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Im Spannungsfeld von Tradition und ihrer Überwindung

Die literarischen Werke Rolf Dieter Brinkmanns sind von Rigorosität und Wucht geprägt. Experimentierfreude zeigt sich auch in seiner Fotografie, in Filmen und Hörstücken. Über den Ursprung seiner künstlerischen Betätigung gibt nun ein Gedichtband Aufschluss.

Von Arne Rautenberg | 26.10.2010
    1960, im Alter von 20 Jahren, schickt Rolf Dieter Brinkmann, 40 Pfennig Rückporto beilegend, seine Gedichte an die Zeitschrift "Merkur". Erwartungsvoll gibt der in Vechta geborene Autor, der gerade eine Buchhändlerlehre in Essen absolviert, dem Anschreiben sein poetisches Credo bei: Er will in seinen Gedichten "jenseits einer manieristischen Artistik und automatischem Schreiben Wahrnehmungen sichtbar machen." Die Einsendung an den Merkur kommt zurück. Doch Brinkmann beschickt auch andere Adressen, und das nicht immer erfolglos. Ab 1960 gelingt es ihm, erste Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen.

    Immer wieder überarbeitet, verändert Brinkmann seine Gedichte, schafft Sammlungen, sortiert ein und um, denkt an Einzelveröffentlichungen. Eine Sammlung heißt "Don Quichotte auf dem Lande" und beinhaltet Gedichte aus den Jahren 1959 bis 61, eine andere von 1963 "Vorstellung meiner Hände". Beide Textkonvolute wurden, wie Brinkmanns Witwe Marleen Brinkmann im Nachwort betont, von ihrem Mann sorgfältig für einen Buchdruck vorbereitet, auf der Maschine abgetippt und teilweise nachträglich korrigiert. Bis auf zwei Texte, die Brinkmann in seine Sammlung "Le Chante du Monde" übernahm, ging keines der Gedichte je in ein Buch ein. Doch nun, knapp 50 Jahre später, liegen die insgesamt 59 Gedichte der beiden Sammlungen, von Marleen Brinkmann herausgegeben, erstmalig in Buchform vor.

    ich
    habe meine Sterne
    aus dem
    Blau
    des Fensters
    genommen
    und zur übrigen
    Habe gelegt: die Erinnerung
    an Wolken über
    einem See
    und einige
    Gedanken
    bei
    einer
    Seite Proust, wo
    er von der Liebe
    schreibt.


    Die Gedichte der Sammlung "Don Quichote auf dem Lande" sind zwar nicht gereimt, lassen aber dennoch deutliche Anklänge an den damals vorherrschenden poetischen Zeitgeist erahnen. Naturlyrik samt Griff in die symbolistische Grabbelkiste sind angesagt: hier Frühlingsgefühle, dort Herbstmelancholie. Und nicht umsonst fallen bunte Namen aus der Bildenden Kunst: Chagall, Cocteau, Paul Klee. Das von Rolf Dieter Brinkmann in seinen Gedichten entworfene Bildprogramm bestätigt so einen verträumten, märchenhaften, kindlich-naiven Ansatz: Kaum ein Gedicht kommt ohne Vögel aus, auch der Mond scheint gern, dazu agieren Katzen, Fische, Rosen, Augen; von Träumen ist die Rede und manch eine Zeile lässt sich von hübsch zusammengeklebten Worten wie Apfelblütenweiß, Schneewittchenstadt oder Mondschnee tragen. Einiges an sprachlichem Klingklang wird also geboten. Die "blattvergoldeten Worte traditioneller Poesie", von denen Günter Herburger im Zusammenhang mit Brinkmanns frühen Gedichten einmal sprach; hier findet man reichlich davon.

    Brinkmann selbst hat seinen frühen Texten später nur mehr Verachtung entgegen gebracht, nicht radikal genug, so seine Losung. Doch ein Aufbruch allemal: Denn wer Gedichte von Rolf Dieter Brinkmann kennt, der weiß, wie gern Brinkmann das Hehre ins Banale dreht, U und E vermischt, wie bewusst er rohe, unartifizielle Vokabeln, ja, provozierende Reizworte in seine Gedichte einflicht und die Gattung nutzt, um snapshotartig Augenblicke einzufrieren. Ein solcher Leser wird Spaß daran haben, erste Anzeichen der Brinkmannschen Poetik aus dessen lyrischen Aufbrüchen herauszulesen. Und man findet sie in fast jedem Text, etwa wenn mitten in einem atmosphärischen Venedig-Gedicht in Agfa-Color fotografiert wird oder wenn ein Gedicht provozierend einer bloßen Aufzählung gleicht, in welche die Popkultur erste Schatten hineinzuwerfen beginnt; bekennend heißt es in "Wovon ich lebe und woran ich sterbe":

    Der Flieder in Chagalls Bildern
    Die Vögel aus den Gedichten Jaques Préverts
    Die Sterne unter Cocteaus Namen
    Die Handschrift Paul Klees

    Die Fische in den Partituren
    Johann Sebastian Bachs
    Das schwarze Lachen im Blues
    Den Thelonius Monk spielt


    Wenn sich Johann Sebastian Bach und der Jazzer Thelonius Monk in einer Gedichtstrophe begegnen können, was zählen dann zeitliche Grenzen oder überhaupt Grenzen noch? Genau hier bricht sich ein den Gedichten innewohnendes Freiheitsmoment bahn. Bei all der aufkommenden Freiheit scheint es manchmal, als traue Brinkmann sich beim Beschwören des alten Märchentones selbst nicht recht über den Weg: "Dornröschen", heißt es in einem Gedicht, "wird nicht mehr erwachen/ auf Fotos um Neunzehnhundertsechzig."

