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Im Dialog mit dem Anderen

Denken und Schreiben des polnischen Priesters, Philosophen und Solidarność-Vordenkers Józef Tischner kreisten zeitlebens um die Frage, wie ein Mensch angesichts der monströsen Verbrechen des 20. Jahrhunderts seine Menschlichkeit bewahren konnte. Heute könnten Tischners Schriften auch eine Bedeutung für den deutsch-polnischen Dialog bekommen.

Von Joachim Hildebrandt | 19.08.2012
    Die einstige polnische Oppositionsbewegung Solidarność war tief im polnischen Volk verwurzelt. Zu den katholischen Protagonisten zählte zum Beispiel der Priester, Philosoph und Vordenker Józef Tischner aus Krakau, der für die Streikenden Messen las und Aufrufe verfasste. An Tischners Leben, seinen humanen philosophischen Ansatz und sein politisches Selbstverständnis erinnert der nun folgende Essay von Joachim Hildebrandt mit dem Titel "Der Dialog mit dem Anderen". Der Autor ist Hörfunkjournalist.


    Im Dialog mit dem Anderen
    Der polnische Priester und Philosoph Józef Tischner


    Wer war Józef Tischner? Ein Philosoph menschlicher Erfahrung? Ein verschmitzter Phänomenologe? Wenn wir sein Buch Der Streit um die Existenz des Menschen aufschlagen, das vor zwei Jahren im Suhrkamp Verlag erschienen ist, sehen wir gleich ein Bild seines Charakterkopfes Ende der achtziger Jahre. War er ein enfant terrible des polnischen Katholizismus?

    Tischner lebte von 1931 bis zum Jahre 2000. Piotr Olszówka hat an der Jagiellońska Universität in Kraków (Krakau) Philosophie studiert, später dann promoviert und in Berlin an der Freien Universität osteuropäische Kultur- und Kunstgeschichte gelehrt. Er hat Tischner persönlich kennengelernt.

    "Ja, ich hatte diese Ehre, ihn zu hören als Lehrer, als Philosophen, der Vorträge und Vorlesungen hielt, und das war jedes Mal ein fantastisches Erlebnis, auch menschlicher Art. Er war sehr expressiv, er war sehr sympathisch. Er war eigentlich die Güte in Person. Dass er ein Priester war, das vergaß man nach drei, vier Sätzen, aber dass er ein Denker war, das konnte man nie vergessen. Das war eine erschütternde Erfahrung, dass jemand so souverän und unabhängig von jeglicher Autorität denken konnte in diesem kommunistisch geprägten Land bis tief in die achtziger Jahre."

    Dass Tischner so souverän und unabhängig von jeglicher Autorität denken konnte, lag wohl auch daran, dass er in Krakau lebte und lehrte. Seine angenehme Ausstrahlung hatte sicherlich damit etwas zu tun, dass er gerne Begriffe, Thesen, philosophische Systeme in Metaphern verwandelte, die Menschen helfen sollten, die Abgründe im 20. Jahrhundert, wie Kolyma und Auschwitz besser verstehen zu können.

    Im Oktober 1980 schrieb Tischner mit seiner Messe auf dem Krakauer Wawel für die versammelte Führung der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność Geschichte. Er engagierte sich, weil Solidarność für ihn mehr darstellte als nur eine Gewerkschaft, die sich um Arbeitsplätze, Löhne und soziale Verbesserungen kümmert. Sie war entstanden als eine gesellschaftliche Bewegung, die einen Großteil der polnischen Bevölkerung, und dazu zählten auch Parteimitglieder, in sich vereinigen konnte. Eine Tatsache, die im Westen gerne unterschlagen wurde, wo man sowohl den Bewegungscharakter als auch die progressive Stoßrichtung von Solidarność verkannte. Ihre Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit waren vor allem Entspannungsdialektikern suspekt, sahen diese doch den hochatomar gestifteten Weltfrieden und ihre Verhandlungsdiplomatie durch allzu ungestümen Freiheitsdrang gefährdet.

