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Im größten rechtsfreien Raum der Welt

Die pakistanischen Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan gelten als Drehscheibe des internationalen Terrorismus. In dem unzugänglichen Gebiet vermutet der amerikanische Geheimdienst auch Osama Bin Laden. Westliche Politiker setzten die pakistanische Regierung immer stärker unter Druck. In Islamabad verweist man dagegen gebetsmühlenartig auf den Sonderstatus der Gebiete: Traditionell seien die Einflussmöglichkeiten der Regierung dort gering.

Von Marc Thörner | 23.02.2008
    Im Krankenhaus von Peschawar sitzt Chefarzt Doktor Hamidullah und studiert den Lokalteil der Zeitung - wie so oft, dominieren auch diesmal Nachrichten über Stammes- und Familienfehden: Tragödien, die als Steckschüsse, Streifschüsse und Durchschüsse auf dem Operationstisch des Chirurgen landen.

    "Vor zwei Monaten hatte ich da einen Patienten aus dem Momand-Stammesgebiet unterm Messer. Der hatte vom Baum seines Bruders einen Zweig abgerissen. Da zog der Bruder eine Waffe, schoss den Mann an und tötete dessen Sohn, seinen eigenen Neffen. Der Angeschossene wurde hierher gebracht mit einer Kugel in der Brust und im Bauch. Als ich ihn fragte, wie es nun weitergehen sollte, sagte er mir: "Ich werde eine Entschädigung verlangen. Eine Million Rupien für seinen toten Sohn und eine halbe Million für die eigene Verletzung". Falls er die Summe nicht aufbringt, darf sein Bruder ihn erschießen. Das heißt, falls die Stammesversammlung das genehmigt. Und normalerweise entscheidet die entsprechend."
    Könnten die Wände des alten Spitals reden, meint der Arzt, dann würden sie seit hundert Jahren die immer gleichen Geschichten erzählen. Geschichten, die nicht selten enden, wie diese:

    "Der schuldige der beiden Brüder ist auf und davon - ab in die Stammesgebiete. Wenn die Leute sich dorthin flüchten, dann haben sie nichts mehr zu fürchten, weil es dort keine Gesetze gibt. Die Regierung kann nichts tun. In den Stammesgebieten gibt es keine Polizei."

    Die Stammesgebiete: Eine ebenso wildromantische wie unübersichtliche Gegend: Berge, Schluchten, Bäche, kleine Weiler, die sich an Gebirgsstraßen entlang ziehen. Das autonome Land beginnt ein paar Kilometer hinter Peschawar und bildet im Gebirge eine Pufferzone zwischen der Nordwestlichen Grenzprovinz und Afghanistan.

    Normalerweise bedarf es Genehmigungen, um die Grenzlinie zu passieren, Genehmigungen, die dieser Tage schwer zu erhalten sind. Doch wenn man wohlgesonnene Helfer in Peschawar hat, sieht die Sache schon ganz anders aus. Dr. Hamidullah kennt einen Sanitäter, der regelmäßig in die Stammesgebiete fährt, um dort Gesundheitsstationen zu inspizieren.

    Mullah Mohammed, so heißt der Sanitäter, ist Leiter eines Programms zur Bekämpfung von Lepra und Blindheit in den Stammesgebieten. Mit ihm zu fahren bedeutet, keine Sorgen mehr zu haben. Der ältere Herr mit der ortsüblichen Paschtunenkappe ist überall bekannt. Seinen Landrover betrachtet er als ein mobiles Stammesgebiet. Kontrollen? Das wäre ja noch schöner.

    Mit dem Geländewagen geht es auf Schotterpisten und Serpentinen in die Berge hinauf, in Richtung der autonomen Paschtunenregion. Was hat es auf sich mit den besonderen Rechten, die jenseits dieser Straße gelten?

