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Im Hundeblick

Monika Marons neuer Roman "Ach Glück" knüpft an ihren Roman "Endmoränen" an, an dessen Ende die Hauptfigur Johanna Märtin einen ausgesetzten Hund zu sich nimmt. Das Tier mit dem ungewöhnlichen Namen Bredow wird nun zum Katalysator des schwelenden Konfliktes zwischen Johanna und ihrem Mann Achim.

Von Wolfgang Schneider | 12.08.2007
    Monika Marons letzter Roman "Endmoränen", ein Buch der Altersdepression mit Mitte fünfzig, hatte ein offenes Ende und einen verheißungsvollen Schlusssatz: "Ein wunderlicher Anfang, dachte ich." Johanna Märtin, die Hauptfigur dieses sehr gelungenen Buches, war sich wie eine existenzielle Endmoräne vorgekommen, als Mensch, der seinen eigenen Lebensentwurf überlebt hat. Ganz am Ende, auf einer Autobahnfahrt nach Berlin, stieß ihr jedoch etwas Neues, Unerwartetes zu. Nämlich ein Hund, ausgesetzt an einer Raststelle, festgebunden an einem Mülleimer, schwarz und erbärmlich im Regen stehend. Johanna erbarmte sich und nahm das Tier mit. Unverhofft auf den Hund gekommen - und gerade dadurch vielleicht etwas weniger auf den Hund gekommen als zuvor: Das war der kleine Hoffnungsschimmer am Ende des Buches.

    Tatsächlich hat sich die Episode als Anfang eines neuen Romans erwiesen. "Ach Glück" schreibt das Johanna-Leben im Zeichen des Hundes fort. Auf den eher ungewöhnlichen Namen Bredow hört das Tier, und es wird zum Katalysator des schwelenden Konfliktes zwischen Johanna und ihrem Mann Achim, der sich in den Kapillargefäßen der Kleist-Forschung eingerichtet hat, ein "moderner Kentaur", wie es an einer Stelle böse heißt: "halb Mann, halb Schreibtisch". Achim firmiert zunächst bloß als Rückenmensch: das heißt als Mann, von dem Johanna immer nur den Rücken sieht, weil er am Schreibtisch über seinen Studien sitzt. Der Hund ist für Achim ein Störfaktor:

    " Aber eigentlich, dachte er, eigentlich hat alles mit dem Hund angefangen. - Aber woher hätte er damals wissen sollen, dass Johanna ihm den Krieg erklärte, einen stillen Krieg... Er wollte den Hund nicht, aber er hatte nichts gegen ihn unternommen. Er hatte ihn nicht vergiftet, nicht geschlagen oder getreten. Er hatte ihn geduldet, sogar gefüttert und durch die Straßen geführt, wenn Johanna darum bat. Und wenn er ihm eins seiner zerfetzten und eingespeichelten Spielzeuge aufs Knie legte, hat er es ihm in eine Zimmerecke geworfen. Dem Hund war es gleichgültig, ob er es gern tat oder angewidert war. Nein, nicht der Hund, Johanna war gekränkt, wenn er seinen Ekel vor den vollgesabberten Gummibällen nicht ausreichend verbarg und nicht voller Entzücken zusah, wie der Hund seine Jagdgelüste dem Parkett einschrammte." "

    Wir lesen den Roman einer Ehekrise, die aus der Latenzphase ins manifeste Stadium tritt - im siebenundzwanzigsten Jahr. Freudlosigkeit hat sich wie Mehltau über den Alltag des Berliner Paares gelegt. "Ach Glück" sollte allerdings "keine Dreiecksgeschichte mit Hund" werden, erfährt man in Marons Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel "Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche". Hier berichtet sie von ihrer heiklen Arbeit an dem Roman, von scheiternden Anläufen und trotziger Rückkehr zum Stoff, der sie nicht loslässt.