    Nach General Jaruzelskis Militärputsch Ende 1981 wurde sogar bis weit ins Bankenmilieu hinein am hässlichen Zerrbild von den "faulen Polen" gearbeitet, die – wie es damals hieß - sich zum Wohle ihrer Kreditwürdigkeit besser keine Streikbewegung hätten leisten sollen. Als nach dem Epochenbruch von 1989 Solidarność in viele Flügel und Gruppierungen zerfiel, ließ sich der ursprüngliche Volksbewegungscharakter kaum noch bestreiten. Denn die teilweise divergierenden Positionen von Protagonisten wie Jacek Kuroń und Bronislaw Geremek, Lech Walesa oder auch - Józef Tischner deckten ein breites demokratisches Spektrum ab.

    Für diese Bewegung und nicht nur für Leute aus dem katholischen Milieu war Tischner eine große Figur. Er hat ein paar bedeutende Texte geschrieben, die in einem kleinen Buch unter dem Titel Ethik der Solidarität veröffentlicht worden sind. Er dachte, dass Solidarność keine bloß politische Bewegung war, die sich zum Ziel nahm, die Diktatur zu beseitigen. Das gewiss auch. Aber es war ebenso ein Versuch, die heutigen Kräfte in Polen zu bündeln, das gesellschaftliche Leben in Polen neu zu definieren. Piotr Olszówka:

    "Rückblickend, finde ich, und es wird auch in Polen allgemein so betrachtet, ist es eine wunderbare Rolle gewesen, die er gespielt hat, weil er tatsächlich mit seiner Ethik der Solidarität, einem wichtigen Werk, eine wichtige Gedankenschule, die er dadurch entwickelt hat, mit vielen Schülern, die diese Gedanken aufgegriffen haben, dass nämlich die Gewerkschaft Solidarität nur ein Ausdruck einer neuen Ordnung der Gesellschaft sein kann, dass nämlich die Solidarität etwas viel Tieferes und viel Verantwortungsvolles sein muss als eine breit erfasste gesellschaftliche Erscheinung. Dies ist für meine Begriffe seine wichtigste Errungenschaft: Die Ethik der Solidarität ist ein Meilenstein in der Bildung einer neuen polnischen Nation."

    Tischner stammt ursprünglich aus einem südpolnischen Dorf im Tatra-Gebirge. Dort wuchs er in Lopuszna auf. Ab 1950 studierte er in Krakau, 1955 erhielt er die Priesterweihe. Einer seiner Lehrer in Philosophie, die ihn am meisten beeindruckt haben, war Roman Ingarden. Dieser Pole schrieb auf Deutsch und war ein Schüler des Phänomenologen Edmund Husserl. Krzysztof Michalski leitet das Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Er war Józef Tischner sehr verbunden, der als sein Partner das Institut mit aufgebaut hat. Man kann es in etwa vergleichen mit dem Wissenschaftskolleg in Berlin, wo Geistes- und Sozialwissenschaften gelehrt werden. Krzysztof Michalski beschreibt, wie er Józef Tischner kennengelernt hat:

    "Meine Doktorthesis habe ich über Heidegger geschrieben. Damals, in den siebziger Jahren, gab es in Polen keine Leute, die etwas über Heidegger wussten. Die Professoren meiner Universität Warschau sind ausgewandert. (Wie Kolakowski und andere.) Jemand sagte mir, es gebe einen Priester in Krakau, der etwas wüsste. Dann bin ich nach Krakau gefahren. Ich bin ein bisschen zu früh gekommen. Man sagte mir, er sei in der Kirche, wo er eine Messe hält."

    Die Messe war für Kinder. Die Kinder liebten ihn. Das waren legendäre Messen. Danach hat er mit mir über Heidegger lange gesprochen. Und ich war beeindruckt. […] Sein Begräbnis 2000, da sind wir mit der Familie in sein Dorf gefahren, wo er geboren ist und auch begraben wurde. Es waren etwa 20.000 Menschen aus ganz Polen da."


