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Im Minenfeld der Gegenwartsdiagnostik

Noch in den Neunzigern waren Medientheorien ein ungemein beliebtes intellektuelles Spielfeld. Da tummelten sich Technikfreaks ebenso wie Kulturpessimisten und prognostizierten munter alles mögliche: Von der angeblich unmittelbar bevorstehenden Freisetzung grenzenloser Produktivkräfte durch die New Economy bis zum Verschwinden von Raum und Zeit hinter den graphischen Benutzeroberflächen der weltweit vernetzten Computer. Inzwischen hat sich Ernüchterung breit gemacht. Nach dem jähen Ende des wirtschaftlichen Hypes um die Informationstechnologien und der Rückkehr ganz archaischer Realität in Form des Krieges geht es wesentlich unspektakulärer zu.

Von Stefan Fuchs | 03.03.2005
    Zu unübersichtlich und mehrdeutig sind die kulturellen Prozesse, die durch Digitalisierung und Vernetzung in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen angestoßen werden.

    Ja der Medienbegriff selbst dünkt vielen inzwischen als eine übereilt zusammengezimmerte Konstruktion, die zur Erklärung langwelliger geschichtlicher Entwicklungen - von Prognosen ganz zu schweigen - nur bedingt einsatzfähig ist. Zu den Skeptikern zählt auch der Berliner Kommunikationswissenschaftler und Kunstkritiker Stefan Heidenreich, der sich jetzt in dieses notorische Minenfeld der Gegenwartsdiagnostik gewagt hat. "Flipflop - Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts" lautet der anspruchsvolle Titel seines Buches.

    Die Medientechnologien, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden und die Datenströme des 20. lenkten, zeichnen sich durch eine feste Zuordnung von Technologien zu Sinnen aus. Die Photographie und der frühe Film deckten das Spektrum des Auges, die Schallplatte das des Ohrs ab. Der Tonfilm verwirklichte erstmals eine technische Kopplung zwischen den akustischen und optischen Sinnen. In dem universalen Medium des Computers gehen schließlich alle vorher unterschiedenen Sinne und Medien in einem einheitlichen digitalen Prozess und Code auf. Die Geschichte der Technologien geht damit nicht zu Ende, aber unter Umständen die der Medien. Denn von nun an gibt es nur noch ein Medium, das sich an der Oberfläche in eine Vielzahl von Geräten auflöst, die sich teils funktionell, teils als verschiedene Schnittstellen voneinander unterscheiden.

    Als gleichsam blinden historischen Prozess beschreibt Stefan Heidenreich die technologische Entwicklung von Photographie, Radio, Schallplatte und Film, die schließlich am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Digitalisierung in eine Art Universaltechnologie mündet. In dieser überzeugend vorgetragenen Technikgeschichte liegt zweifellos die Stärke seines Buches. Erfinderbiographien und erste Anwendungen, - so Heidenreichs These -, sind rein zufällig. Weder Daguerres, noch Edison, noch die Väter der Computertechnologie waren sich auch nur annähernd der tatsächlichen Tragweite ihrer Erfindungen bewusst. Mehr Bastler als Ingenieure oder Wissenschaftler hatten sie völlig falsche Vorstellungen vom wirtschaftlichen Potential oder den kulturellen Folgewirkungen. Mehr noch, viele der bahnbrechenden Entdeckungen werden von verschiedenen Pionieren mehr oder weniger gleichzeitig gemacht. Schritt für Schritt scheint der technologische Eingriff in menschliche Wahrnehmung, wie von geheimnisvollen anonymen Kräften angestoßen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fahrt aufzunehmen. Dieser Befund allerdings verleitet Heidenreich dazu, Technik ganz aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang herauszubrechen. Als bewegten sich ausgerechnet technische Artefakte im Niemandsland kultureller Neutralität.

    Wo immer es Techniken der Kommunikation gibt, wird kommuniziert. Technologien beginnen zwar als leere, aber sie füllen sich von selbst. Wo sie eine Bindung anbieten, entwickelt sich ein Datenstrom. Als eine Form von Überschuss entsteht Kultur in allen Datenströmen von selbst.

