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Im doppelblinden Vertrauen

Es ist ein Milliardengeschäft: Medikamente. Vor allem, wenn es um die großen Volkserkrankungen geht wie Arterienverkalkung, Diabetes oder Krebs. Arzneimittel werden umfassend erforscht, damit sie auch wirklich helfen. Alles ist wissenschaftlich abgesichert und überprüft. Doch ein genauer Blick auf die Studien zeigt: Sie sind oftmals schlecht geplant, unzureichend durchgeführt, fantasievoll interpretiert und manchmal sollen sie gar nichts über das Medikament herausfinden. Das ganze System steht auf einem wackeligen Fundament!

Von Sven Preger | 28.09.2008
    "Ich war gestern gerade da und hab 5 3/4-Stunden am Tropf gehangen."

    Klaus Heegewaldt steckt mitten in einer Chemotherapie. Es ist seine fünfte.

    "Das war mit Schwierigkeiten verbunden, weil ich Schüttelfrost kriegte, aber das ist sehr schnell abgestellt worden, nech."

    Er hat Leukämie, Blutkrebs. Diese Krankheit hat dazu geführt, dass Klaus Heegewaldt an einer klinischen Studie teilgenommen hat.

    "Und es wurde auch gesagt: es ist schon ausprobiert worden und wir machen das jetzt nur in höheren Dosen. An Ihnen."

    Es sind etwa 100.000 Menschen in Deutschland, die zurzeit an einer klinischen Studie teilnehmen. So ganz genau kann man das nicht sagen. Es gibt zwar Datenbanken, doch die sind entweder nicht öffentlich oder nicht ganz komplett. Der Kölner Klaus Heegewaldt ist einer von diesen 100.000. Und so richtig viel weiß er nicht über seine Studie. Heegewaldt:

    "Eigentlich wenig. Teilweise ist das auch fachchinesisch, was da gebracht wird. Da muss man einfach vertrauen. Also mir ging es früher mal so schlecht und in der Uniklinik Köln haben sie mir geholfen und denen vertraue ich einfach: Wenn die mir was anbieten, dann mache ich das auch mit"

    Seit 20 Jahren lebt der 73-jährige Bauingenieur Klaus Heegewaldt mit der Diagnose: chronisch lymphatische Leukämie, eine dauerhafte Form des Blutkrebses. Immer wieder bricht die Leukämie aus - schubweise. Und immer wieder ist auch das Immunsystem geschwächt. Infektionen können sich ausbreiten. Der Körper hat den Erregern nichts entgegenzusetzen. Das ist Klaus Heegewaldt auch diesen Sommer wieder so gegangen:

    "Ich hatte dauernd erhöhte Temperaturen und im Krankenhaus wird ja erst ab 38 Grad gezählt. Aber das zehrt auch, wenn Sie abends 37,9 haben und merken: Sie lesen und haben einen heißen Kopf. Und dann war es eben so: Diese Grenze ist überschritten worden und dann bin ich gleich rein. Und dann haben die mich da behalten und dann bin ich gründlich untersucht worden und da ist festgestellt worden, dass ich in der Lunge Pilze habe."

    Für Leukämie-Patienten eine lebensbedrohende Infektion. Behandelt wird so ein Pilz häufig mit dem Wirkstoff Caspofungin der Pharma-Firma MSD. Das Mittel gilt als gut verträglich. Normalerweise bekommen Patienten eine Tagesdosis von 50 Milligramm. Stellt sich die Frage: was passiert, wenn man diese Dosis erhöht? Etwa auf das Doppelte, Dreifache oder sogar Vierfache? Treten auf einmal neue Nebenwirkungen auf? Das wollten Kölner Mediziner herausfinden. Und bildeten 4-Patienten-Gruppen. Klaus Heegewaldt kam in die letzte, die Gruppe mit der vierfachen Dosis.