    Zentral im Denken von Józef Tischner ist die Frage, wie ein Mensch in der Zeit von Auschwitz und Kolyma seine Menschlichkeit bewahren konnte, um nicht dem Fatalismus zu verfallen oder mit einem Verdrängungssymptom weiterzuleben, um sich dann eines fernen Tages daran zu erinnern, dass es mal eine Zeit gab, in der er ganz Mensch sein wollte.

    Die Erfahrungen mit dem Gulag waren auch für einen seiner Meister, für Emmanuel Lévinas, den Philosophen des Dialogs, prägend. Es handelte sich um jene Grenzerfahrungen der Nichtexistenz des Menschen, wie sie in den fünfziger Jahren von den Existenzialisten, zum Beispiel von Cioran, heraus gestellt wurden. Dieser faktische Tod des Guten im Menschen ist eine tiefgreifende, im Grunde existenzvernichtende Erfahrung.

    Tischner versucht, in seinem Buch "Der Streit um die Existenz des Menschen" zu zeigen, dass, wenn man den Tod betrachtet, etwas davor existieren musste, das eine Wiedergeburt ermöglichen konnte, aus einem Dialog mit dem anderen heraus. Das ist eines seiner Motive, warum er sich in der freien Gewerkschaft Solidarność engagiert hat. Gleichzeitig hielt er auch engen Kontakt zu marxistischen Philosophen. Er hielt sogar den Dialog zu den Machthabern offen. Denn er verstand seine Rolle als Brückenbauer zwischen den Lagern.

    In Józef Tischners philosophischen Schriften finden sich "Instrumente einer lebensweltlich orientierten Phänomenologie". Tischner hat die Analytik von Kant aufgegriffen, die Dialektik von Hegel und die Dialog-Philosophie des aus Litauen stammenden Philosophen Emmanuel Lévinas, der eine Ethik des Anderen begründet hat. Piotr Olszówka:

    "Man muss sagen, dass die Phänomenologie eine Möglichkeit eröffnet hat, die ideologischen Barrieren zwischen den Lagern der Philosophen zu durchbrechen. Das ist auch eine Art […] zu denken im Chor der Stimmen. Dieser Chor der Stimmen bildet erst einmal eine plurale Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Das ist die Quintessenz des dialogischen Denkens, dass wir nicht ausschließen und vernichten den Gedanken des Anderen, sondern in einem konstruktiven Dialog sind, der zu einer Lösung kommt, aber nie eine absolute Lösung erreicht mit dem anderen Denken."

    Das konnte Tischner zuerst innerhalb der Kirche praktizieren, die ein wichtiger Ort des Widerstands im partei-kommunistisch behrrschten Polen war. Dort nahmen Nischen einen lebenswichtigen Raum ein, gerade auch für Akademiker, insbesondere für Philosophen. Die Auflösung fester Strukturen auf ideologischer Ebene begann in Polen schon in den sechziger Jahren, wenngleich die politische Ebene unverändert beibehalten wurde. Für Tischner war das Thema Verantwortung in schwierigen Zeiten entscheidend. Wie komme ich zur Freiheit? Nur, wenn ich mich selbst erkennen kann, sonst kann ich nicht frei sein. Und auch: Nur wenn ich mich selbst erkenne, kann ich gut sein. Er beschreibt Wege von der Freiheit zur Verantwortung. Voraussetzung sei Selbsterkenntnis. Denn nur über sie sei Verantwortung als eigene Verantwortung wahrnehmbar.

