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Im Kampf gegen gedankenfaule Kompromisse

Er baute das "Sturmgeschütz der Aufklärung", die "Encyclopédie" - Denis Diderot war einer der großen Freigeister des 18. Jahrhunderts. Gerade deshalb enthielt er seinen Zeitgenossen einige Texte, die teils erst 150 Jahre später gedruckt werden konnten.

Von Jochen Stöckmann | 05.10.2013
    Wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen, hätte Denis Diderot im nordfranzösischen Langres das Amt seines Onkels als Domherr übernehmen sollen. Aber der Jesuitenzögling, geboren am 5. Oktober 1713, kehrte dem Provinzstädtchen schon als 16-Jähriger den Rücken. In Paris schmiedete der junge Mann nach einem abgebrochenen Theologiestudium große Pläne, er hatte kühne Gedanken, aber kaum Geld. Und Diderot – den wir heute als Dramatiker, Kunstkritiker, Romancier oder auch Satiriker kennen – konnte als Autor nur spärliche Einnahmen verbuchen. Pierre Bertaux, Spezialist für die Epoche der Aufklärung:

    "Ich möchte daran erinnern, dass eigentlich Diderot kein Schriftsteller, kein Literat ist. Zeit seines Lebens hat er wenig veröffentlicht – und nicht das Beste. Er schrieb für seine Freunde, nicht für den Buchhändler. Und sein Hauptwerk ist eben die encyclopédie – das heißt: ein wissenschaftliches Werk."

    Das drucktechnisch aufwendige Lexikon der encyclopédie sollte alles Wissen seiner Zeit zusammenfassen. Es war das Sturmgeschütz der Aufklärung. Von 1751 bis 1765 verfasste Diderot als Herausgeber etwa die Hälfte der Beiträge. Fachkundig schrieb er über Kolonialhandel, das Handwerk der Instrumentenbauer oder Musik, die Diderot – ganz Philosoph – als "le plus violent de tous les arts" einstufte, als die "heftigste" aller Künste.

    Alle Register zog Diderot im Kampf gegen gefällige Harmonien und gedankenfaule Kompromisse, mit denen höfische Hierarchien und feudale Abhängigkeiten bemäntelt wurden. In Büchern und auf der Bühne, mit dem Roman "Jacques der Fatalist und sein Herr" oder der Komödie "Ist er gut, ist er böse?" entfaltete der Liebhaber gewitzter Dialoge seine Argumente, subversiv, aus dem feinen Geist der Ironie heraus. Zum 200. Todestag des 1784 gestorbenen Denis Diderot bekannte der Theaterwissenschaftler Ivan Nagel:

    "Für mich sind die größten, großartigsten Werke von Diderot tatsächlich die Dialoge. Wo ja eine Dialektik zwischen einer dogmatisch gefestigten, tugendhaften Meinung und der Auflösung dieser Meinung, der ständigen Möglichkeit, dass eine Meinung ins Gegenteil umschlägt, dargestellt ist."

    Nicht von hoher Warte herab ein endgültiges Urteil zu fällen, sondern immer erst einmal zu fragen – darin zeigte sich das neugierig tastende Denken eines politisch engagierten Intellektuellen, der allerdings von einer grundlegenden Devise nie abrücken mochte:

    "Das Glück des Einzelnen ist der Endzweck der Gesellschaft."

    Als früh verheirateter Familienvater, der aus seinen Amouren keinen Hehl machte, ließ Diderot sich von keinem Korsett einschnüren, weder moralisch noch intellektuell. Die Unverfrorenheit seiner Kunstkritiken setzte Maßstäbe für eine neue Ästhetik. Mit ebenso provozierender wie weltzugewandter Fantasie eröffnete er – dem die Académie française einen Sitz verweigerte – den Naturforschern neue Erkenntnisse. Deutlich wird das in Essays, die Hans Magnus Enzensberger auf Deutsch herausgegeben hat:

    "Er war darauf angewiesen, in einer Art von Gedankenflug sich hinwegzusetzen über den Status quo der Wissenschaften. Auch mit einer Art von Rücksichtslosigkeit gegenüber der etablierten Methode. Und gerade dort, wo er am wenigsten methodisch war, ist er am weitesten gekommen."

    Mit Experimenten und Gedankenspielen war Diderot seiner Zeit voraus. Literarisches Neuland betrat er 1762 auch mit "Rameaus Neffe". Er selbst hat diesen zeitkritischen "philosophischen Dialog" allerdings nie veröffentlicht. Erst Jahrzehnte später wurde das Manuskript im Nachlass entdeckt, neben anderen Schriften, die der epochemachende Freigeist vor der strengen Zensur eines absolutistischen Regimes verborgen hatte:

    "Er musste sehr auf der Hut sein. Wir wissen, dass er einmal - ich glaube: acht oder zehn Wochen - im Gefängnis saß. Und er hat also sich sehr genau überlegt, welche von seinen Texten er dem Druck anvertrauen soll. Die Tatsache, dass wichtige Texte von Diderot erst hundert Jahre oder hundertfünfzig Jahre nach seinem Tod gedruckt worden sind, finde ich ganz atemberaubend – und dass die uns heute nun gar nicht langweilig erscheinen!"