    Es ist nur eine Studie von etwa 1600, die zurzeit in Deutschland laufen. Sie sind eine Art Alibi der Pharma-Konzerne. Die entscheidende Frage: Wie verschafft man sich dieses Alibi. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder belegen die Studien tatsächlich, dass ein Medikament wirkt, welche Nebenwirkungen auftreten und welche Dosis die richtige ist. Dann sind sie ein echter Beweis. Oder es wird komplizierter. Nämlich dann, wenn die Studien nicht das gewünschte Ergebnis liefern. Dann werden Daten auch schon mal gefälscht oder Informationen zurückgehalten. Wie bei dem Medikament "Trasylol" von Bayer. Das Unternehmen soll starke Nebenwirkungen wie Nierenversagen verschwiegen haben. Das wurde jedoch erst nach Jahren bekannt. Das Resultat: Bayer hat das Blutgerinnungsmittel im Mai 2008 vom Markt genommen.

    Doch es muss nicht immer gleich um Betrug gehen. Einfacher und ungefährlicher ist es, eine Studie so zu gestalten, dass sie direkt zum gewünschten Ergebnis führt. Das kann durch das Studien-Design erreicht werden. Denn: Studie ist nicht gleich Studie. Sie laufen unterschiedlich lang, haben unterschiedlich viele Patienten und unterscheiden sich in der Durchführung. Das Studiendesign bietet Gestaltungsspielräume.

    "Der Druck, ein neues Präparat auf den Markt zu bringen, ist auch von Seiten der Patienten, die sich mit dem bisherigen Präparat nicht ausreichend behandelt fühlen, natürlich sehr groß. Und es ist dann immer die Balance zu finden zwischen dem berechtigten Zweifel an der Wirksamkeit und der Hoffnung der Patienten."

    Christian Steffen leitet das Fachgebiet Klinische Prüfungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM, der Behörde, die für die Zulassung von Medikamenten in Deutschland zuständig ist. Und das ist ein kompliziertes Geschäft: Die Reinheit der Arznei wird getestet, die exakte Zubereitung überprüft und natürlich untersucht, wie giftig das neue Mittel ist. Steffen:

    "Und dann der entscheidende Punkt: Die Wirksamkeit. Und das geschieht durch die Prüfung des Arzneimittels am Menschen."

    Spätestens hier beginnt das Problem mit dem Studiendesign. Seit 2004 müssen klinische Studien zwar fachlich genehmigt werden, eben vom BfArM. Doch es sind genügend Schwachstellen geblieben: Eigentlich sollte jede klinische Prüfung ein klares Ziel haben. Mediziner nennen das Endpunkte. Eine Studie sollte etwa fragen, ob ein Mittel das Leben eines Patienten verlängert. Der Endpunkt wäre der Tod. Steffen:

    "Das ist natürlich nicht durchzuführen für eine Arzneimittelzulassung, wenn ich 20 Jahre warten will auf ein Arzneimittel. Dann muss ich zu anderen Dingen greifen. Also beispielsweise eben nicht Tod durch Schlaganfall, Tod durch Herzinfarkt, sondern die Veränderung der Arteriosklerose oder noch eher: Vielleicht die Senkung der Lipide im Blut."

    Oft wird also ein Ersatz für einen echten Endpunkt benutzt. Mediziner nennen das dann Surrogatparameter. Steffen:

    "Das kann aber auch in die Irre führen, weil die Senkung der Lipide nicht unbedingt bedeutet, dass auch weniger Herzinfarkte entstehen."

    Ein Beispiel: Der Cholesterinsenker Ezetimib. Ein Produkt von MSD und Essex Pharma. Es wird im Jahr 2002 unter dem Namen "Ezetrol" in Deutschland eingeführt. Ezetimib wirkt anders als die bisherigen Cholesterinsenker, die Statine. Um beide Wirkungsweisen zu nutzen, ist im April 2004 auch das Kombinationsmedikament "Inegy" auf den Markt gekommen. Das Problem bei Studien zu Cholesterinsenkern: Da man auf den Tod oder Herzinfarkt eines Patienten nicht warten will, folgt man folgender Argumentations-Kette: Cholesterin sorgt für Arteriosklerose sorgt für Herzinfarkt. Und da Cholesterin ein Lipid ist, kontrolliert man, wie ein Mittel den Lipidwert senkt. Das kann ein Surrogatparameter sein. Umfangreiche Studien haben nun gezeigt: Das Kombinationspräparat "Inegy" senkt zwar den Cholesterinspiegel, hält aber nicht die Arteriosklerose auf. Außerdem treten möglicherweise als Nebenwirkung vermehrt Krebsfälle auf. Steffen:

    "Und hier muss ich bei Surrogatparametern sehr, sehr vorsichtig sein."

