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Im Fegefeuer der Konsumgesellschaft

600 Meter unter der Erde lagert in einer alten Kaligrube genug Arsen, um alles Leben auf der Erde auszulöschen. Und Arsen ist nur eines der Gifte in Herfa-Neurode, der größten Untertagedeponie der Welt: Quecksilberhaltiges, Furane, Dioxine, alles, was für die Oberwelt zu gefährlich ist, wird in Fässern und Kunststoffpaketen verpackt und in die Tiefe befördert.

Von Dagmar Röhrlich | 24.05.2010
    "Prima, jetzt können wir einsteigen. Jawoll."

    Die Schachtanlage von Herfa-Neurode. Ein paar Hundert Meter unter unseren Füßen ein Salzbergwerk der K+S AG. In einem abgebauten Grubenteil befindet sich eine von fünf deutschen Untertagedeponien für hochgiftigen Chemiemüll. Es ist die größte der Welt.

    "Das hier ist ein Frischwetterschacht. Hier ziehen 16.000 Kubikmeter in jeder Minute in die Grube. Davon haben wir mehrere Schächte. Sieben insgesamt. Teil einziehend, Teil ausziehend."

    Dort unten ruhen mehr als 2,7 Millionen Tonnen "gefährlicher Abfälle": Stoffe, die so stark mit Giften belastet sind, dass sie tief unter der Erde begraben werden.

    "In dem Fall, Herfa-Neurode, haben wir eine Doppelschachtanlage. Wir sind durch den Schacht Herfa eingefahren, und die Abwetter ziehen 200 Meter weiter entfernt durch den Schacht Neurode aus. Daher der Name Herfa-Neurode."

    In Herfa-Neurode endet, was die Industriegesellschaft für ihren täglichen Verbrauch an gefährlichen Hinterlassenschaften produziert: inzwischen auf einer Fläche, in die München samt Autobahnring passen würde. Und täglich werden es um die 300 Tonnen mehr. Hier landet Sondermüll aus ganz Europa. Aber es sind auch schon Stoffe aus den USA eingelagert worden, und aus China gibt es Anfragen.

    "Hier kann man alle Sünden unserer Gesellschaft finden."

    70.000 Sünden in 70.000 Fläschchen.

    "Hier, gelb, schwefelhaltige Abfälle, die grauen sind in der Regel Filterstäube aus der Rauchgasreinigung."

    Der Probenrückstellraum der Untertage-Deponie in Herfa-Neurode, 730 Meter unter der Erde:

    "Jedes Glas ist beschriftet, und zwar mit der Codebezeichnung, dem Liefertermin und einer fortlaufenden Nummer von jedem Jahr. Auf der Basis kann man den Abfall genau zuordnen."

    Was immer die Eingangskontrollen besteht und angenommen wird: ein wenig davon wird in Fläschchen gefüllt und in die Metallregale sortiert:

    "Viele nennen unser Lager hier auch das Gedächtnis der Deponie."

    Gerold Jahn von der K+S Entsorgung holt ein Fläschchen nach dem anderen heraus. Er ist der Leiter der Untertage-Deponie und der Verwertungsanlage in Herfa-Neurode. Seit 1972 füllt der in Fässern und Säcken verpackte Giftmüll Hohlräume, die der Salzbergbau zurückgelassen hat. 1997 wurde das dritte Deponiefeld genehmigt. Mit Cyaniden belastete Stoffe landen hier, mit Quecksilber, Arsen, polychlorierten Biphenylen, mit Furanen oder Dioxinen. Die Gifte stecken - mehr oder weniger konzentriert - in Filterstäuben von Müllverbrennungsanlagen, in kontaminierten Böden oder Mauern, in Härtesalzrückständen der Metallindustrie, im Leuchtstoffröhrenbruch. Würden die Gifte isoliert, reichten sie für den vielfachen Overkill der Menschheit. Jahn:

    "Hier haben wir eine Altlast der ehemaligen DDR. Das sind also Pestizide, die in Rumänien in einem Zug auf einem Bahnhof gefunden wurden. Und nach der Wende mussten die ordnungsgemäß entsorgt werden. Und die Bundesregierung hat das in Auftrag gegeben und die Einlagerung hier in die Untertagedeponie angewiesen."

