zaungasts, die ohne sentimentale Beschönigung auskommt. "Ihr Leben kann nicht besser werden, sondern nur schlimmer", heißt es da. "Und natürlich sind es Trinker. Aber sie trinken so, dass immer ein Stück Nüchternheit in ihren Köpfen zurückbleibt." Diese Rest-Nüchternheit benützen sie dazu, sich Geschichten zu erzählen, wenn es auch beinahe trostlose Geschichten sind, die von Schicksalsschlägen, Elend und Vereinsamung handeln: "Schließlich helfen sich Menschen mit Geschichten."

    Das Tröstliche ist eben das, dass die sich über die Sprache mitteilen können, sich ihre Geschichten erzählen können. Das Beste, was die Menschheit ist, ist die Sprache. Deshalb schreibe ich auch so gern, Schreiben ist wirklich so etwas Lebendiges und etwas Schönes. Auch das Lesen. Es geht darum, dass man etwas, das man erlebt hat, wirklich in Sprache fassen kann. Man kann es mit Sprache fast bannen... Ich glaub, das gehört einfach zum Menschsein, dass man nicht unbedingt in der eigenen Idylle, im eigenen Glück drinhockt, auch der Schmerz und das Leid natürlich, das Lachen, aber wenn jeder da für sich allein hocken würde und nichts sagen, das wäre ja unerträglich, oder?

    Dieser Erzähler bleibt nicht distanziert außen vor, er lässt sich auch hineinziehen in ein karges, lakonisches Geschehen; er partizipiert an jenen knappen Gesten der Menschlichkeit, die das Leben ein wenig heller und freundlicher machen. So etwa in dem Stück "Der fremde Mann", einer Szene sprachlos gelingender Kommunikation zwischen einem In- und einem Ausländer, an deren Ende der Satz steht: "Wir winken uns zu wie alte Freunde ...":

    Das hab ich genau so erlebt. Alle diese kurzen Geschichten da, da hab ich nix erfunden, nie ... Das hab ich auch so erlebt, dass da einer stand an der Haltestelle, aus Ex-Jugoslawien oder was, da hab ich ihm ein bisschen helfen können, obwohl er kaum mit mir reden konnte, das war irgendein Bauer aus Bosnien, weiß der Teufel, so eine kleine Geste, ich hab ihm da eine Fahrkarte rausgelassen, und er hat sich bedanken wollen, aber er wusste ja nicht was das heißt, danke, oder? Und da hab ich zurückgeschaut und er auch, und da haben wir uns gewunken, das ist aber doch etwas Wunderbares, oder... Eine ganz winzige, ein Geschichtlein fast, aber ich find das schon noch der Rede wert!

    Behaustheit und Unbehaustheit – auch das ist ein zentrales Thema dieser Miniaturen. Die Männer in der Nachtbeiz haben alle nur kurz einmal vorbeigeschaut und sehen keinen Grund, ihre Mäntel an den Kleiderständer zu hängen. "Wir sind nur Passanten", heißt es, "und ein gutes Wolltuch über den Schultern beruhigt den Reisenden." Schwingt da klammheimlich ein Stückchen Metaphysik mit? Der Passant, der Reisende im irdischen Jammertal?

    Ja, das weiß ich jetzt nicht ... Wenn man da auf die Gasse geht und so ein bisschen rumsäuft, hier und da, die Wirtschaft wechselt, im November, wenn die Stadt grau ist und neblig und so, dann ist das schon gut, wenn man einen warmen Mantel hat, man ist geschützt, man ist nicht nur geschützt gegen die Kälte, auch gegen andere Dinge, hat man das Gefühl... Und diese Wirtschaften, zum Teil sind sie überheizt, zum Teil unterheizt, der Ofen steht an einer bestimmten Stelle, woanders ist es immer noch kalt, das ist so... Also ein gutes Wolltuch, das beruhigt wirklich den Reisenden.

    Schneider hat seine Wurzeln in den 50er Jahren, als man mit 17 per Autostopp nach Paris fuhr: "Wir waren alle Existentialisten", heißt es über eine Gruppe von jungen Musikern. Ein längst versunkenes Wort; was sagt es uns heute noch?