    Wer also auf den richtigen Surrogatparameter setzt, bekommt scheinbar positive Ergebnisse. Das bedeutet aber nicht immer, dass ein Medikament auch tatsächlich so wirkt, wie es soll. Erreicht eine Studie mal nicht das angestrebte Ergebnis, so ist das auch noch kein Problem. Denn Studien-Ergebnisse müssen nicht publiziert werden. Die Firmen können also sorgfältig auswählen, was bekannt wird und was nicht, erzählt Christian Steffen vom BfArM.

    "Das hat auch etwas damit zu tun, dass es naheliegt, Studien, die mein Präparat schlecht da stehen lassen, erst einmal negativ zu bewerten und vielleicht auch zu versuchen, die Publikation zu verhindern."

    Für Zulassungs-Studien ist das mittlerweile etwas besser. Denn alle Studienergebnisse müssen der Zulassungsstelle mitgeteilt werden. Zumindest das BfArM oder die europäische Zulassungsbehörde Emea sind so über alles informiert. Und können bei Bedarf einschreiten. Außerdem gibt es seit dem Jahr 2004 in Deutschland die "Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis". Darin ist verbindlich geregelt, wie eine klinische Studie ablaufen muss. Und damit gibt es auch Kriterien für eine Kontrolle. Steffen:

    "Das heißt: Wir überprüfen die Durchführung der Studie: Existierten die Patienten überhaupt? Sind die Laborwerte einigermaßen ordentlich erhoben worden? Und sind hinterher die Ergebnisse auch nach den Regeln der Kunst ausgewertet worden?"

    Besonders häufig kann die Behörde nicht kontrollieren, dazu fehlt ihr das Personal. Dabei gibt es zahlreiche klinische Studien zu kontrollieren. Denn vor einer Zulassung muss ein wahrer Studien-Marathon absolviert werden. In insgesamt vier Phasen:

    Phase 1: Es ist die Zeit, in der das Medikament zum ersten Mal am Menschen ausprobiert wird. Deshalb nehmen auch nur wenige Probanden teil. Häufig gesunde Männer. Es ist ein heikler Zeitpunkt. Denn selbst, wenn die vorherigen Tierversuche keine Auffälligkeiten zeigten, ist das keine Garantie. Im März 2006 kam es in London bei einer Antikörper-Studie zu einer Katastrophe. Bei den sechs Probanden versagten Organe! Die Teilnehmer überlebten nur knapp.

    Phase 2: In dieser Phase wird die richtige Dosis des Medikaments gesucht. Es nehmen bis zu 200 Probanden teil, häufig zum ersten Mal auch echte Patienten. Diese Studien können einige Wochen oder Monate dauern.

    Phase 3: Für die Zulassung eines Medikaments sind dies die entscheidenden Studien. In dieser Phase muss die Wirkung an mehreren Tausend Patienten nachgewiesen werden. Sie werden tatsächlich mit dem neuen Mittel behandelt. Die Phase 3 kann Jahre dauern. Erst wenn die Wirkung tatsächlich belegt ist, sollte die Zulassung erfolgen.

    Und Phase 4: Auch nach der Zulassung wird weiter geforscht. Denn seltene Nebenwirkungen erkennt man erst, wenn man möglichst viele Patienten damit behandelt hat. Je nach Krankheit und Laufzeit kann das Medikament so an Millionen von Patienten getestet werden. Die angenehme Nebenwirkung für das Pharma-Unternehmen: Das Medikament wird häufig verschrieben - auch nach Ende der Studie.