    Die Autorin legt es also nicht darauf an, mit den bekennenden Hundebesitzern unter den Großschriftstellern zu konkurrieren und ein einfühlsames Tier-Porträt vorzulegen. Ihr geht es um die Wirkung Bredows auf Johanna. Nicht in den Hund, sondern in die Hundebesitzerin fühlt sich der Roman subtil ein. Und Bredow schafft etwas Wunderbares. Die Unzufriedenheit und Misslaunigkeit fällt ab von Johanna:

    "Dass sie für ein Wesen auf dieser Erde das Paradies sein konnte, dass allein ihre Anwesenheit genügte, um hemmungslose Freude zu entfachen, weckte in ihr ein Gefühl, dass sie schon lange nur noch aus der Erinnerung kannte, eine verwirrende Erregung, schmerzhaft und erhaben... Sie war froh an sich selbst, wenn sie an Bredow dachte, so wie sie sich vor dreißig Jahren besser, schöner und klüger gefühlt hatte, als Achim und sie sich gefunden hatten. Das meinen die Leute wohl, wenn sie sagen, jemand sei auf den Hund gekommen, dachte sie, wenn nur noch ein Hund sich über deine Liebe freut."

    Der Leser der "Endmoränen" freut sich über die Wiederkehr bekannter Orte und Figuren: da ist Basekow, Johannas dörflicher Rückzugsort, dessen Name einerseits sehr märkisch, andererseits fast wie eine Krankheit klingt. Es gibt ein Wiedersehen mit Johannas kluger Journalisten-Freundin Elli, die sich nach wie vor außerstande sieht, das Flair erfolgreicher Jungakademiker zu ertragen und bei jeder Gelegenheit mit evolutionsbiologischen Ad-hoc-Erklärungen aufwartet. Eine vertraute Figur ist auch der russische Galerist Igor, optisch ein etwas arrogant wirkender Wiedergänger Majakowskis, der schon in den "Endmoränen" ein Loblied auf die reife deutsche Frau als ideale Ergänzung des "östlichen Barbaren" gesungen hat und überhaupt zu starken Worten neigt. Man müsse im eigenen Leben nur dafür sorgen, dass es jederzeit genügend Anfänge gebe, lautet eine seiner Maximen, mit denen er Johanna, die nun in seiner Galerie aushilft, irritiert und fasziniert - und womit er vor allem einen Kontrast bildet zum resignativ gestimmten Kleistforscher zuhause, der nun das in der Literaturgeschichte relevante Motiv der Eifersucht persönlich kennen lernt:

    "Hatte er wirklich gesehen, dass Igor seinen Arm um Johannas Schulter legte? Er hatte seine Brille nicht auf, vielleicht hatte Igor sich mit dem Arm auch nur gegen den Türrahmen gestützt. Was aber, gesetzt den Fall, Igor hatte seinen Arm wirklich um Johanna gelegt? Er legte seinen Arm auch manchmal um die Schulter einer Frau, freundschaftlich oder sogar als Zitat eines früheren Begehrens. "

    " Ungeachtet dessen, dass Johanna in ihrem Temperament eher ein Käthchen von Heilbronn als eine Penthesilea und somit die Gefahr, sie könnte ihm die Ehe um einer neuen Leidenschaft willen eines Tages einfach aufkündigen, eher unwahrscheinlich war, ungeachtet dessen hielt er seit einigen Jahren die Möglichkeit, ein anderer Mann könnte in ihr die Verkörperung seiner Sehnsüchte erkennen, für ziemlich gering. Nicht weil sie besonders faltig oder unförmig geworden wäre, im Gegenteil, sie war schlank und wirkte, gemessen an ihrem Alter, fast noch jung. Aber er glaubte nicht, dass Johanna, sähe er sie jetzt zum ersten Mal, ein erotisches Verlangen in ihm erregt hätte. Und wer, außer ihm, konnte in ihr noch das Mädchen in der Faschingsverkleidung erkennen? Offenbar der Russe, der seinen Arm um sie gelegt hatte und dabei ihren Körper jugendlich biegsam erscheinen ließ..."

    Wäre da nicht der Hund - Johanna erschiene in "Ach Glück" zunächst noch ratloser als in "Endmoränen". Ihre Biographie über Wilhelmine Enke, die einzige preußische Mätresse von Rang, ist abgeschlossen, neue sinnvolle Arbeit nicht in Sicht. Aus den eingefahrenen Lebensspuren noch einmal ausbrechen - das ist nun das Verlangen, das Johanna zunehmend beherrscht. Im Roman findet es bald exemplarische Leitfiguren. Hannes Strahl zum Beispiel. 33 Jahre hat er in New York gelebt, um dann sein Glück im hintersten Oderbruch zu finden. Ein Mensch, der einem unkalkulierbaren inneren Impuls folgte, als er von heute auf morgen sein Leben änderte.