    Das Salz von Herfa-Neurode liegt wie eine Decke im Untergrund. Mehr als 250 Millionen Jahre ist es her, dass es aus einem flachen Meer rieselte: Das Klima war heiß, und der Boden sank langsam, aber stetig ab. So sammelte sich eine Hunderte von Metern mächtige Salzabfolge an, erklärt Stefan Alt vom Ökoinstitut in Darmstadt:

    "Das Bergwerk sitzt ungefähr in der Mitte. Nach oben hin wird diese Salzschicht noch von einer Tonschicht abgedeckt, und damit wird verhindert, dass das Salz direkt mit Grundwasser in Kontakt kommt. Das ist ja ein ganz wichtiger Punkt, dass man langfristig damit rechnen kann, dass das Salz dort, wo es ist, auch bleibt und nicht aufgelöst wird oder sich anderweitig bewegt."

    Das Salz soll die hochgiftigen Stoffe, die die Industriegesellschaft tagtäglich anhäuft, für immer "wegsperren", Mensch und Umwelt vor ihnen schützen: tief verbuddelt, fast aus der Welt – und auch aus dem Sinn. Gerold Jahn:

    "Hier Kondensatoren. Die sind auch PCB-haltig."

    Gigantische Mengen giftiger Verbindungen entstehen jedes Jahr. Sie durchlaufen Produktionsketten, werden benutzt, recycelt, entsorgt und dabei auch über Ländergrenzen hinweg gehandelt. Wieviel davon letztlich die legalen Wege verläßt, läßt sich laut Umweltbundesamt nicht abschätzen.
    Exakt dokumentiert hingegen ist, was in den deutschen Untertagedeponien landet. Es sind Stoffe, die sich wirtschaftlich nicht anders behandeln lassen - insgesamt etwa 300.000 Tonnen pro Jahr. Das Wort "Endlager" hört man übrigens bei der K+S Entsorgung ungern - schließlich gibt es die Option "Rückholung": Als Kupfer als Rohstoff teuer wurde, ließen Firmen ihre Transformatoren für viel Geld wieder ausgraben, reinigten sie von den PCB-Resten und verkauften sie dann. Entsorgung ist immer auch eine Kostenfrage. Jahn:

    "Wir durften und konnten schon wieder etwas herausholen. Und zwar wenn ein Inhaltsstoff abfallwirtschaftlich wieder interessant wird, aufgrund der gestiegenen Rohstoffpreise zum Beispiel: Dann bekommen wir eine Anfrage, ob wir diesen Abfall wieder nach oben bringen können."

    Bad Hersfeld. Ein nüchterner Zweckbau am Rand der Altstadt, zwischen Supermärkten und Einfamilienhäusern. Hier hat das Kasseler Regierungspräsidium eine Zweigstelle, die unter anderem die Bergaufsicht über die Gruben der Region ausübt. Als die Untertagedeponie Herfa-Neurode in Betrieb ging, war Bad Hersfeld abgeschiedenes Zonenrandgebiet. Tiefste Provinz ist die Stadt immer noch, auch wenn sie heute mitten in Deutschland liegt. Es ist schon bemerkenswert: Beim Atommüll sind Bundesministerien und Bundesforschungsinstitute gefragt – doch in Sachen Giftmüll reichen die unteren Instanzen: Informationen gibt es auf Ebene des Regierungspräsidiums.

    "Im Jahr 1972 ist der damalige Bergwerksbetreiber auf die Idee kommen, er gehörte zum BASF-Konzern, in einem Betriebsteil, der ein wenig abgeschlossen vom übrigen Grubenbetrieb gewesen ist, Rückstände aus der chemischen Industrie, sprich von der Mutter BASF, abzulagern."