    Im Juli 2008 wird Klaus Heegewaldt in die Kölner Uniklinik eingeliefert. Er hat einen Pilz in der Lunge. Eine schwere Erkrankung. An der Phase-2-Studie nimmt er jedoch auch aus ganz pragmatischen Gründen teil. Heegewaldt:

    "Ja, das war vor meiner Urlaubszeit und ich hatte eigentlich Zeitnot, weil wir uns verabredet hatten mit der Familie an der Ostsee und dann wurde mir angeboten, das zu behandeln auf eine oder andere Art. Und eine dieser Behandlungen war eine Studie, wo gesagt wurde: Ja, das können wir machen und das geht viel schneller."

    Grund genug für Klaus Heegewaldt. Das Design seiner Studie: In den vier Gruppen sind jeweils acht Patienten. Von Gruppe zu Gruppe wird die Tagesdosis Caspofungin langsam gesteigert. Von 70 über 100 und 150 bis 200 Milligramm. Es hört sich ein wenig nach Versuchskaninchen an. Heegewaldt:

    "Versuchskaninchen ist ein bisschen viel gesagt. Man kann es ja abstellen. Also irgendwann kann man ja auch Schluss machen oder irgendwas. Also: wenn, dann mache ich es auch mit und will was von dem Ergebnis haben. Ich bin Techniker. Und Techniker wollen schwarz auf weiß sehen, ob es ist und nicht ist. Ganz einfach!"

    Es hörte sich sehr positiv an. Eigentlich wurden Östrogene, Gestagene und andere Hormone eingesetzt, um die typischen Beschwerden von Frauen in den Wechseljahren zu lindern, wie Hitzewallungen und Nachtschweiß. Mitte der 90er Jahre legten Studien nahe, dass die Hormone auch vor Knochenschwund, Herzinfarkt und verminderter Hirnleistung schützen würden. Die Zahl der Patientinnen stieg in Deutschland bis ins Jahr 1999 auf mehr als drei Millionen. Doch das Ganze war offenbar ein Irrtum. Tatsächlich senkt die Hormontherapie nicht das Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu bekommen, sondern steigert es leicht. Das ist aber erst Ende der 90er Jahre bekannt geworden. 2007 wurden immer noch 1,4 Millionen Frauen in Deutschland mit einer Hormontherapie behandelt.

    Das Problem: Man hatte sich auf reine Beobachtungs-Studien verlassen, also lediglich Patientinnen in die Studie einbezogen, die tatsächlich mit Hormonen behandelt wurden. Man hatte allerdings keine Patientinnen untersucht, die keine Hormontherapie bekommen haben. Oder etwas einfacher ausgedrückt: Es fehlte die Kontrollgruppe.

    "Und wenn Sie keine Kontrollgruppe haben, dann haben Sie eigentlich immer positive Ergebnisse","

    sagt Christian Steffen vom BfArM. Denn ein paar positive Zufallstreffer gibt es immer. Das sagt noch nichts darüber aus, ob ein Mittel tatsächlich wirkt.

    ""Also man hat weltweit Millionen von Frauen geschadet, dadurch, dass man sich auf unzuverlässige Studien-Ergebnisse verlassen hat","

    sagt Peter Sawicki. Er leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, kurz IQWiG. Und hier hat man sich lange Gedanken über das richtige Studien-Design gemacht. Als bester Standard gilt für das IQWiG eine Untersuchung, bei der es Kontrollgruppen gibt. Außerdem müssen die Teilnehmer einer Studie den verschiedenen Gruppen auch noch zufällig zugewiesen werden. Fachleute nennen das eine Randomisierung. Der große Vorteil: Dadurch werden alle anderen Einflussfaktoren gleich verteilt und spielen statistisch keine Rolle mehr. Also etwa Alter, Geschlecht oder Sympathien für die Ärzte. Nur so kann nachgewiesen werden, dass das Medikament tatsächlich wirkt. Wird ein neues Mittel getestet, kann man es also zum Beispiel zwei Gruppen geben. Die eine Gruppe wird mit dem neuen Mittel behandelt, die andere nicht. Sie erhält ein Placebo, also eine Tablette oder Flüssigkeit, die zwar genauso aussieht, aber nicht den Wirkstoff enthält. Bei diesem Design spricht man von einer randomisierten kontrollierten Studie. In Fachkreisen englisch ausgesprochen: Randomized Controlled Trial, kurz RCT. Doppelblind heißt die Studie dann noch, wenn weder Arzt noch Teilnehmer wissen, zu welcher Gruppe der Proband gehört, ob er also das neue Mittel bekommt oder ein Placebo. Der Haken: Damit das statistisch alles klappt, müssen genügend Menschen an einer solchen Studie teilnehmen. Das macht sie aufwändig und teuer. Zu Lasten der Pharma-Unternehmen, die diese Studien finanzieren müssen. Deshalb möchten die Firmen auch gerne andere Studien gelten lassen. Und nicht nur RCTs, erklärt Steffen Wahler. Er ist Geschäftsführer für Gesundheitsökonomie beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Ein Verein, zu dem unter anderem Bayer, Pfizer, Lilly, Sanofi-Aventis, Glaxo Smith Kline und Novartis gehören.