    Und dann ist da Natalia Timofejewna, mit der Johanna durch Igor vertraut wird: eine alte und immer noch quicklebendige Dame, die ein Leben geführt hat, an dem Johanna nun Maß nimmt: wilde Jahre in Paris und in den Künstlerkreisen um Max Ernst, Flucht vor den Nazis und Exil in Mexiko, wo Natalia neuerdings wieder lebt. Denn sie hat erfahren, dass ihre schon verschollen und verstorben geglaubte Jugendfreundin, die sagenhafte Schriftstellerin und Malerin Leonora Carrington, dort wiederaufgetaucht sei. So ist sie selbst kurzentschlossen nach Mexiko aufgebrochen, um Leonora zu suchen.

    Wichtig auch, dass diese Natalia, eine geborene Fürstin Myschkina, einen guten Teil ihres Lebens in einer "offensichtlichen Mesalliance" verbracht hat - mit einem ostdeutschen Schlosser, der sie aus Mexiko in die DDR als Ehefrau heimführte. Fünfzig Jahre "eine Fremde im eigenen Leben", lautet Johannes vielsagende Formel dafür. Erst im hohen Alter wurde aus der gut im Fleisch stehenden Proletariersfrau wieder die schlanke Aristokratin mit künstlerischen Ambitionen. Das will sagen: die von Igor beschworenen Anfänge sind in jedem Lebensalter möglich.

    Natalia und die ominöse Leonora verabreichen Johanna im Geiste das Gegengift zur Resignation. Leonora Carrington, dieses wildes Boheme-Geschöpf, das sich eines Abends in einem der elegantesten Pariser Restaurants die Schuhe auszog, um ihre Füße anmutig mit Senf zu bestreichen, diese 1917 geborene Surrealistin und Feministin der ersten Stunde, diese Ungebändigte, von der es heißt, sie sei "immer noch sehr schön und hätte immer noch ihre wilden schwarzen Haare" - sie ist bald auch für Johanna ein Sehnsuchtsbild des Ganz Anderen.

    In den "Endmoränen" war Johanna lebensherbstlich gestimmt - sie war froh, wenn die Tage kälter und kürzer wurden. Und jetzt: Mexiko. "Ein überwältigendes Land. Wer da war, sieht die Welt hinterher anders", meint Igor an einer Stelle. Die Briefe von Natalia Timofejwna bringen Johanna auf den Geschmack, es sind Lockrufe des Lebens: Mexiko City, die gigantische, chaotische Metropole, mit deren Ausbreitung kein Stadtplan Schritt hält, eine Stadt der Jugend und der elementaren Lebensfreude, aller Armut zum Trotz. Natalia schreibt in Ihrem Einladungsbrief an Johanna:

    "Ich hatte schon fast vergessen, wie sich, von hier aus gesehen, alles verändert, die Dinge und die Menschen. Aber nach wenigen Wochen, ach, schon nach Tagen, erschien mir die Welt in einem anderen Licht. Gehen Sie über den Markt von Xochimilko mit den unzähligen kleinen Garküchen und den Ständen mit grünen, roten und schokoladenfarbenen Pyramiden aus Gewürzpulver, mit leuchtenden Früchten und dampfendem Fleisch; oder gehen Sie am Sonntag durch den Chapultepec-Park, wo die Großfamilien unter den Bäumen ihr Picknick ausbreiten und das Geschrei der Kinder und Verkäufer schrill wie die Farben der Spielsachen, Süßigkeiten und Getränke die Sinne bestürmt, und nach einer Weile werden Sie lachen und sich fragen warum. Marianna hat mir von ihren deutschen Freunden erzählt, die vor zehn Jahren ihre neunzigjährige Mutter zum Sterben aus Berlin nach Mexiko geholt haben und nun ihren hundertsten Geburtstag vorbereiten. Und obwohl alle Welt behauptet, dass Klima in Mexiko City sei zum Ersticken, atme ich hier so leicht wie schon lange nicht mehr, als hätte man der Luft atomisiertes Leben beigemischt."