    Die theologisch gefärbte Kategorie der Güte oder des Guten sei auf diese Weise bedeutsam. Er verknüpft damit ein Potenzial, das er in jedem menschlichen Individuum angelegt sieht, sozusagen ein Potenzial der Freiheit oder der Güte, das man entfesseln sollte. Krzysztof Michalski hat Józef Tischner im Alltag oft beobachten können:

    "Er hat in den ‚größten Schweinen’ anständige Leute erkennen können. Er wusste über die Kompliziertheit der menschlichen Schicksale, […] dass das Gute und das Böse nie weit voneinander liegen und immer miteinander verwoben sind. Natürlich soll man das nicht vergessen, indem man das Gute gut nennt und das Böse böse."

    "Ein Mensch hat immer das Potenzial, gut zu werden, und er war fantastisch in seinen Bemühungen, dieses Gute zu befreien. Und zwar sowohl bei irgendwelchen Goralen in seinem Dorf als auch unter Philosophieprofessoren."


    Die Goralen sind die Bergbewohner im polnischen Teil der Beskiden. Tischners Buch "Der Streit um die Existenz des Menschen" knüpft an Roman Ingardens "Streit um die Existenz der Welt" an. Er will darin seinem verehrten Lehrmeister konsequent folgen. Seine These lautet: Selbst wenn der Mensch tot ist, wie manche Strukturalisten behaupten, so bedeute dies vor allem, dass er existiert habe. Und wenn er existiert hat, kann er wiedergeboren werden. Tischner greift einen Gedanken von Immanuel Kant auf, der sagt: Der Mensch ist nicht von Natur aus böse, er ist nur mit dem "Makel", einer "Neigung" zum Bösen behaftet. Die Gattung Mensch "will", sagt Kant, prinzipiell das Gute. Piotr Olszówka:

    "Die Agathologie bedeutet für Tischner eine grundlegende Haltung im Denken, die nicht vom apriorischen Guten ausgeht, sondern von einer Erfahrung, die keine Instanz außer dem Dialog mit dem Anderen hat. Das heißt, wenn ich einen anderen treffe und sein Gesicht, Angesicht, des Anderen betrachte, dann ergibt sich, meint Tischner, eine Grundlage des Guten. Das Fundament ist minimalistisch und meint: Du sollst nicht töten! Dieses Verbot kommt aber nicht von einer Instanz draußen, nicht etwa von Gott oder von einem Prinzip, das uns fremd ist und oktroyiert worden ist, sondern bezieht sich und gründet sich in dem Dialog Angesicht zu Angesicht zweier Menschen."

    Aus dem Dialog baut sich die Agathologie Tischners, die Wissenschaft vom Guten, auf. Und den Gedanken, das Böse sei ein Ergebnis dessen, sich nicht selbst erkennen zu wollen, greift Tischner auch auf. Der Preis dafür sei der Verlust der Freiheit. Die Selbsterkenntnis ist zunächst die Erkenntnis von der eigenen Verantwortung, nicht einer abstrakten Verantwortung von uns oder von anderen. Erst über meine eigene Verantwortung erkenne ich mich selbst.

    Der Andere kann dabei zum möglichen Störfaktor werden, das heißt, wenn ich den Anderen in mich hereinlasse, aber nicht als den Anderen akzeptiere, etwa im Dialog, dann hindert er mich bei der Selbsterfahrung eigener Verantwortung. Denn ich habe sie in mir auf den Anderen verschoben und von mir ferngehalten. In Immanuel Kants Konzept des "Radikal Bösen" entstehen die "Ausnahmen von der Regel" durch die "natürliche Neigung zum Bösen". Józef Tischner erwähnt in diesem Zusammenhang die "geheime Falschheit" des Freundes. Und dachte dabei wohl auch an Bespitzelungen und Denunziationen, wie sie unter kommunistischen Verhältnissen in Polen und anderswo zum Alltag gehörten.