    Zuerst mal etwas Äußerliches ... Also Bart wachsen lassen, den ersten Flaum stehen lassen, dann enge Manchesterhosen, Dufflecoat, lange Haare, das war vor den Beatles oder, dann ein paar Sätze vom Heidegger lesen, ohne ihn zu verstehen, Sartre, Camus, Jazz natürlich, Charlie Parker, eine Sehnsucht nach Paris, Georges Brassens, und die Gewissheit, dass es gar keinen Sinn hat, dass man sich im Leben Mühe gibt und sich anstrengt. Fatalismus. Es hat alles keinen Sinn. Es war keine Massenmode, wir fanden uns auserlesen. Wir waren sicher auch ziemlich arrogant.

    1968 fuhr Schneider wieder nach Paris, diesmal als Reporter, um über die Studentenrevolte zu berichten. Paris, Existentialismus, Mai 68 – das scheint in der geistigen Biographie dieses Schriftstellers einen ganz engen Zusammenhang zu bilden:

    1968 hat die Welt verändert, das vergisst man heute oft. Ich fuhr mit einem Bus nach Paris, der ziemlich viel Benzin mitgenommen hatte, in Frankreich war ja Generalstreik, man konnte kein Benzin mehr kaufen. Das Quartier Latin war voll mit auch älteren Leuten, die gekommen sind, um zu diskutieren, das hat enorm viel bewirkt. Das ging ja so weit, dass der de Gaulle abgehauen ist aus Paris, ich glaub in die Pfalz zu seinem Panzerregiment, damit wollte er ein Zeichen setzen, diese Leute übernehmen die Macht nicht! Immerhin ging das so weit, dass der de Gaulle dachte, er müsste ein Zeichen setzen!

    Zu den schönsten Texten des Bändchens gehört "Rue Labat, Paris": Er ist aus unterschiedlichen Elementen komponiert, einer Begegnung mit einer jungen Landsmännin, deren mitgebrachte, unglaublich süße Patisseriewaren eine subkutane Erotik signalisieren, und dann, typisch dieser Perspektivwechsel, der Sprung in ein kleines intimes Kammertheater: der Blick in eine Nachbarwohnung, in der ein Arbeiterehepaar den Tod zu erwarten scheint:

    Ich hab einfach überlegt, was wartet noch auf die ... Warum sind die nicht in den Midi gezogen, warum hocken die in dieser beschissenen Zweizimmerwohnung in dem Armenviertel da, oder? Die sind gut ausgekommen miteinander, die haben sich offenbar gern gehabt, die können sich gegenseitig stützen, können noch 10 oder 2o Jahre leben, aber dann sterben sie einmal, und was passiert dann? Dann wird es schwierig, einen Sarg durch dieses enge Treppenhaus zuerst hoch zu schleppen und dann mit den Leichen drin wieder runterzuschleppen... Das muss doch sicher ein Problem sein!

    Paris bleibt, solchen melancholischen Anwandlungen zum Trotz, für den Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schneider eine Stadt der Lebensfreude und der Sinnlichkeit; eine Stadt der Märkte, der Bistros und der süßen Patisseriewaren, selbst dann, wenn man sie nicht mag. Und es ist die Stadt einer elementaren Geistigkeit, in deren Fluidum ein Chronist so unbemerkt und ungestört eintaucht, als wäre es das Natürlichste von der Welt.

    Das Großartige an Paris, man fällt nicht auf, wenn man da im Café drinhockt und in ein Heft reinschreibt. In anderen Städten drehen alle die Köpfe, man sieht, dass sie überlegen, ist das jetzt ein Schriftsteller, schreibt der jetzt ein Buch, oder... Und schon ist man gestört! In Paris nicht. Ich hab Paris als unglaublich großzügige Stadt erfahren, seit 17 geh ich ja dorthin. Es ist auch eine unheimlich liebe Stadt. Das heißt, dass die Leute in Paris das Leben lieben. Sie sind froh, dass sie leben dürfen. Wenn Sie mal auf einen Markt gehen, müssen Sie mal schauen, wie die das Gemüse hinlegen. Der Gemüseverkäufer freut sich, dass er so wunderschöne Tomaten hat oder so wunderschönen Kohl oder Salat... Also die machen den Augenblick zum Fest. Das Brot, das Baguette, das ist sowas Schönes, und es ist so eine Lust hineinzubeißen, oder... Die beißen mit Lust hinein, das ist für mich Paris. Die Erotik ist dort fast mit Händen zu fassen.