    Der Blick in die alten Akten gleicht einer Zeitreise in die 1970er. Damals formierte sich die Ökologiebewegung. Umweltschutz wurde zum Thema: Es ging um stinkende, verdreckte Flüsse, um Luftverschmutzung, Atomkraft. Bürgerinitiativen schossen aus dem Boden. Für sie gab es viel zu tun. Auch beim Giftmüll: Der landete oft in den vielen wilden Deponien. 50.000 oder mehr soll es gegeben haben:

    "Das ist die erste und ursprüngliche Genehmigung."

    Im Büro von Udo Selle steht ein mobiles Regal mit etwa zweieinhalb Metern Akten zu Herfa-Neurode: die Genehmigungsunterlagen seit 1972. 1972 war die ehemalige Kaligrube die erste Untertage-Deponie weltweit, erklärt der Bergbaudirektor:

    "Das ist der Antrag der Kali und Salz AG, so der damalige Firmenname, an das Bergamt Bad Hersfeld über die Einlagerung von Abfallprodukten aus der chemischen Industrie. Umfang: anderthalb Seiten und die dazugehörige Betriebszulassung des Bergamtes mit insgesamt zwölf Nebenbestimmungen, auch vom Umfang her zwei Seiten."

    Ein übersichtliches Verfahren für ein Problem, das auf den Nägeln brannte. Die Ausführungen sind knapp. Etwa die Sicherheitsbetrachtung zum Eindringen von Wasser:

    Dabei entstehen gesättigte Laugen, die stagnieren und eine weitergehende Zirkulation der eindringenden Wässer und damit einen Transport von eingelagertem Gut weitgehend ausschließen. Hierzu sind im Falle des Salzbergwerks Asse II zahlreiche Untersuchungen durchgeführt worden.

    Ironie der Geschichte: Das inzwischen berüchtigte Atommüll-Endlager Asse lieferte seinerzeit Argumente für die Beherrschbarkeit des schlimmsten, aber durchaus möglichen Unfalls in einer Untertagedeponie - des Wassereinbruchs über den Schacht:

    Nach Dieffenbacher und anderen, 1971, besteht für das Salzbergwerk Asse II, in dem radioaktive Abfälle eingelagert werden, selbst bei dem äußerst unwahrscheinlichen Eintreten eines Wassereinbruchs keinerlei Gefährdung für die Umwelt, auch nicht auf lange Sicht.

    Heute droht die Asse abzusaufen - samt der 126.000 Fässer radioaktiven Mülls, die dort eingelagert sind: Der Salzbergbau war dem Rand des Salzstocks Asse zu nahe gekommen, so dass seit Jahren Wasser eindringt. Damals jedoch schien die Welt in Ordnung zu sein. Selle:

    "Dann schließt diese gutachterliche Stellungnahme mit einer Beurteilung ab, die vom Tenor her sagt: Durch den vorgesehenen Betrieb einer Deponie im Kaliwerk Herfa-Neurode ist eine schädliche Beeinflussung der Umwelt ausgeschlossen, da sich die abgelagerten Stoffe in einem rund 300 Meter mächtigen Steinsalzlager in über 800 Metern Tiefe unter der Erdoberfläche nicht wieder in den Biozyklus gelangen können, und dem normalen hydrologischen Kreislauf entzogen sind."

    Firmen und Gesellschaft hatten ein Problem weniger.

    "Die Genehmigungsverfahren für Chemieabfälle, die im wesentlichen in den siebziger Jahren entstanden sind, gingen noch davon aus, dass das mit relativer Einfachheit und Schlichtheit dann auch zu bewältigen ist."