    Tischner beobachtete genau, wie sich Menschen unter großem Druck verhielten, Freunde oder Prinzipien verrieten und in teilweise tragischer Weise existenziell bedrohliche Konsequenzen auslösten. Auch wenn Tischner schonungslos Verrat Verrat nannte, verstand er es gleichwohl, auch noch in einem Verräter den Menschen zu entdecken. Krzysztof Michalski, der einstige Partner im Institut für die Wissenschaft vom Menschen kann davon ein persönliches Beispiel geben.

    "Einmal bin ich mit ihm in Rom gewesen und ein polnischer Priester hat ihn und mich zum Mittag eingeladen. Das war sehr angenehm und wir haben uns freundlich unterhalten. Als wir rausgekommen sind, erfuhr ich, dass dieser Priester den Tischner sehr oft in einem katholischen Hassradio angegriffen hatte."

    Es handelte sich um "Radio Marya". Später stellte sich heraus, dass jener Priester auch ein Spitzel für den Geheimdienst war. All das wusste Tischner bereits vor diesem Gespräch. Krzysztof Michalski konnte das nicht verstehen. Warum war der Priester Tischner dieser Einladung gefolgt? War es sein Großmut, die Fähigkeit, das Gute im Bösen zu erkennen, selbst bei Menschen, die ihn verletzten und verrieten?

    Bei der Frage: Was ist das Böse? schließt sich Tischner vor allem dem 1881 geborenen französischen Rationalisten und Reflexionsphilosophen Jean Nabert an. Nabert geht in seinem Nachdenken über das Böse von einer inneren Gebrochenheit des Menschen aus. Doch das Böse bedeute bei aller Gnade und Vergebung das Nicht-zu-Rechtfertigende.

    Dabei dachte Tischner in erster Linie an die Todeslager, an den Gulag und an Auschwitz. Was dort geschah, ging auch für ihn über das Abweichen von Prinzipien hinaus. Andererseits war für Tischner das Böse auch etwas, das nah am Guten ist, was zum Guten werden kann, auch wenn man dem Täter dabei etwas zugesteht, was er eigentlich garnicht nicht verdient hat. Die Theologen pflegen das auch Gnade zu nennen. Und das heißt, den Dialog offen zu halten, sich dem Anderen nicht zu verschließen, ihm eine zweite Chance zu geben.

    In Tischners Buch "Der Streit um die Existenz des Menschen" finden sich ausgiebige Zitate aus den Erzählungen der Häftlinge im Gulag. Einer von ihnen war der Schriftsteller Warlam Schalamow. Er schreibt:

    "Die Verhaftungen der dreißiger Jahre waren Verhaftungen von zufälligen Leuten. Das waren Opfer der falschen und fürchterlichen Theorie, nach der sich der Klassenkampf mit dem erstarkenden Sozialismus verschärft. Die Professoren, Parteiarbeiter, Militärs, Ingenieure, Bauern und Arbeiter, die die Gefängnisse jener Zeit überfüllten, hatten eigentlich nichts vorzuweisen als vielleicht persönliche Anständigkeit, möglicherweise Naivität – kurz, Eigenschaften, die die ahndende Arbeit der damaligen ‚Justiz’ eher erleichterten als erschwerten."

    Im Buch von Emmanuel Lévinas Jenseits des Seins finden wir jene Stelle, in der es um die Beziehung zum Anderen geht.

    "Ich bin anstelle des anderen. Ich bin seine ‚Geisel’, sein Substitut, das für ihn dargebrachte ‚Opfer’".

    Ich bin sozusagen erst dann wirklich, wenn nicht ich bin, sondern der Andere in mir ist. Der Gedanke an den Anderen verfolgt ihn dann ewig. Um es mit einem Zitat von Lévinas zu unterstreichen:

    "Die Verantwortung für den Anderen, die kein Unfall ist, der einem Subjekt zustößt, sondern die in ihm dem Sein vorausgeht, hat nicht auf die Freiheit gewartet, in der ein Engagement für die Anderen hätte eingegangen werden können. Ich habe nichts getan und bin doch immer schon betroffen gewesen: verfolgt. Die Selbstheit in ihrer Passivität, ohne die arché der Identität, heißt: Geisel. Das Wort ‚ich’ bedeutet: hier, sieh mich, verantwortlich für alles und für alle."