    "In den Stammesgebieten sind die Gesetze aus der britischen Zeit noch immer in Kraft. Das "Grenzgesetz", der so genannte FCR oder Frontier Crime Regulations Code. Die staatliche Justiz mit ihren Richtern und Gerichtshöfen gilt in den Stammesgebieten nicht. Stattdessen gibt es besondere Gesetze. Sie werden von den Political Agents überwacht, die wiederum direkt dem Innenministerium unterstehen."

    "Überwacht" bedeutet nicht, dass sich die Gesandten der Zentralregierung in die Stammesgesetze einmischen. Die Political Agents sind mit Botschaftern zu vergleichen, die zwar die Interessen der Zentralmacht deutlich machen, ihre Ziele aber nur durch Verhandlungen erreichen können. Ein System, das noch vom Anfang des 20. Jahrhunderts stammt und beiden Seiten viel Geduld abverlangte, wie sich Winston Churchill erinnerte. Der spätere britische Premierminister war 1897 als Offizier an der afghanischen Grenze eingesetzt.

    Zitat Churchill: Aus Sicht der Stämme war die Tätigkeit der britischen Regierung durchaus unerfreulich. Überall längs der Wege verlangte man von der Bevölkerung, sie solle sich ruhig verhalten, nicht mehr aufeinander schießen und - was das Schlimmste war - auch nicht mehr die Reisenden auf diesen Straßen überfallen. Das war zu viel gefordert; und aus dieser Quelle entsprang eine Reihe von Zwisten.
    Das schwierige Verhältnis zu allem, was im weitesten Sinne nach Zentralstaat aussieht, scheint brandaktuell. Das zeigt sich, als Mullah Mohammed in einem Bergdorf die Gesundheitsstation inspizieren will. Sie ist verriegelt und verrammelt und offenbar seit Wochen nicht mehr in Betrieb. Die Nachfragen bei den Anwohnern ernüchtern Mullah Mohammed.

    "Die Stammesleute sind hier ausgesprochen mächtig. Ein paar von ihnen behaupten, dass das Grundstück ihnen gehört, ehe die Gesundheitsstation gebaut wurde. Sie pochen auf ihr Recht und drohen uns damit, dass sie nicht locker lassen, auch wenn der Streit noch Jahre dauern sollte."

    Ein Problem, das nur durch Verhandlungen gelöst werden kann. Mullah Mohammed trifft sich mit den Ältesten der Gemeinschaft. Nüsse werden gereicht. Tee wird eingegossen. Und nachdem die Neuigkeiten ausgetauscht sind, versucht der Sanitäter, die Honoratioren zu überzeugen, dass eine Krankenstation in ihrem eigenen Interesse ist.

    "Wir bezeichnen das als Jirga. Zehn bis zwölf Stammesälteste kommen zusammen. Sie urteilen über Mord oder über persönliche Streitfälle. Je nachdem was ihnen richtig scheint, gemäß ihrer jeweiligen Gebräuche."

    Die lokalen Führer, so Mullah Mohammed, hätten sich auch bei den jüngsten Wahlen wieder gut bewährt.

    "Normalerweise entscheidet sich der Stammesälteste für eine politische Partei. Der ganze Stamm, all seine Anhänger folgen dann seinem Beispiel. Wenn er die Partei wechselt, wechselt der ganze Stamm. Hier in der Paschtunengegend interessieren wir uns nicht für politische Ideologien. Wir gehorchen immer unseren Ältesten, unseren Maliks, unseren Grundbesitzern."

    Nachdem die Verhandlungen über die Gesundheitsstation bis auf weiteres vertagt worden sind, steuert Mullah Mohammed ein isoliert stehendes Lehmgebäude an. Das Gästehaus des Dorfes.

    Und das ist gut. Kaum dass die Sonne untergegangen ist, wird es schon bitter kalt. Schnell ist ein Feuer im Kamin entfacht.