    Ortwin Renn lehrt als Umwelt- und Techniksoziologe an der Universität Stuttgart. Vorschriften, wie man hochtoxischen Abfall sicher unterbringt, gab es nicht, erzählt er. Deshalb setzte sich ein kleiner Kreis von Experten der Kali und Salz und des Hessischen Landesamts für Geologie zusammen. Sie wälzten Unterlagen, debattierten aufgrund bergmännischer und geologischer Erfahrung: Herfa-Neurode wurde zur Pilotanlage für die untertägige Deponierung hochtoxischer Abfälle. Stefan Alt:

    "Sämtliche Verfahren, sämtliche Techniken sind dort entwickelt worden. Auch die Nachweise, die gegenüber der Genehmigungsbehörde zu erbringen sind, sind dort entwickelt worden."

    Etwa beim Sicherheitsnachweis, für den inzwischen ein fester Katalog an "Ereignissen" geprüft wird:

    "Dazu gehören Erdbeben, dazu gehört Vulkanismus."

    Denn als die Vulkane der nahen Rhön ausbrachen, schickten sie Ausläufer ins Salz von Herfa-Neurode. Die schleppten große Mengen an vulkanischem Kohlendioxid an. Alt:

    "Die Tatsache, dass es heute noch dort ist, wird im Nachweis angeführt als Argument dafür, dass die Salzformationen sogar gasförmige Stoffe sicher und langfristig zurückhalten können, weil: Auch dieses Kohlendioxid liegt mittlerweile schon seit 20 Millionen Jahren dort."

    Unter anderem deswegen und wegen seiner Fähigkeit, um alles herumzukriechen, galt Salz vielen Experten als bestes Wirtsgestein für ein Endlager. Was die Menschheit heute an Giftmüll produziert, ist beträchtlich: Weltweit geht es um 400 Millionen Tonnen. Allein in Deutschland sind es mindestens 18 Millionen Tonnen. Laut Gesetz müssen gefährlichen Abfälle verwertet oder technisch "entschärft" werden. Je nach Stoffkategorie enden sie in Sondermüllverbrennungsanlagen oder in obertägigen Deponien. Was zu giftig ist, kommt nach Untertage. Stefan Alt:

    "Der einzige Ort, in den man derzeit das Vertrauen hat, dass man diese Abfälle langfristig und sicher vor der Biosphäre abschließen kann."

    Platz für diese "Reststoffe" gibt es in Herfa Neurode reichlich: Täglich holen die Bergleute 70.000 Tonnen Rohsalz heraus - als Ausgangsstoff für Düngemittel und chemische Industrie. Zurück bleibt eine unterirdische Landschaft aus Stützpfeilern und Hohlräumen, und in die können auch in Zukunft chemotoxische Abfälle gesteckt werden. Listenpreis pro Tonne: 260 Euro. Das ist teuer, wenn auch nicht so teuer wie früher. Die Preise sind gesunken. Weil Strategien zur Abfallvermeidung und neue Behandlungsmethoden griffen, wird heute weniger eingelagert als vor 20, 30 Jahren. Aber alles lässt sich nicht behandeln.

    Mit jeder Fahrt schleppt der Förderkorb sieben Tonnen nach unten: auf vier Etagen mit jeweils zwei Paletten voller 200-Liter-Fässer oder Big Bags. Das sind große Plastiksäcke mit Rückständen aus der Rauchgasreinigung oder Filterstäuben. Jahr für Jahr landen über den Schacht weitere 200.000 Tonnen Sondermüll auf der 660-Meter-Sohle. Dort angekommen, warten die Gabelstapler. Gerold Jahn:

    "Die können gleichzeitig zwei Gebinde vom Förderkorb herunternehmen und auf dem Lkw abstellen. Auf der Ladepritsche haben bis zu 16 Gebinde Platz."