    ""Es gibt natürlich auch eine Menge Situationen, wo ein RCT nicht so einfach durchführbar ist. Zum Beispiel diese Verblindung kann ein Problem sein. Einfach dann, wenn ein Medikament so offensichtlich anders wirkt als das, was da ist. Beziehungsweise wenn ein Arzt oder Patient schon ein Wissen haben, was die bessere Medikation ist."

    Tatsächlich kann die Verblindung schwierig sein. Wenn ein Medikament besonders schmeckt oder riecht oder unmittelbar wirkt, kann nur schwer ein Placebo verabreicht werden. Der Teilnehmer einer Studie würde wissen, dass er nicht den Wirkstoff erhalten hat. Doch das ist aus Wahlers Sicht nicht das einzige Problem mit den RCTs. Wahler:

    "Das im Rahmen eines RCTs nachzuweisen, so wie es im wirklichen Leben ist, funktioniert eben auch nicht, weil ein RCT, also eine Studiensituation für den Patienten ja doch immer eine besondere Situation ist, die mit dem Alltag so nicht vergleichbar ist. Also von daher haben die RCTs klare Grenzen. Es ist der Goldstandard, aber es ist kein Allheilmittel für das Gewinnen von medizinischer Erkenntnis."

    Die Argumente lässt Peter Sawicki vom IQWiG zwar gelten. Doch er betont, dass gerade die Pharma-Industrie ansonsten sehr viel Wert auf ein optimales Studiendesign legt. Wer die Studie kurz genug durchführt, erfährt nichts über langfristige Nebenwirkungen. Wer das eigene Medikament besser wirken lassen will als ein anderes, nimmt einfach eine höhere Dosis. Und auch die Auswahl der Patienten kann das Ergebnis positiv beeinflussen. Experten gehen davon aus, dass rund drei Viertel aller Studien ein solch optimiertes Design haben. Sawicki:

    "Weil natürlich die Pharmaindustrie auf keinen Fall irgendeinen versteckten, auch noch so kleinen Nutzen übersehen möchte. Und die Überprüfung unter Praxisbedingungen würde eine Reduktion dieses Nutzens bewirken. Also das ist ein Vorwurf, den sich der Verband Forschender Arzneimittelhersteller hinter das eigene Ohr schreiben müsste: Lass uns doch mal Studien machen, die doch tatsächlich den Praxisbedingungen entsprechen."

    Wahler:

    "Natürlich würde man auch gerne haben, dass das, was man in der Studie sieht, gleich der Alltagserfahrung ist. Aber Sie können entweder dieses künstliche Setting des RCTs haben. Und sie haben dann unter ganz kontrollierten Umständen perfekte Daten oder Sie schauen halt, wie die Anwendungswirklichkeit ist. Aber dann müssen Sie eben Abstriche machen, weil eben all diese Urteile über ein Verfahren im Arzt und Patienten mit drin sind, was zu einer gewissen Unschärfe führt."

    Ein Streit, bei dem kein Kompromiss möglich scheint. Ist also gar nicht zu entscheiden, welches Studien-Design gut und welches schlecht ist?