    In der Geschichte "Hunger", einer der "Erzählungen aus Kolyma", beschreibt Warlam Schalamow den Augenblick, als den ausgehungerten Häftlingen Essen vorgesetzt wird. Sie verlangen nach Befriedigung, nicht nach Verstehen. Sie zwingen zum Handeln und wissen doch nichts vom Sinn und Wert dieser Handlungen.

    "So mancher konnte seine Aufregung nicht beherrschen, er kneift die Augen zusammen, um sie erst dann zu öffnen, wenn der Austeiler ihn anstößt und ihm die Heringsportion hinhält. Dann, während er den Hering mit den schmutzigen Fingern packt, ihn schnell und behutsam streichelt und drückt, um festzustellen, ob er eine trockene oder fette Portion erhalten hat (übrigens sind die ochotskischen Heringe nicht fett, und diese Bewegung der Finger war ebenfalls die Erwartung eines Wunders), kann er nicht anders, als mit schnellem Blick die Hände seiner Nachbarn zu überfliegen, die ebenfalls ihr Heringsstückchen streicheln und kneten, aus Angst, dieses winzige Schwänzchen zu eilig zu verschlingen. Er isst den Hering nicht, er leckt, er beleckt ihn, und das Schwänzchen verschwindet allmählich aus den Fingern. Bleiben die Gräten, und vorsichtig kaut er Gräten, kaut sie behutsam, und die Gräten zergehen und sind verschwunden."

    Begierde und Angst beherrschen den Häftling. Hunger fragt nicht nach Recht. Das Recht, Hunger zu stillen, schafft für den Menschen eine eigene Wahrheit. Man spürt den Tod nahen, aber genau genommen, ist er noch fern, denn Tod schmerzt nicht, aber Hunger schmerzt. Und Schmerz ist vor allem eine Erniedrigung, der man entkommen will. Unsere Vernunft ist schwach, man muss ihr helfen, um auf diese Weise sich mit der Welt in Harmonie zu befinden. Ganz so wie Józef Tischner sagt Krzysztof Michalski über seineTreffen mit ihm:

    "Allerdings war er sehr harmonisch mit der Welt. Er war fast immer guter Laune. Er schlief auch sehr leicht ein, weil er, glaube ich, keine Gewissensbisse hatte. Ich bin mit ihm viel herumgereist und zusammen gewesen. In welchen Situationen auch immer, er war, als wenn er ein Teil dieser Welt wäre, aber nicht ganz gut passen würde. Dieser Mann hatte den inneren Frieden, der so verführerisch war. Ich suchte seine Nähe, auch wegen des inneren Friedens. Das befriedete mich sofort, aber auch andere. Dabei zu sein war eine Gabe, weil man sich dann wohlfühlte, egal was uns davor und danach passierte."

    Wir sind fremd hier auf der Welt, aber müssen zu uns selber kommen – das impliziert ein wenig den Gedanken, dass es Gott sei, den wir brauchen. Aber Tischner sagt, den Menschen brauchen wir zuerst. Und im Dialog mit dem Menschen ist Gott zu finden. Tischner ging es nicht darum zu ontologisieren, sondern um den Raum zwischen den Menschen, von ihnen geschaffen. Damit ist kein Raum gemeint, in dem wir alle sind, sondern ein Ort, wo sich Sinn bildet, für das gesellschaftlichen Zusammensein wie für die Religion.

