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Im Kontakt zwischen Lebenden und Toten

Kaum ein literarisches Werk der gegenwärtigen Weltliteratur scheint so eng mit einem politischen Themenbereich verbunden wie das der 85jährigen Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Die weiße Südafrikanerin, Tochter einer wohlhabenden Oberschichtsfamilie, gilt bis heute, über das Ende des Apartheid-Regimes hinaus, als die international renommierteste Stimme des Gewissens, als unermüdliche Aktivistin im Kampf gegen Rassendiskriminierung am afrikanischen Kap.

Von Ursula März | 10.09.2008
    Keines ihrer Bücher, ihrer Romane und zahlreichen Erzählungen, ist denkbar ohne den historischen Konflikt zwischen weiß und schwarz, zwischen Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht, in den Gordimer hinein geboren wurde. Ihre Literatur ist seit je parteilich und moralisch, positioniert auf der Seite der Unterdrückten. Auch in ihren neuesten Erzählband "Beethoven war ein Sechzehntel schwarz" spielen, der Titel deutet es unverkennbar an, politische Reflexionen hinein. In einer Geschichte rekapituliert die Ich-Erzählerin, die mit der Autorin identisch sein dürfte, einen Traum.

    Er macht das Unmögliche möglich: Die Wiederbegegnung mit Verstorbenen. In einem indischen Restaurant in New York sitzt die Erzählerin mit zwei Männern, die der Traum aus dem Jenseits ins Diesseits gezaubert hat, am Tisch. Sie tauschen, wie sie es immer taten, Meinungen zur Weltpolitik aus. Plötzlich nimmt eine vierte Person am Tisch Platz, eine nicht weniger berühmte, nicht weniger engagierte Schriftstellerin wie Nadine Gordimer selbst: Susan Sontag. Sofort diskutiert sie mit, sofort sind ihre weltpolitischen Analysen denen der anderen überlegen. Aber irgendjemand, fühlt die Träumende, fehlt bei diesem Treffen. Ein Mensch, auf den sie hier eigentlich gewartet hat, von dem sie hoffte, dass auch er sich auf eine Stippvisite unter die Lebenden mischt.

    Wer Nadine Gordimers 2003 auf deutsch veröffentlichten Erzählband "Beute" in Erinnerung hat, kann ahnen, wer dieser Ungenannte ist: Der im Jahr 2001 verstorbene Lebensgefährte Reinhold Cassirer. Der Verlust beschattet und beschäftigt Gordimers Schreiben seit mehreren Jahren. Das Thema, das ihre Texte seitdem umkreisen, ist der Tod und das Leben der Hinterbliebenen mit ihren Erinnerungen.

    In einer Geschichte des neuen Buches sucht eine Witwe einen Fotografen auf, von dem sie weiß, dass er mit ihrem verstorbenen Mann lange vor ihrer Ehe eine kurze Affäre hatte; die einzige homosexuelle Episode in seinem Leben. Das zumindest hat er ihr immer erzählt und sie hat ihm rückhaltlos vertraut. Aber was ist das Vertrauen wert, wenn der Mensch, auf den es sich bezieht, gar nicht mehr da ist? In einer anderen Geschichte nähert sich eine junge Frau einem bekannten Schauspieler an, von dem sie ahnt, dass er ihr biologischer Vater ist. Ihr seelischer Vater ist ein anderer. Der einzige Mensch, der ihr Auskunft darüber geben könnte, mit wessen Genen sie auf die Welt kam, ihre Mutter, ist gestorben. Der Bogen, der die skizzenhaften, handwerklich bisweilen etwas flüchtigen Short-Stories des neuen Erzählbandes von Nadine Gordimer zusammenhält, ist der Kontakt zwischen Lebenden und Toten, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, dem die Atheistin Gordimer die Gestalt unendlicher leerer Zeit gibt.

    Worüber auch immer sie schreibt: Ob über Rassenverhältnisse oder über Trauerarbeit - Gordimers literarisches Denken ist geprägt vom Muster des Dualismus. Früher betraf er die politische Spannung zwischen Weißen und Schwarzen. Heute die Spannung zwischen Hinterbliebenen und Verstorbenen. An Nadine Gordimers nüchternem, bisweilen ins leicht Bittere, Ressentimenthafte gehendem Erzählton hat sich nichts geändert.

    Nadine Gordimer: "Beethoven war ein Sechzehntel schwarz". Erzählungen.
    Berlin Verlag, 2008. Aus dem Englischen von Malte Friedrich. 176 Seiten. 19.90 Euro.