    "Um einen Effekt wirklich reproduzierbar darzustellen, müssen wir das Modell der klinischen Studie haben, sonst haben wir nicht die Möglichkeit, zu entscheiden, was ist nun tatsächlich durch das neue Mittel bedingt oder was ist etwa durch eine gute ärztliche Betreuung bedingt, also der Placebo-Faktor","

    sagt Ulrich Schwabe. Er ist emeritierter Professor am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg und bringt jedes Jahr den Arzneiverordnungsreport heraus. Das Standard-Werk, das zeigt, wie viel die gesetzlichen Krankenkassen für welches Medikament ausgeben. Schwabe hat mit seinem Werk den Markt transparent gemacht, und die Pharma-Branche liebt ihn dafür nicht gerade. Denn Schwabe nimmt kein Blatt vor den Mund und erklärt an einem Beispiel, warum die Wirkung eines Medikaments nur unter kontrollierten Bedingungen zu erkennen ist. Schwabe:

    ""Als Beispiel nur die modernen Antidepressiva, da haben wir Placebo-Faktoren von 30 oder sogar 40 Prozent. Und der Arzneimittelfaktor ist nur zusätzlich 20 Prozent. Und wenn man dann sagt, das Mittel hat 60 Prozent klinische Wirkung, weil man den Placebo-Faktor unter nicht kontrollierten Bedingungen eben nicht gemessen hat, dann ist es natürlich eine Überschätzung der Arzneitherapie."

    Mit einer randomisierten kontrollierten Studie würde das nicht passieren. Das Ganze wirkt ein wenig verwirrend: Einerseits haben die Pharma-Unternehmen also ein großes Interesse an den künstlich optimierten Studien, um auch jede noch so kleine Wirkung eines Mittels zu erkennen. Gleichzeitig verteidigen sie die Studien unter Alltagsbedingungen. Ein Widerspruch? Nein. Denn die aufwändigen klinischen Studien werden zur Zulassung eines neuen Medikamentes durchgeführt. Studien unter Alltagsbedingungen widmen sich dagegen häufig Medikamenten, die bereits auf dem Markt sind. Die Patienten wissen dann oftmals überhaupt nicht, dass sie an einer solchen Studie teilnehmen. Diese Studien müssen auch nicht genehmigt werden. Der Name: Anwendungsbeobachtungen. Wie viele dieser Untersuchungen zurzeit in Deutschland laufen, ist nicht klar. Obwohl die Pharma-Unternehmen diese Studien drei verschiedenen Stellen melden müssen: Dem Spitzenverband der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem BfArM. Doch die Angaben der drei Institutionen stimmen nicht überein. Wahrscheinlich sind es zwischen 300 und 500 Anwendungsbeobachtungen.

    Die Firma Lilly führt zurzeit mindestens zwei Anwendungsbeobachtungen zum selben Wirkstoff durch: Lispro. Ein Diabetes-Mittel. Das Medikament hat Lilly 1996 unter dem Namen "Humalog" auf den Markt gebracht. In den beiden Studien sollen in den kommenden Jahren allein in Deutschland rund 1000 Patienten beobachtet werden. Bemerkenswert ist, dass Lilly daran 180 Studienzentren beziehungsweise Arztpraxen beteiligen will - also gerade fünf bis sechs Patienten pro Praxis. Die Idee: Je mehr Ärzte an der Anwendungsbeobachtung teilnehmen, desto mehr Ärzte verschreiben möglicherweise auch in Zukunft "Humalog". Übrigens: Das Mittel ist eines der Top-Seller von Lilly mit etwa 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr - allein in Deutschland. Nur: dieser Umsatz ist in den vergangenen Jahren gesunken. Ulrich Schwabe:

    "Wir nennen das: Damit ‚kauft’ der Hersteller Verordnungen beim Arzt, bezahlt sie aber nicht selbst. Sondern das wird von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt."

    Steffen Wahler:

    "Dennoch: Sie lernen eine Menge darüber, welche Nebenwirkungen gibt es. Welche Patienten nehmen es überhaupt ein, welche unerwarteten Effekte gibt es, die dann auch wiederum generierend wirken können, dass Sie dann weitere Studien darüber hinaus durchführen."