    Ein mit Paletten voller Big Bags beladener Lastwagen fährt los. Auch Gerold Jahn startet sein Auto. Der Fahrtwind ist warm, könnte an einen Frühlingstag erinnern - wäre da nicht der Geruch: salzig wie am Meer, aber mit etwas Diesel darunter, Öl, ein Hauch Sprengschwaden - eben typisch Bergwerk. Gerold Jahn beginnt zu erklären: Ins Salz dürfe längst nicht alles:

    "Wir haben Ausschlusskriterien, also Abfälle, die nicht untertage eingelagert werden dürfen. Also: Abfälle dürfen nicht brennbar sein, nicht leicht entzündlich, nicht hoch entzündlich, nicht selbst entzündlich. Sie dürfen nicht ausgasend sein, nicht radioaktiv, sie dürfen keine Erreger pathogener Keime enthalten, sie dürfen nicht flüssig sein, flüssig deswegen, weil man früher flüssig mit Wasser definiert hat und Wasser ist ja der größte Feind des Salzbergmanns, weil Wasser kann Salz auflösen und das darf natürlich hier unten nicht passieren."

    Während in ausgebeuteten Betriebsteilen eingelagert wird, läuft in anderen die Förderung weiter. Ein potentielles Risiko. Udo Selle vom Regierungspräsidium Kassel:

    "Das bedeutet natürlich, dass auch ständig neue Hohlräume geschaffen werden, dass Sicherheitspfeiler, die man festgelegt hat, möglicherweise durch die bergmännische Tätigkeit verletzt werden."

    Es müssen immer mindestens 50 Meter Salz zwischen der Deponie und dem Rest der Welt bleiben, also auch zum aktiven Grubenbereich. Wo - wie an Verbindungsstrecken - dieser massive Sicherheitsgürtel fehlt, sollen Betondämme abschotten. Seit 2009 verlangt die deutsche Deponieverordnung, dass die Überwachungsbehörden regelmäßig prüfen, ob alles noch in Ordnung ist, Genehmigung und Langzeitsicherheit Bestand haben. Ein zentraler Punkt ist die Frage, ob der Bergbau nichts am sicheren Einschluss verändert hat. Udo Selle:

    "Während man im Jahre 1972 noch mit einem relativ kurzen Gutachten und einem kurzen Bescheid ausgekommen ist, hat der Langzeitsicherheitsnachweis heute einen Umfang von fast 200 Seiten Textteil, zu dem noch gewisse Anlagen und Gutachten dazugehören. Das sind insgesamt drei Aktenorder, die nun auch - genau wie der Genehmigungsbestand - alle vier Jahre geprüft werden, an die Weiterentwicklung des Grubenbetriebs angepasst werden müssen, wo neue Erkenntnisse einfließen teilweise auch Änderungen der gesetzlichen Vorschriften."

    Wichtig dabei ist die Gefahr von Wassereinbrüchen – durch den Schacht oder weil ein Teil der Grube kollabiert. Was würde bei einem solchen GAU passieren? Stefan Alt:

    "Das ist ein sehr komplexes wissenschaftliches Feld, an dem auch die Datengrundlage noch lückenhaft ist. Da wird sehr vehement dran gearbeitet, die zu verbessern."

    Etwa in den Laboratorien der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS. Dort versucht Thomas Brasser die Zusammenhänge in einem Chemieendlager zu verstehen. Klar ist, dass Wasser im Bergwerk sofort Unmengen an Salz löst und sich in eine hochgradig salzige Lösung verwandelt:

    "Es sind dann extreme geochemische Bedingungen, die herrschen und die dann auch andere Reaktionen des Abfalls oder der Abfallinhaltsstoffe verursachen könnten."

    Jetzt kommt es darauf an, welcher Stoff unter diesen extremen Bedingungen mit welchem anderen Stoff wie reagiert:

    "Es geht beispielsweise um Fragen der Löslichkeit. Ganz viele Daten, die heute verfügbar sind, die beziehen sich auf Laborbedingungen und sind nicht ohne weiteres übertragbar auf Verhältnisse, wie man sie in einer Untertagedeponie hätte, wenn denn dort ein Zutritt von Flüssigkeiten stattfindet."
    Einfach nachvollziehen lässt sich das komplexe Geschehen nicht. Brasser:

    "Habe ich Abfälle unterschiedlichster Herkunft zusammen in einer Untertagedeponie, sind das nicht einzelne Elemente, sondern das ist ein Sammelsurium von Schadstoffen, die in ihrer komplexen Zusammensetzung durchaus ein anderes Verhalten zeigen können als das die Einzelkomponenten tun."

    Selbst wenn in der Lösung jeweils für sich die Gehalte an Blei, Cadmium oder Zink unterhalb der zulässigen Grenzwerte liegen, wirken sie gemeinsam dann doch giftig. Brasser:

    "Ein Kenntnisstand, der auf Laborergebnissen mit destilliertem Wasser und reinen Elementen beruht, ist nicht übertragbar auf einen konkreten Abfall, in dem verschiedene Schadstoffe enthalten sind plus eine hoch salinare Lösung. Das sind ganz andere Welten."

    Welten, über die man wissenschaftlich bislang wenig weiß.

    Wir fahren durch das Deponiefeld 2. Es ist fast vollständig verfüllt. Die Abfälle werden nach Stoffgruppen getrennt eingelagert - durch eine Mauer abgeschottet oder durch einen Salzwall. Gerold Jahn:

    "Wir haben also verschiedene Stoffgruppen, nach denen wir die Abfälle sortieren. Wir haben da saure organische Abfälle, cyanidhaltige Abfälle, alkalische Abfälle, saure Abfälle in Fässern, in big bags, wir trennen also auch immer nach den Gebinden."

    So soll verhindert werden, dass in den geschlossenen Kammern chemische Reaktionen ablaufen, wenn die Fässer und big bags zerstört sein werden – denn die halten nicht ewig. Die Chemieabfälle bleiben aber auf ewig giftig. Was bedeutet dann eigentlich "Langzeitsicherheit"? Kann man Sicherheit auf Dauer garantieren? Stefan Alt:

    "Wir bewegen uns da natürlich in einem Bereich, wo es irgendwann einmal philosophisch wird, über Konsequenzen eigenen Handelns zu sprechen."

    Während beim Atommüll die Strahlung mit der Zeit abklingt, verändern sich Gifte niemals. Für Atommüll-Endlager wird derzeit eine Million Jahre Sicherheit gefordert. Bei chemotoxischen Abfällen dagegen gibt es solche Vorgaben nicht, erläutert Stefan Alt vom Öko-Institut Darmstadt:

    "Einen Zeitraum festzulegen, über den ein Beweis geführt werden muss, ist für chemisch-toxische Abfälle weder möglich, noch sinnvoll, weil sich die Eigenschaften dieser Abfälle über den Zeitraum nicht verändern, und insofern, ja, die Konsequenz meines Handelns, indem ich diese Abfälle irgendwann einmal ja erzeugt und dann auch endgelagert habe, sich dadurch nicht ändern."

    Während beim Atommüll für den Nachweis der Langzeitsicherheit alle möglichen Szenarien erdacht und über eine Million Jahre hinweg simuliert werden, fordert der Gesetzgeber so etwas für Untertagedeponien nicht. Bei ihnen läuft der Sicherheitsnachweis anders. Alt:

    "Szenarien werden betrachtet, werden allerdings auf eine Art und Weise betrachtet, die man verbal-argumentativ nennt, also man sucht Argumente zusammen, man beschreibt die Situation und man gewinnt einen Eindruck davon, wie sich qualitativ das System gegenüber diesem Einfluss verhält, sei es jetzt 1.000.000 Kubikmeter Grundwasser kommen in Kontakt mit der Deponie, was geschieht dann?"

    Anders als beim Atomendlager werden jedoch beispielsweise keine komplexen Modelle dazu durchgerechnet, wie sich ein mit Wasser mobilisierter Schadstoff ausbreiten würde, erläutert Stefan Alt:

    "Den Betreiber wird man dort auch nicht unter Druck setzen wollen."