    Tischners Schriften könnten auch eine Bedeutung für den deutsch-polnischen Dialog bekommen, zumal er nie den Anderen, also die Deutschen, als die eigentlich für das Böse Verantwortlichen ausmacht. Es ist vielmehr so, dass er sich als friedfertiger Mensch zur Verantwortung bekennt als "Ich". Es ist auch meine Verantwortung, so Tischner, diese erlittene Krise des Menschen, diesen Tod des Menschen zu überwinden. Im Sinne von Tischner ist das der echte Dialog, der einen Neuanfang im Denken und Zusammenleben darstellen kann. In seiner Philosophie können wir lesen, der Andere sei der Heimatlose, die Witwe, die Waise, der Bettler, der draußen ohne Heim auf der Straße steht, auch der Vertriebene. Auf jeden Fall jemand, der nach Hilfe ruft.

    Der polnische Priester und Philosoph Józef Tischner fing genau an diesem Punkt zu wirken an. Für ihn war der andere Mensch nicht nur ein weiteres Exemplar der Gattung oder einer sozialen Gruppe. Tischner erinnert daran, dass das Wort "absolut" seinem Ursprung nach "absolvere – loslösen" heißt. "Absolut" heißt daher, befreit von jeglichem Kontext oder, wie Lévinas das ausdrückt: "Das Gesicht des anderen Menschen ist ein Text ohne Kontext". Es ist nicht nur das Anderssein, das Fremdsein, welches im anderen Gesicht zu erkennen ist, sondern auch eine Herausforderung, eine Konfrontation mit der Frage: Was ist das für ein Anspruch? Tischner schreibt: Das Gesicht des anderen ist das Gesicht der menschlichen Not. Und diese verlangt nach Rettung.

    Er meint, dass, wenn ich einem anderen Menschen begegne, damit auch eine Verpflichtung verbunden sei, die auf keiner Gegenseitigkeit beruhe, auf keiner Abwägung des eigenen Nutzens. Es geht ihm nicht darum zu sagen: Ich bin wer ich bin, sondern: Ich bin, wer ich bin in der Auseinandersetzung mit dem Ruf, den der andere Mensch an mich richtet, in dem Anspruch, den er an mich hat. Diese Übernahme von Verantwortung hat ihn dazu gebracht, sich für die Bewegung der Solidarność einzusetzen, sich zu bekennen zu der Forderung nach gesellschaftlichen Veränderungen in Polen. Nicht nur Hunger und Durst, nicht nur Begierden, sondern auch das Bedürfnis nach Gedankenaustausch, nach Begegnung. Aus einer unstillbaren Sehnsucht nach einem anderen Menschen heraus. Emmanuel Lévinas schreibt:

    "Die metaphysische Sehnsucht ist die Sehnsucht nach einem Land, in dem wir nicht geboren wurden. Nach einem Land, das jeglicher Natur fremd, nie unsere Heimat war und in das wir nie eingehen werden."

    Tischner musste nach seiner Einstellung nicht befürchten, dass sich sein Einsatz für die Solidarität nicht lohnen oder er scheitern würde, weil die Regierung seines Landes den Forderungen der Streikenden nicht nachgeben wollte. Mit dieser Einstellung hat er viele Menschen zum Mittun bewegt, auch Papst Johannes Paul II., aus Krakau stammend, war ihm darin ein Verbündeter. Die erste wichtige Frage sei deshalb, so Tischner, die Frage: Ist es ein Ruf des Schmerzes, den der andere Mensch ausstößt? Er meint damit nicht jemanden, der nur rücksichtslos auf sich aufmerksam machen will. Not sei nur wohltuend zu tilgen. Tischner schreibt:

    "Die Stimme des Guten dringt durch den Lärm der Welt, um den Menschen zu etwas Absolutem aufzurufen."