    Auch Steffen Wahler räumt ein, dass es bei Anwendungsbeobachtungen nicht darum geht, Wirkungen nachzuweisen, sondern seltene Nebenwirkungen zu finden. Diese Auffassung wird von einer Auswertung der Anwendungsbeobachtungen gestützt, die vergangenes Jahr in der Zeitschrift "Klinische Forschung und Recht" erschienen ist. Doch auch hier gibt es ein Design-Problem: Die Auswertung kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der Anwendungsbeobachtungen gar kein oder kein geeignetes Studien-Design gehabt hätten. Das kritisiert auch das BfArM. Die Firmen würden zu unsystematisch die Ärzte auswählen. Und die Ärzte zu unsystematisch die Patienten. Die so gewonnenen Daten seien nutzlos. Und Anwendungsbeobachtungen seien nicht geeignet, um etwas über die Arzneimittelsicherheit zu erfahren. Besondere Nebenwirkungen müssten Ärzte ohnehin melden.

    "Ja, mit Nebenwirkungen mussten Sie rechnen, aber Angst ist immer ein schlechter Berater","

    sagt Klaus Heegewaldt. Sein Lungenpilz wurde mit Caspofungin behandelt. Bisher waren bei dem Medikament als Nebenwirkungen vor allem Fieber, Übelkeit, Erbrechen und eine akute Entzündung der Venen festgestellt worden. Bei Klaus Heegewaldt ist keine dieser Nebenwirkungen aufgetreten, trotz der vierfachen Dosis. Der Patient konnte nach knapp zwei Wochen in den Urlaub entlassen werden. Und war zufrieden mit der Behandlung. Heegewaldt:

    ""Ja, ich bin sehr gut versorgt worden. Die sind immer wieder gekommen. Ich war ja in der Klinik drin und Blut wurde abgezapft und untersucht und ich kriegte meine Infusionen, die notwendig waren. Und die Versorgung war eigentlich einwandfrei."

    Für Patienten ist nicht nur wichtig, ob ein Medikament wirkt, sondern ob es auch besser wirkt als andere auf dem Markt. Dieser Frage geht seit vier Jahren das IQWiG mit ihrem Leiter Peter Sawicki nach. Sawicki:

    "Zum Beispiel fragt uns der gemeinsame Bundesausschuss, also die Dachorganisation der Ärzte und Krankenkassen, ob ein Medikament A besser ist als ein Medikament B. Und wir haben dann im Grunde drei Antworten: Entweder wir sagen: Ja, A ist besser als B. Oder wir sagen: Nein, A ist nicht besser als B. Vielleicht sogar schlechter als B. Oder wir sagen: Wir wissen es nicht, es ist nicht belegt, dass A besser als B ist, weil es zu wenig Daten gibt."

    Um die Antwort zu finden, wertet das IQWiG bereits vorhandene Untersuchungen aus. Dabei werden vor allem die aussagekräftigen RCTs in die Meta-Analyse einbezogen.

    Auch hierzu ein Beispiel: Analog-Insuline. Das sind Wirkstoffe, die chemisch nicht identisch mit dem menschlichen Insulin aus der Bauchspeicheldrüse sind. Angeblich sollen sie besser wirken als die herkömmlichen Präparate. Zu den Analog-Insulinen gehört auch "Humalog" von Lilly. Als Hauptargument für die Analog-Insuline wird oft die Verringerung des Spritz-Ess-Abstandes angeführt. Das heißt: Wer spritzt, muss nicht mehr warten, sondern kann sofort essen. Die Meta-Analysen des IQWiGs haben jedoch gezeigt: diese Behauptung lässt sich nicht beweisen. Die Analog-Insuline wirken nicht schneller. Als im Februar 2008 die Entscheidung fiel, die Analog-Insuline deshalb nicht mehr von den Kassen zahlen zu lassen, wurde das Bundesgesundheitsministerium aktiv. Für Patienten unter 18 Jahren solle diese Regelung nicht gelten. Diesen Streit müssen nun die Gerichte klären. Und so lange der Prozess läuft, zahlen die Krankenkassen die Analog-Insuline erst einmal weiter.