    Eine Frau packt den Koffer. Ihr Mann steht daneben und spürt "diffuses Unbehagen". Auf der ersten Seite des Romans ist Johannas Flugzeug bereits in der Luft; auf der letzten Seite ist sie gerade gut gelandet in Mexiko-City und sieht der Begrüßung durch Natalia entgegen. Das ist der äußere Rahmen der Handlung. Der Flug ist vor allem ein Gedankenflug: Reflexion, Leben im Rückblick, Erinnerung. Im Wechsel mit diesem Johanna-Strang des Romans wird vom parallelen Tagesablauf Achims in Berlin erzählt. Wider Willen hat er Johanna zum Flughafen gebracht - und wir erleben nun einen Mann, der sich bereits ziemlich verlassen vorkommt. Er frühstückt im Café, mischt sich unter Menschen, aber die "frühlingsbesoffene Jugend" löst misanthropische Anfälle bei ihm aus, vor allem, weil er sich dazwischen wie ein "kreislaufschwacher Greis" vorkommt. So überlegt er kurz, ob er nicht dem Kleistgrab am Wannsee einen Besuch abstatten sollte. Und immer schweifen seine Gedanken zu Johanna und ihrem unerhörten Aufbruch:

    "Aber Johanna hatte es vorgezogen, ihr Glück in Mexiko zu suchen. Das hatte er gestern zu ihr gesagt, vielleicht fände sie ja in Mexiko ihr Glück, hatte er gesagt, nur so dahin, nicht weil er daran glaubte, noch weniger, weil er es ihr wünschte, sondern vor allem, weil er ihr zu verstehen geben wollte, wie lächerlich es war, wenn eine Frau von Mitte fünfzig auszog, um am anderen Ende der Welt ihr Glück zu suchen. Ach Glück, hatte sie nur gesagt, eigentlich nicht gesagt, eher geseufzt, versetzt mit einem kleinen harten Lachen, ach Glück, (...) als sei er schuld, dass ihr ein so kostbares Wort bedeutungslos geworden war."

    In den Erinnerungen Johannas wird Achim förmlich dekonstruiert. Seine zunehmenden Verschrobenheiten werden präzise vors Auge des Lesers gerückt:

    " Achim belegte sein Brot sorgfältig mit Schinken, schnitt noch von einer zweiten Schinkenscheibe kleine Stücke ab, bis sein Brot lückenlos abgedeckt war, und teilte es dann mit einem scharfen Messer in gleichmäßige Quadrate. Sie wusste nicht mehr, wann Achim begonnen hatte, sich diese mundgerechten Häppchen zurechtzuschneiden. Sie sah nur, dass sie von Jahr zu Jahr kleiner wurden. Äpfel teilte er nicht in Viertel oder Achtel, sondern in die höchstmögliche Anzahl hauchdünner Scheiben. Mit dem Alter neige er eben zum Minimalismus, sagte Achim. Johanna vermutete hinter Achims Zerstückelungswut eher eine Berufskrankheit. Schließlich verfuhr er mit dem Prinzen von Homburg oder Penthesilea nicht anders als mit dem Schinkenbrot und dem Apfel." "

    Interessant wird dieses Beziehungsdrama allerdings gerade dadurch, dass es die Möglichkeiten der doppelten Perspektive ausschöpft. Achims Sichtweise kommt zu ihrem Recht in jenen Partien des Romans, die er selbst als durchaus sympathische Zentralfigur bestreitet. Da ist schon einige Ironie in der Konstruktion zu spüren, wenn wir den professionellen Zerkleinerer gleich im nächsten Kapitel ganz anders kennen lernen. Da ist er selbst wieder am Drücker der Erzählung und erinnert eine Sternstunde seines Lebens, gerade sechs Jahre zurückliegend: eine große, überwältigende Amour fou mit einer deutlich jüngeren Journalistin; Monate des Exzesses, in denen für Achim alles andere, die Wissenschaft und auch die Ehe mit Johanna, weit in den Hintergrund rückte. Als ihm die junge Frau so schnell wieder entschwand wie sie zuvor in sein Leben getreten war, fand der Literaturwissenschaftler immerhin eine schöne Entschuldigung, mit der er wieder bei Johanna anklopfte:

    "Mir ist widerfahren, wovon die Bücher dieser Welt randvoll sind. Und hoffe nun, du könntest großmütig genug sein und mich nicht endgültig zum Teufel jagen."