    Nicht nur Immanuel Kant und Edmund Husserl gehören zu den großen Vorbildern von Józef Tischner, auch Gottfried Wilhelm Leibniz, der ihm die bedeutende Metapher von der "fensterlosen Monade" lieferte. Für Tischner ließ sich die Tiefe philosophischer Erkenntnis daran messen, wie sie eine menschliche Erfahrung in sich aufnimmt und weitergibt. Man muss, sagt er, "hinter die Metapher steigen", um das Erlebte wieder zu erleben. Ihr ganzes Potenzial könne eine Metapher jedoch erst entfalten, wenn sie mit einer anderen Metapher konfrontiert würde. Das Bild der "fensterlosen Monade" spricht als Bild vom "Anderen in mir". Piotr Olszówka:

    "Leibniz meinte, dass jede Existenz eine Monade ist, etwas was, wie Leibniz es formuliert, keine Fenster hat, das heißt, mit den anderen nicht kommunizieren kann. Es gibt zwar ein Zusammenwirken von den Monaden in der Welt, aber das ist alles vorprogrammiert und von einer äußeren Instanz garantiert. Bei Tischner, der diese Metapher aufgreift, haben Monaden doch Fenster, die jedoch zugeschlagen worden sind."

    Zugeschlagen von innen und zugeschlagen von dem Anderen in uns. Es ist eine gewagte Metapher. Aber sie soll bedeuten: Wenn ich mich mit mir selbst identifiziere und mich nicht verleugne, dann werde ich nicht als Monade mit zugeschlagenen Fenstern enden, sondern werde ich diese Fenster offen halten und den anderen anerkennen."

    Józef Tischner geht es nicht darum, Begriffe zu konstruieren. Er versteht sich als ein Philosoph menschlicher Erfahrung oder akademisch ausgedrückt: einer lebensweltlich orientierten Phänomenologie, die uns hilft, nicht nur philosophische Systeme zu verstehen, sondern mit der Selbsterkenntnis Verantwortung zu übernehmen unter alltäglichen Bedingungen bzw. unter den schlechtesten Erfahrungen, die wir machen können, wie zum Beispiel im Konzentrationslager.

    Die Phänomenologie ist in der zweiten Generation, der Tischner angehört, von der Lebenswelt geprägt. Diese Lebenswelt ist vor allem unsere eigene. So ist Tischners Philosophie natürlich begründet in der eigenen Lebensgeschichte. Er wurde 1931 geboren, hat die deutsche Besatzung miterlebt und in den finstersten Zeiten des Stalinismus in Polen Theologie studiert. Er musste schon bald Widerstand leisten, geistigen Widerstand. Diese Erfahrung seiner eigenen Lebenswelt war prägend für seine Art von Philosophie.

    Der erste Kongress der systemoppositionellen Gewerkschaft Solidarność im kommunistischen Polen war für das geschundene Land wie für den staunenden Rest der Welt nach vielen Jahren der Diktatur ein außergewöhnliches Ereignis. Bis dahin war es kaum vorstellbar, dass eine gesellschaftlich unabhängige Organisation unbehelligt ein Zusammentreffen abhalten konnte. Tischner hat jeden Morgen in Gdańsk-Oliwa für Solidarność eine Predigt gehalten. Als seine Predigten und Aufsätze vor Verhängung des Kriegrechts in Polen 1981 zur Sammelschrift "Ethik der Solidarität" zusammengefasst wurden, hatte er mit seiner Art der Weltdeutung auch der rigiden monokausalen Ideologie des herrschenden Marxismus-Leninismus intellektuellen Widerstand geleistet.

    Als Philosoph und sozialer Denker gewann er eine enorme Ausstrahlung in der polnischen Öffentlichkeit, machte Fernsehsendungen zu religiösen Themen. Damit erreichte er oftmals mehr Zuschauer als Sendungen am Samstagabend. Geblieben sind auch die Krakauer Tischner-Tage, die alljährlich ausgetragen werden mit Vorträgen für Jugendliche, wissenschaftlichen Podien und Ausstellungen. Krzysztof Michalski umschrieb Józef Tischner einmal wie folgt:

    "Dieser ruhige, friedliche, großzügige, großmütige Mensch, der auch dumme und böse Leute nicht links liegen ließ und noch dazu über Hegel interessant vorlesen konnte. Wau!"