    Dass Verhältnis von Technik und Kultur als Zusammenspiel gleichgewichtiger Faktoren zu beschreiben, das hat sich der Autor vorgenommen. Was dabei herausgekommen ist, lässt das Technische als abstrakte, von gesellschaftlichen Bedingungen losgelöste Kraft erscheinen. Aber seit Sigfried Giedions "Herrschaft der Mechanisierung" wissen wir, wie sehr Erfindungen durch eine bestimmte Weltsicht bedingt werden. Die Protagonisten technologischer Entwicklungen mögen mit Blindheit geschlagen sein, der hinter all den individuellen Irrtümern verborgene geschichtliche Prozess visiert dennoch ein vom kollektiven Unterbewussten der Kultur bestimmtes Ziel an. Das auch von Heidenreich diagnostizierte Zusammenfließen der in Ton, Bild und Schrift aufgespalteten alten Medien im binären Kode der Rechner lässt die Richtung erahnen. Digitalisierung träumt von den künstlichen Welten der Virtualität, wie die romantische Kunst vom Gesamtkunstwerk. Das ganze kognitive Spektrum des Menschen soll mit einer universellen Technologie verfügbar und das heißt vor allem möglichst bruchlos reproduzierbar gemacht werden. In ihrer letzten Konsequenz sind Computer eben weniger Kommunikationsmaschinen als Instrumente zur Erzeugung von Ersatzwirklichkeit. Da die Schärfung der Wahrnehmung in den alten, nach Sparten getrennten Medien, Sprache, Bild, Musik von den schmerzhaften Beschränkungen, vom Ausschnitthaften, vom Selektiven ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit abhängt, müssen die Folgen wohl ebenso dramatisch wie unabsehbar sein. Dass Heidenreich hier das Bedürfnis verspürt abzuwiegeln, zeigt deutlich, wie tief die technokratische Delle schon ist, die seinen Kulturbegriff prägt. Begriffe aus der Computertechnologie wie "Datenstrom" und "Flipflopschalter" überwuchern seine Darstellung. Letztlich verbirgt sich dahinter ein kybernetisches Modell der Kulturgeschichte.

    Die Bezeichnung Flipflop benennt den Wechsel zwischen zwei Zuständen, aber das Bemerkenswerte an der Schaltung liegt gerade darin, dass dieser Wechsel nicht in einem festen Rhythmus vollzogen wird, sondern nur dann, wenn ein Impuls eintrifft. In einem übertragenen Sinn steht der Ablauf in der Schaltung für ein System, das von außen angestoßen wird und sich dann in einem Zustand stabilisiert, der so lange gespeichert wird, bis ein gegenteiliger Impuls ihn verändert. Das Flipflop kann als Bild für einen kulturellen Prozess betrachtet werden, der technische Impulse in Regeln überführt und sie aufrechterhält, bis neue Impulse sie brechen.

    Hinter der minimalistisch technophilen Begrifflichkeit verbirgt sich rückhaltlose Bejahung der zeitgenössischen Kulturindustrie. Nicht zufällig sind für Heidenreich die Geldströme neben den Datenströmen zentrale Steuerelemente im geschlossenen Regelkreis der Kultur. Der Autor hegt einen tiefen Groll gegen die ästhetische Moderne. Sie ist ihm "Staatskultur", die selbst mit ihren Tabubrüchen feudale Produktionsverhältnisse fortschreibe. Am Ende outet er sich als Kultur-Neoliberaler, der die zweifellos reale Krise der Gegenwartskunst auf deren gesellschaftliche Subventionierung zurückführen möchte. Nur die Rückkopplungseffekte des wirtschaftlichen Erfolgs kann das Anschwellen des kulturellen Datenstroms garantieren, - Heidenreichs Synonym für eine wirklich lebendige Kultur.

    Dem Unterschied zwischen einer ökonomisch und einer institutionell gebundenen Kultur entspricht der Gegensatz zwischen Bindung und Bedeutung. Bedeutung im Sinn eines Zeichenprozesses, bei dem ein Element zum Zeichen für etwas anderes wird, tritt in kulturellen Zusammenhängen bevorzugt dann auf, wenn Bindungen über lange Sicht stabil bleiben. Weil die Interpretationswissenschaften der Kultur auf die Dimension der Bedeutung fixiert sind, steht das einzelne Werk und dessen Interpretation im Vordergrund. Die technischen Kulturen mit ökonomischer Bindung finden in den Wissenschaften der Bedeutung kaum Beachtung, da sie vom sanktionierten Kanon der Hochkultur abweichen und nicht in der Logik einer feststellbaren und festgestellten Bedeutung operieren sondern im Vergleich und in der Menge konkurrierender Datenströme.

    Das ignoriert den Trend hin zur Kulturwissenschaft, der die Geisteswissenschaften seit geraumer Zeit beherrscht. Weitaus symptomatischer aber ist, dass Heidenreich mit allen Mitteln den Zeichencharakter kultureller Artefakte als etwas Abgelebtes, Altmodisches zu desavouieren sucht. Und das funktioniert nur, indem er ein lange überholtes Bild der Interpretationswissenschaften zeichnet. Wer redete denn ernsthaft von Bedeutung, die man als fester Kern unter der weichen Schale der Zeichen suchen müsse? Ist doch die unaufhebbare Spannung, der tiefer Bruch, das Überschießende zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem verbindliche Grundannahme der Kulturwissenschaften heute. Dagegen setzt Heidenreich mit dem Flipflop in den Datenströmen nur ein abstraktes Muster von Affirmation und Negation. Aber ohne den Gestus von Bedeutung gibt es keine Kultur. Am deutlichsten zeigt das die älteste aller Kulturtechniken, die Sprache. Sie kann nicht verstanden werden ohne den Schrei, den der Mensch einst als Ausdruck des Schreckens gegen die mythische Undurchdringlichkeit der Natur ausstieß. In dieser Perspektive erscheint Stefan Heinemanns Kulturmodell weniger postmodern denn posthuman.

    Stefan Heidenreich
    "Flipflop – Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts"
    Carl Hanser Verlag München
    221 Seiten, 17,90 €