    In der drei Jahre danach konzipierten, zweiten Sammlung des Bandes, die den Titel "Vorstellung meiner Hände" trägt, kommt ein morbider Zug in die Texte; Zerstörung Verwesung, Tod. Mitunter blitzt der später zu seinem Markenzeichen werdende rotzige Brinkmann-Sound auf. Auch das Vokabular verändert sich: Kot, Beton, die Farben des Ozons werden nun heraufbeschworen, in Telefongesprächen wird geschwiegen und manch ein Gedicht wie "Die Bombe in meinem Kopf" läuft plötzlich prophezeiend mit einer knalligen Pointe aus:

    sinnlos kriechen unsere Schatten hin
    sinnlos verkrüppeln Arme und Beine
    sinnlos schrumpft die Haut: aber
    die Bombe wird platzen
    sage ich, und ein
    Engel erscheint, er
    reißt alle Gartenzäune nieder
    zerschlägt die Türen
    und Fenster, er
    wird kommen
    als Fleischerhaken, der
    uns alle erlöst.


    Brinkmann hat seinen Céline gelesen, dessen schonungslose Tour de force mit dem Titel "Reise ans Ende der Nacht" ihn tief beeindruckt haben dürfte. Als Céline 1961 stirbt, widmet Brinkmann ihm gar ein Gedicht. Doch auch Proust, Benn und Stefan George finden namentlich ihren Niederschlag in Brinkmanns frühen Gedichten. Es wird nur zu deutlich, dass Rolf Dieter Brinkmann sich in seinem Hass auf die bürgerliche Scheinwelt auf Vorbilder der literarischen Avantgarde bezieht. Und dennoch spürt man beim Lesen dieses Drücken in den Zeilen, die etwas anders, etwas neu machen wollen. 1960 ist eben nicht mehr 1920. In seinem "Gedicht: 1960" legt sich Brinkmann schließlich Rechenschaft ab:

    Mond Katzen Fische und Vögel
    liebe ich trotz einsteinscher Formeln
    und Kernspaltung und mir
    gilt viel ein Vers von
    Bo-djü-I über den Regen
    Ich will auch nicht sagen
    die Welt sei schlechter geworden zu leben mit
    UKW und Frigidair, mit Mozart
    im Stereoton
    aber ich sah in den Augen
    der Frauen, die ich liebe die lautlose
    Furcht geschrieben in schwarzen Lettern


    In Anbetracht des Spannungsfeldes von Tradition und ihrer Überwindung ist die Frage, wie sich die alte Wut in eine Neue verwandeln lässt - und wie ein trotziges 'Dennoch' die Poesie weiterhin auch mit leisen Zwischentönen versehen darf. Noch bevor der Pop- und Underground-Diskurs seine Pforten für Rolf Dieter Brinkmann öffnet, platzt bereits der Lack der Avantgarde von seinen Gedichten ab, und genau das macht ihre Stärke aus; bisweilen mutet der zwischen Blühwilligkeit und Zerstörungssehnsucht zu lokalisierende Aufbruch Brinkmanns dabei wie ein barocker Ansatz an.

    Allerdings, und das muss auch gesagt werden, sind diese Gedichte mit Anfang 20 geschrieben worden, das heißt, Brinkmann war sehr jung, noch in den Fängen des Spätpubertären, des irgendwie auch Konventionellen und er konnte an Lebenserfahrung nicht eben der Reichste sein, was bedeutet, dass manches von dem, was in den Gedichten verhandelt wird, wie aus der Konserve, also aus zweiter Hand erscheint. Verglichen mit seinen im Buch "Standphotos" versammelten Gedichten oder seinem berauschenden lyrischen Vermächtnis, dem Gedichtband "Westwärts I & II" verblassen Brinkmanns lyrische Aufbrüche. Sie lesen sich so, als würde man einen Ferrari mit angezogener Handbremse fahren. Doch ein Ferrari ist immer noch ein Ferrari. Und ein Rolf Dieter Brinkmann immer noch ein Rolf Dieter Brinkmann. Wie auch immer: Deutschland kann froh sein, so einen gehabt zu haben.

    Und in der Wochenschau neulich
    sah ich den Aschentod wieder lächeln
    im Mund eines japanischen Fischers
    und wußte mehr über das Grauen
    als Professoren, die
    Nobelpreis erhielten

    Leute wie ihr tagtäglich in Trams
    PAA und Zügen fahrt, frühmorgens und raucht
    Zigaretten zwischen Paris
    und N.Y.
    mißtraut dieser Gleichung
    von Masse und Gewicht


    Rolf Dieter Brinkmann: Vorstellung meiner Hände, Rowohlt Verlag, 96 Seiten, 16 Euro