    "Das IQWiG hat zwei große Projekte bisher abgeschlossen, in denen wirklich bahnbrechende Entscheidungen getroffen sind, die die Versorgung der Arzneimittel in Deutschland entscheidend verändert haben","

    sagt der Herausgeber des Arzneiverordnungsreports Ulrich Schwabe. Das eine war die Meta-Analyse der Analog-Insuline, zu denen auch "Humalog" gehört. Das andere war eine Meta-Analyse der Cholesterinsenker. Schwabe:

    ""Und in beiden Gebieten lag eine große Zahl von kontrollierten Studien zu den Standard-Bedingungen vor. Und das wusste man auch schon vorher aus entsprechenden Meta-Analysen, dass eben die dort beobachteten Arzneimittel keine großen Vorteile, keine sichtbaren, keine klinisch-relevanten Vorteile für die Patienten haben im Vergleich zu denen, die bisher schon auf dem Markt waren."

    Im Jahr 1997 bringt das Unternehmen Pfizer einen neuen Cholesterinsenker auf den Markt: "Sortis", ein Mittel aus der Gruppe der Statine. Es entwickelt sich schnell zu einem der umsatzstärksten Mittel der Branche. 2002 macht Pfizer damit allein in Deutschland 539 Millionen Euro Umsatz. Doch dann kommt das IQWiG und überprüft die Cholesterinsenker. Dabei kommt heraus: "Sortis" wirkt nicht besser als andere Statine. Die Folge: Die Krankenkassen führen daraufhin für "Sortis" einen Festbetrag ein, zahlen das Medikament also nur noch bis zu einer gewissen Grenze. Pfizer klagt gegen diese Entscheidung, verliert jedoch. Der Umsatz von "Sortis" bricht ein: 2007 lag er in Deutschland nur noch bei 27 Millionen Euro.

    Seit 2004 darf die Festbetrags-Regelung auch auf patentgeschützte Mittel angewandt werden. "Sortis" war eines der ersten. Für die Pharma-Unternehmen ist das nur schwer zu akzeptieren. Denn so lange der Patentschutz noch läuft, verdient das Unternehmen an dem Medikament - nach der Markteinführung etwa zehn Jahre lang. Erst danach dürfen andere Firmen das Medikament kopieren. Damit bricht in der Regel der Preis ein. Um die Festbetrags-Regelung auf noch patentgeschützte Mittel anzuwenden, muss allerdings nachgewiesen werden, dass diese Mittel nicht besser wirken als andere. Diesen Beweis hatte das IQWiG im Fall von "Sortis" erbracht. Ist ein Medikament allerdings tatsächlich besser als andere, darf die Festbetrags-Regelung nicht angewandt werden. Dann legt das Unternehmen den Preis nach der Zulassung selbst fest. Und die Krankenkassen zahlen.

    Studiendesign und Umsatz hängen also direkt miteinander zusammen.

    Wer in klinischen Studien eine Wirksamkeit nachweist, darf den Preis festsetzen.

    Und wer in Meta-Analysen besteht, darf diesen Preis behalten.

    Deshalb fürchtet die Pharma-Branche die Analysen des IQWiGs.

    Denn sie könnten sinkende Umsätze bedeuten.

    Dann hilft auch keine Anwendungsbeobachtung mehr.

    Doch noch gibt es reichlich Gewinne.

    Das zeigt der Arzneiverordnungsreport 2008, der jetzt erschienen ist.

    Daraus geht hervor, dass die gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2007 fast 28 Milliarden Euro für Medikamente ausgegeben haben.

    Knapp 7 Prozent mehr als 2006.

    An Geld oder Profit hat Klaus Heegewaldt übrigens nicht gedacht, als er sich entschied, an einer klinischen Studie teilzunehmen.

    "Für mich war eigentlich immer die Überlegung: du kannst Dir und kannst anderen Menschen helfen, wenn da wirklich was bei raus kommt."