    "Es geht um Liebe", lautet eine Formel des Buches. Die Angst etwas zu versäumen, die Liebe zu verpassen, ist ein Leitmotiv im Werk Monika Marons, spätestens seit dem Roman "Animal triste". Immer wieder hat sie sich mit dem stagnierenden, grauen, bleiernen Leben beschäftigt. Das war anfangs das Leben in der DDR, wie sie es in ihren Büchern vor 1989 und dann in "Stille Zeile sechs" geschildert hat. Maron begrüßte die Wende entschiedener als andere Ost-Autoren. Enthusiastisch sprach sie vom "Wandel einer deprimierten, klagenden Masse von Menschen in ein entschlossenes Volk". Die Euphorie hielt allerdings nicht lange. Bald kritisierte Maron die Rückkehr in alte Verhaltensmuster - das verbreitete Gefühl, "Opfer" des Westens zu sein. Vor diesem Hintergrund einer kämpferischen, nie auf Ostalgie und Larmoyanz gestimmten Haltung, die für Marons Kommentare zum Zeitgeschehen kennzeichnend war, wirkte Johannas Depression und Klagelust in den "Endmoränen" - auch wenn sie mit einer gehörigen Portion Selbstironie einherging - sehr beunruhigend. Monika Maron schien nun, zu Beginn des neuen Jahrtausends und ganz ohne DDR, wiederum im Grauen und Bleiernen angekommen.

    "Ich habe das unzeitgemäße Bedürfnis, etwas Wichtiges zu tun" - mit dieser Haltung fühlt sich Johanna in der Beliebigkeit des westlichen Kulturbetriebs fehl am Platz. Früher, vor 1989, hätte es genügt, "einfach nur gegen den Staat zu sein", um sich selbst wichtig zu werden. Damals spezialisierte sich Johanna auf das Schreiben von Biographien, in denen sie für ein paar Eingeweihte politisch Unbotmäßiges versteckte. Ist auch die Erinnerung an die belebenden konspirativen Energien von einst eine Form pervertierter DDR-Nostalgie?

    Idiosynkratisch war schon zur DDR-Zeit Marons Reizbarkeit gegenüber Sprach- und Denkregelungen. Diese Empfindlichkeit richtet sich nun auf Floskeln der Vergangenheits-Entsorgung und Gemeinplätze des Ost-West-Verhältnisses. Allein das Wort "ehemalig" provoziert bei Achim einen Schub der Verärgerung:

    "Er ging weiter in Richtung der Linden, wo auf der anderen Straßenseite die abgetakelte Zwingburg der proletarischen Diktatur wie zur Abschreckung herumstand. ‚Asbestsanierung im ehemaligen Palast der Republik' stand auf dem blauen Zaun, der die Baustelle zur Straße hin begrenzte. Ehemaliger Palast, dachte Achim, was für ein Unfug. Ein Palast ist ein Palast, der zwar ein zerstörter, verfallener, demontierter oder ausgebrannter Palast sein kann, aber kein ehemaliger. Dieses Ding war zwar nie ein Palast, sondern nur der Palast der Republik, aber das ist er immer noch... Jetzt ist er der fast schon skelettierte, aber keinesfalls der ehemalige Palast der Republik. Nur die sekundären Eigenschaften einer Sache unterliegen der Ehemaligkeit, dachte Achim, nicht aber das Wesen. Er zum Beispiel, Achim Märtin, war zwar ein ehemaliger Mitarbeiter seines Instituts, aber niemand würde nach seinem Tod, wenn dann überhaupt noch jemand von ihm sprach, vom ehemaligen Achim Märtin sprechen, weil es sein Wesen war, Achim Märtin zu sein..."