    "Für jeden Fremden, der durch die Stammesgebiete reist, sind Unterkunft und Essen niemals ein Problem. Keiner muss hier dafür etwas zahlen. Jeder kann hier überall umsonst wohnen und essen."

    Allmählich klärt sich vieles, was vorher unverständlich war. Zum Beispiel, weshalb sich jemand wie Osama Bin Laden, immerhin ein alter Kampfgefährte gegen die Sowjets, möglicherweise seit Jahren in den Stammesgebieten aufhalten kann. Mullah Mohammed schärft das Verständnis von der hiesigen Gastfreundschaft mithilfe eines paschtunischen Witzes.

    "Einmal ist ein Fremder hier durchgereist und wurde sofort von einem der Stammesleute eingeladen. Irgendwann beschloss der Fremde, auszugehen und wurde von einem zweiten Mann zum Essen eingeladen. Als das der erste Gastgeber erfuhr, betrachtete er dies als Entehrung. War sein Essen etwa nicht gut gewesen? "Mein Ruf ist ruiniert, ich muss dich umbringen", erklärte er dem Gast. Der wandte sich an seinen zweiten Gastgeber und erinnerte ihn daran, dass er sich in dessen Haus befinde und dass der zweite Gastgeber ihn unter Einsatz des Lebens verteidigen müsse. Der zweite Gastgeber überlegte eine Weile und sagte: "Ich glaube wir müssen es so machen: Erst lässt du dich durch den ersten Gastgeber umbringen. Und wenn der jemanden zu Besuch hat, bringe ich den um"."

    Anderntags laden die Dorfbewohner ein, die Haupteinnahmequelle der Gemeinschaft zu besichtigen. Es geht über rieselnde Gebirgsbäche und vorbei an Schluchten. Ein junger Mann klettert voran, hinein in eine Anlage von saftig aussehenden Terrassenfeldern.

    "Das ist Opium. Das ganze Dorf lebt davon, das ist der Haupterwerbszweig unserer Leute. Im Augenblick sind die Pflanzen noch klein, sie werden aber einen Meter hoch. Dann schneiden wir sie und wir verkaufen sie auf dem Basar. Ein Kilo erbringt zwischen 2000 und 3000 Rupien Gewinn, im Augenblick liegt der Preis bei 3000 Rupien, rund 40 Euro. Wir verkaufen das Opium erst mal auf den lokalen Märkten an die großen Schmuggler. Die bringen es dann bis nach Karachi oder Peschawar oder ins Ausland. Alle anderen Pflanzen würden viel weniger einbringen. Aber Opium bringt 3000 Rupien, deshalb bauen wir es an."
    Opiumhandel, im Westen weitgehend als afghanisches Problem betrachtet, vollzieht sich also auch auf der pakistanischen Seite der Grenze. Von hier aus öffnen sich die Verteilungskanäle. Ein Fingerzeig darauf, dass auch andere der regionalen Probleme vor allem in den Stammesgebieten, und weniger in Afghanistan ihre Wurzeln haben.

    Schließlich befindet sich auf pakistanischem Gebiet der größte rechtsfreie Raum der Welt. Aber eben doch nicht ganz rechtsfrei, schränkt Mullah Mohammed ein:

    "Sollte jemand von hier einen anderen ungerechtfertigt beleidigen, dann fällt die Reaktion der Gemeinschaft sehr hart aus. Alle versammeln sich und verbrennen das Haus des Beleidigers."
    Die harten Sitten würden allerdings dadurch gemildert, dass Fremde hier über totale Meinungs- und Bewegungsfreiheit verfügten.

    "Ein Gast kann praktisch niemanden entehren, im Gegenteil, er hat Anspruch auf die höchste Achtung. Unser Verhaltenskodex gilt nur für uns; alle anderen haben nichts damit zu tun."
    Was wiederum verstehen lässt, weshalb hier so viele Gäste Unterschlupf finden, die anderswo mit Strafverfolgung rechnen müssten.