Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Im und um den Dorfgarten herum

Emma Weger zieht ihre alten Schuhe an und macht sich auf den Weg zum gemeinschaftlichen Dorfgarten, fünf Minuten von ihrem Wohnhaus mitten im Ort entfernt. Die Hausschürze – hier Vorscher genannt - behält sie an.

Von Antonia Kreppel | 13.11.2004
    Ist ja hier keine Stadt, oder (lacht):; die Leute sind modern, heute trägt man keine Schürze mehr, Hosen und ein T-Shirt.

    Es muss gegossen werden. Außerdem braucht sie frische Luft, was soviel bedeutet wie: mal schauen, wen man trifft. Dorfe heisst das hier, plaudern.

    Das Mundwerk hab ich noch gut.

    Nur: Ist auch jemand da zum dorfe? Im akkurat eingezäunten Garten zupft niemand Unkraut.

    Wir haben ja alle auch zu tuen und da bleibt man nicht so lange im Garten. Es ist wirklich manchmal eine Totenstille im Dorf. Das ist schlimm.

    Der Dorfgarten ist eine Art umgegrabene Familien-Dorfgeschichte:

    Und der da gehört mir, alles mir, und das da gehört der Schwester und ihrer Schwiegertochter. Der erste ist der Schwiegertochter und da oben ist wieder einer, das ist ein Verwandter von mir, Vetter sagen wir.

    Spinat, Cabis - Kohl, Gelbe Rüben, Salat, Lauch, Rote Rande, Krautstile, Schalotten – alles heimisches Gemüse, das in nur vier Monaten auf über 1350 Meter Höhe wächst bis es geerntet wird; nur Sellerie und Fenchel sind sozusagen "zugezogen".
    Eindringlinge unten im Land, also unter der Erde, werden erbarmungslos vernichtet.

    Die sind alle mit Würmer. Jetzt nehm ich die da rüber und stampfe mit dem Fuß drauf, dass sie nicht noch mal hinein kommen. Dass die Würmer kaputt gehen.

    Die dreiunddsiebzigjährige drahtige Emma Weger ist stets auf flinken Füssen unterwegs. Arbeiten, das hat sie von Kindheit an gelernt. Die Großfamilie mit 10 Geschwistern versorgt; bei anderen im Haushalt gearbeitet; mit ihrem Mann eine kleine Landwirtschaft geführt. Sie selbst ist kinderlos geblieben.

    Geschinen: Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch. Die alte Sennerei mit dem steinernen Waschtrog ist längst geschlossen. