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Im Gericht mit Goethe & Co.

Der "Werther" sei eigentlich gar nicht lesbar, Autor war damals in Liebesdingen unbefleckt und zudem gefühlskalt. Goethe-Liebhaber werden sich über den Essayband des Ungarn Stephen Vizinczey wahrscheinlich ärgern. Neben Goethe geht Vizinczey in "Die zehn Gebote eines Schriftstellers" aber auch anderen literarischen Größen auf den Grund.

Von Martin Grzimek | 15.03.2005
    Goethe-Liebhaber werden sich über den Essayband des in Kanada lebenden Ungarn Stephen Vizinczey wahrscheinlich ärgern. Zumindest über den darin enthaltenen Aufsatz über unseren Nationaldichter unter dem eindeutigen Titel "Das Genie als Speichellecker". "Werther", schreibt Vizinczey, "Goethes einziger Roman über einen leidenschaftlichen Menschen, ist heute schlicht unlesbar. Goethe hat offensichtlich über etwas geschrieben, wovon er keine Ahnung hatte. An dieser Stelle darf man auch nicht vergessen zu erwähnen, dass Goethe mit siebenunddreißig Jahren noch mit keiner Frau geschlafen hatte. Anders ausgedrückt: Sein Verlangen nach einer Frau ist nie stark genug gewesen, ihm jenen Mut zu verleihen, der eine Zurückweisung riskiert hätte. In diesem Punkt treffen sich der korrupte, glattzüngige Beamte und der alles andere als große Dichter: Goethe nannte nur ein ziemlich begrenztes Gefühlsleben sein eigen. Schwache Männer aber sind dann am schwächsten, wenn es um Mitleid geht. Obwohl der Herzog Gnade walten lassen wollte, hat Goethe das Todesurteil eines echten Gretchen unterzeichnet, eines Dienstmädchens, das ihr Kind ermordet hatte."

    Der provozierende Ton, in dem Vizinczey Goethe fehlende Leidenschaftlichkeit und angepasste Herrscherallüren als Charakterschwächen anlastet, ist signifikant für alle in diesem Band versammelten Essays aus drei Jahrzehnten kritischer Auseinandersetzung des Autors mit den Werken der Weltliteratur. Treffender als der deutsche Buchtitel "Die zehn Gebote eines Schriftstellers" lautet daher der der Originalausgabe: "Wahrheit und Lüge in der Literatur". Wobei hinzugefügt werden muss, dass der Untertitel, es würde sich bei dieser Sammlung durchgehend um Essays handeln, in die Irre führt. Denn bei zwei Dritteln der insgesamt achtzehn Artikel handelt es sich um Rezensionen, Besprechungen oder Hinweise auf zum Beispiel Neuübersetzungen westlicher Literatur ins Englische oder von Sekundärliteratur, die sich mit jenen Schriftstellern auseinandersetzt, die Vizinczey für seine Favoriten hält und mit denen er sich ausführlicher beschäftigt hat.

    Allen voran steht der Franzose Marie-Henri Beyle, besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal, dem Vizinczey einen langen, engagierten und hochinteres-santen Essay widmet, den man in Bezug auf Intensität und Ernsthaftigkeit durchaus dem berühmten Essay Samuel Becketts über Marcel Proust an die Seite stellen kann. "Wahre Größe ist wie die Unendlichkeit; wir können sie nicht ermessen." Mit diesem Leitsatz eröffnet Vizinczey seinen Stendhal-Essay "Einer der Very Few", um dann anhand der Biographie Stendhals, seiner bekannten Werke wie "Die Kartause von Parma", "Rot und Schwarz" oder "Über die Liebe" und unter Berücksichtung vieler psychologischer Aspekte und sozialer Lebensumstände seiner Zeit ein einfühlsames Bild dieses bedeutenden Romanciers zu zeichnen. Wichtig ist Vizinczey dabei, wie in allen seinen Essays und Rezensionen, auf die Wahrhaftigkeit der Gefühle des Schriftstellers hinzuweisen. Sie ist der herausragende Garant für die Allgemeingültigkeit eines Werkes der Literatur. "Haupttriebfeder aller Werke Stendahls", resümiert er, "ist die emotionale Spannung zwischen unseren unmittelbaren Impulsen, unseren wahren Gefühlen, und der Erfordernis, sie im Interesse unserer sozialen Rolle zu unterdrücken."

    Solchen Widerstreit, den Vizinczey bei Goethe vermisst, findet er auch in den Werken Heinrich von Kleists, um aber auch gleich in einem ebenfalls recht umfangreichen Essay den Unterschied zu Stendhal anzumerken: "Stendhal erzählt uns, wie Menschen sich verlieben, Kleist erzählt uns, wie Menschen zu Mördern werden." Und die Divergenz zwischen Kleist zu seinem Zeitgenossen Goethe, der die Arbeiten seines Dichterkollegen als "krankhaft" beurteilte, beschreibt er wie die zwischen einer Hollywoodproduktion und einem Low-Budget-Film: "Wie die klassischen Hollywood-Produzenten glaubte Goethe an das Rezept, die Realität mit Ausgleichung, Aussöhnung und Abrundung zu bearbeiten, um das Publikum zu beruhigen und zu erheben. Kleist gab das Leben wieder, wie er es vorfand: ungeordnet, beunruhigend und unerklärlich absurd."

    Solchen Maßstab der Wahrhaftigkeit und Unverstelltheit, den Vizinczey in den Werken der "großen Meister" wiederfindet, legt er auch an seinem eigenen Schreiben an. Das gibt diesen Kritiken einen erfrischenden Ton, das macht die Essays lesenswert, weil sie in ihrer Begeisterung und emotionalen Beteiligung dazu verführen, sich den von ihm gepriesenen Werken der Weltliteratur wieder zuzuwenden. Swift und Sterne, Shakespeare und Mark Twain, Puschkin und Gogol, Tolstoi, Dostojewski, Standhal, Balzac und Heinrich von Kleist - deren wiederholte Lektüre empfiehlt er nicht nur den Lesern sondern auch denen, die schreiben.

    In seinen "Zehn Geboten eines Schriftstellers", die den Essayband eröffnen und angehenden Autoren bei der Arbeit helfen sollen, steht der Rat: "Du musst entscheiden, was einem wichtiger ist: gut zu leben oder gut zu schreiben." Immer wieder betont Vizinczey die Qualität eines Werkes, immer wieder seine gefühlsmäßige Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Zeit. "Aus Büchern, die uns langweilen", sagt er im Kleist-Essay, "können wir nichts lernen; sie tun dem Geist an, was eine Vergewaltigung dem Körper antut; was eine große Freude sein sollte, wird zum Ekel." Das Lesen von Stephen Vizinczeys Essays ist eine große Freude. Sie erreichen, was jeder gute Essay über Literatur erreichen sollte: die Werke der angepriesenen Autoren aus dem Bücherschrank zu nehmen und sie von neuem zu lesen.

    Stephen Vizinczey: "Die zehn Gebote eines Schriftstellers"
    Verlag Schirmer/Graf