    Monika Maron kennt ihre schriftstellerischen Grenzen und Qualitäten. Sie strebt keinen Jahrhundertroman an, sondern legt alle paar Jahre einen dieser sorgfältig gearbeiteten Zweihundertseiter vor, ohne epischen Wildwuchs und fabulierenden Überschuss, stattdessen geschrieben in dichter, lakonischer Prosa. Wie "Endmoränen" ist auch "Ach Glück" unterhaltsam ohne abenteuerliche Handlung, sehr privat und doch zugleich auch eine meinungsfreudige Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tendenzen. Und es ist ein Buch, in dem immer wieder der Humor aufblitzt, etwa wenn wir über den Flug in 10.000 Meter Höhe lesen:

    "Plötzlich wurden sie durchgeschüttelt, als wäre das Flugzeug auf die alte Dorfstraße zwischen Basekow und Mühlenthal geraten."

    Allerdings hat das Buch auch schwächere Passagen. Dazu gehört die bemüht satirische Darstellung hauptstädtischer Germanistenkreise. Am Abend ist Achim eingeladen bei Professor Kreihuber, der immer noch in Bamberg wirken würde, anstatt einem renommierten Institut im Osten Berlins vorzustehen, hätte sich nicht die deutsche Vereinigung als "Dorado für zweit- und drittrangige Wissenschaftler" erwiesen. Nun versucht Kreihuber, den Kollegen im Osten missionarisch die bürgerliche Lebensart beizubringen. Achims Aversion gegen den Chef ist seinerseits imprägniert vom bisweilen ja durchaus berechtigten Ost-West-Ressentiment:

    "Manchmal dachte er, dass es sein Würde weniger verletzt hatte, als er sich noch einem ganzen Staat mit seiner Armee, Polizei und seinem Geheimdienst unterwerfen musste und nicht einem mediokren Professor, der, wären sie beide zu gleichen Bedingungen gestartet, nie und nimmer sein Chef geworden wäre. Einem monströsen Staat zu unterliegen, gegen den auch Giganten nicht ankamen, war keine Schande, aber so einem Bamberger Hörnchen wie Kreihuber? Er schlug mit einer Hand vergnügt aufs Lenkrad und lachte über den gelungenen Vergleich."

    Die Schilderung des gutbürgerlichen Abendessens bei Kreihubers schleppt sich dann aber mit mäßigem Witz dahin. Die Wissenschaftler ziehen über eine sichtlich von Marcel Reich-Ranicki inspirierte Kritiker-Figur namens Oskar Wolke her. In diesen Passagen hat man den Eindruck, ein Buch der neunziger Jahre zu lesen.

    Am Ende, wenn sich die Ehepartner räumlich am weitesten voneinander entfernt haben, scheinen sie sich in ihren Gedanken wieder anzunähern. Plötzlich fragt sich Johanna, ob ihr Ausbruchsversuch nicht eine "kindische Flucht" sei. Was sollen ein paar Wochen Mexiko schon an einer verfahrenen Lebenssituation und der unabänderlichen Tatsache des Altwerdens ändern? Ob dass bloß Anwandlungen sind - wir erfahren es nicht. Alles bleibt offen. Mexiko bleibt ein Sehnsuchtsort, eine Projektionsfläche, ein Chimäre.

    Während das offene Ende in "Endmoränen" ein geglücktes Kunstmittel war, erscheint es hier eher als Verlegenheit. Zu sehr zielt der ganze Roman auf das Kommende ab, auf diesen weiteren "wunderlichen Anfang", als dass es nun einfach ausgespart bleiben dürfte. Sicher, es ist ein weiterer Roman, der sich hier nun anlagern müsste, und vielleicht wird Monika Maron ihn ja schreiben und das Ganze zur Trilogie abrunden.

    So hängt "Ach Glück" jedenfalls merkwürdig in der Luft. Wie schrieb doch Maron selbst 1989 in einem journalistischen Beitrag: "Träume, die nie an der Realität überprüft werden können, führen ein Eigenleben. Diffus und verlockend schimmern sie hinter jedem Verdruss als Ausweg und Verheißung." Das war 1989 auf die Situation des Eingesperrtseins in DDR gemünzt, es trifft aber auch auf Johannas ungeprüft bleibenden Traum von Mexiko zu.

    Monika Maron: Ach Glück. Roman. S. Fischer. 218 S., 18,90 Euro