    Lange Zeit wusste man noch nicht einmal, wo eigentlich der Teil der ganz normalen Abwässer endet, der bei der Salzproduktion entsteht und der derzeit noch in den Untergrund verpresst wird. Vor einigen Jahren stellte sich dann heraus, dass er es in die Flussbetten der Umgebung schafft. Es ist wenig bekannt über die Wege des Wassers im Untergrund.

    Wir fahren an einer Mauer mit einem Tor in der Mitte vorbei. Normalerweise, so erläutert Gerold Jahn, werde ein Hohlraum erst mit Abfallgebinden gefüllt und dann zugemauert. Hier sei es umgekehrt. Die Mauern kämen zuerst – des Brandschutzes wegen. Denn hier würden big bags eingelagert, die nicht in sich selbst standfest sind und deshalb auf ihren Holzpaletten bleiben. Das erhöhe die Brandgefahr. Jahn:

    "Diese sogenannte Kammer wird zwangsbelüftet. Am hinteren Ende befindet sich ein Ventilator, der die Luft über das Tor in die Kammer hineinzieht, und zusätzlich ist dort am Kammerausgang eine Kohlenmonoxid-Mess-Sonde angebracht, dass - falls es zum Brand käme - ein Alarm ausgelöst würde. Und dann kann man den Lüfter abschalten, mit einer Klappe verschließen und das Tor schließen, so dass ein Brand erstickt werden könnte."

    Überhaupt könne die ganze Deponie versiegelt werden:

    "Hier fahren wir durch eine Wetterschleuse durch. Hier können wir die Tore schließen und die Deponie hermetisch abriegeln."

    Wie wichtig diese Sicherheitsmaßnahme im Ernstfall sein kann, erfuhr 2002 die französische Firma Stocamine. Sie hatte in der elsässischen Kaligrube Joseph Else eine Untertage-Deponie betrieben, die als modernste der Welt galt. Dann nahm der Betreiber den falschen Abfall an: Die Gebinde entzündeten sich, Feuer breitete sich aus, hochgiftige Dämpfe füllten das Bergwerk. Übertage wurden Schulen geschlossen - vorsorglich, erklärte die Präfektur. 70 Männer der Grubenwehr wurden bei den Löscharbeiten verletzt, von denen einige heute noch unter Lungen- und Hautkrankheiten leiden. Obwohl es Monate dauerte, ehe der Brand gelöscht war, machte das Unglück nur regional Schlagzeilen. Für mehr reichte der Nachrichtenwert nicht aus.

    "Wenn dasselbe jetzt mit nuklearem Abfall -, auch wenn nichts passiert ist, wäre das in der ganzen Welt. Wenn einer von der Leiter fällt in einem Kernkraftwerk, hat das schon einen Nachrichtenwert, weil da ein hohes Stigma mit verbunden ist."

    Ortwin Renn von der Universität Stuttgart.

    "Diese ganze Frage der Langzeitverantwortung des Menschen für Umweltbelastungen ist sehr, sehr stark mit der radioaktiven Endlagerung verbunden."

    Anders als der Atommüll steht der chemotoxische Abfall nicht im Rampenlicht. Noch nicht einmal die großen Umweltschutzorganisationen interessieren sich für die Chemie-Endlager. Vielleicht, weil sie weniger Angst verbreiten als Atommüll: Der strahlt, kann auf Distanz Schaden anrichten, niemand spürt die Gefahr. Giftmüll dagegen scheint kontrollierbar. Renn:

    "Bei den Chemieabfällen hat man den Eindruck, wenn man die nicht gerade isst und trinkt, da kann nicht so viel passieren."

    Dabei können sich selbst in der Geologie mit ihren gewaltigen Zeitrahmen die Bedingungen ändern. So versteckt sich in der Nähe der Untertagedeponie Herfa-Neurode im Untergrund eine besondere Senke: Dort hat vor langer Zeit Wasser von der Seite her die Salzdecke aufgelöst. Dann änderte sich die tektonische Lage, das Wasser floss andere Wege, der Prozess stoppte. Zwar war in der Senke das Salz verschwunden, aber das Gebirge darüber senkte sich und schützt die Salzdecke seitdem. Wer aber garantiert, dass die geologischen Kräfte sich auf lange Sicht nicht wieder ändern und die Gifte in die Ökosysteme schleusen?

    Wir sind in einem Einlagerungsbereich angekommen. Gerold Jahn:

    "Hier sehen wir die 200 Liter Stahlblechfässer, immer vier Stück auf einer Palette stehend, mit zwei Stahlbändern oder Kunststoffbändern gebändert, damit die nicht verrutschen beim Transport und nicht herunterfallen können."

    In den Fässern stecken die Rauchgasreinigungsrückstände einer schweizerischen Müllverbrennungsanlage. Der Gabelstapler greift sich Palette auf Palette, stapelt sie bis knapp unter die Firste. Jahn:

    "Hier ist die Höhe so, dass maximal drei Behältnisse übereinander gestellt werden können."

    Ein seltsamer Arbeitsplatz: Nur die eigenen Scheinwerfer geben zwei Lichtkegel. Schaltet der Fahrer sie ab, herrscht vollkommene Dunkelheit - so dunkel, wie es über Tage niemals werden kann.

    Als das 1993 stillgelegte Salzbergwerk Niedersachsen-Riedel bei Hannover in eine Untertagedeponie umgewandelt werden sollte, wehrten sich die Anwohner. Außerdem hatte sich der Wettbewerb um den Giftmüll so verschärft, dass eine weitere Anlage kaum wirtschaftlich gewesen wäre. In Herfa-Neurode wird über die Deponie nicht diskutiert. Ortwin Renn:

    "Die normalen Laien bewerten Risiken nach so genannten Heurismen, das sind eine Art Gedankenanker, die es uns erlauben, Dinge zu vergleichen und aus diesem Vergleich heraus die Schwere des Risikos einzuschätzen. Da spielen Dinge eine Rolle wie, ob man sich an das Risiko gewöhnt hat, ob das Risiko mit Sicherheit tödlich ist oder ob es vielfach doch nur zu Blechschäden kommt, ob das Risiko gerecht oder ungerecht verteilt ist, also sogenannte qualitative Risikomerkmale, die dann auf die Höhe des wahrgenommenen Risikos einen großen Einfluss ausüben."

    Giftige Abfälle machen den Menschen weniger Angst als die strahlenden, beobachtet Risikosoziologe Ortwin Renn. Zum Teil mag das daran liegen, dass es oft ganz alltägliche Gegenstände sind, bei deren Produktion diese Abfälle entstehen - und man ist an sie gewöhnt, sei es nur, weil in der Schublade Batterien liegen. Doch das allein könne die gewaltige Aufmerksamkeitsdiskrepanz noch nicht erklären. Ein zweiter Mechanismus sei am Wirken.

    "Es gibt immer eine Art Pfadfinder, die ganz bestimmte Gedankengänge in die Bevölkerung hinein setzen. Das sind quasi Sündenböcke, für die dann alles Mögliche auch auf sie abgeladen wird. Und Sündenböcke sind keine Unschuldslämmer, die tun auch genau das, für das sie dann auch verantwortlich gemacht werden. Aber sie nehmen von den anderen auch ein Stück weit den Druck weg."

    Und so könnten sich andere Risiken sozusagen im Windschatten des Sündenbocks Atommüll lange Zeit verstecken. Die Wahrnehmung ist: Chemotoxische Abfälle sind zwar gefährlich, aber wenn man sie tief genug vergräbt, sind sie weg. Renn:

    "Aus dem Blick, aus dem Sinn."

    Das Vertrauen geht weit: Werden die Untertage-Deponien eines Tages geschlossen, ist keine Nachsorge geplant. Alles wird der Geologie überlassen - was angesichts der Ewigkeit, die diese Stoffe gefährlich sein werden, wohl die einzige Lösung ist.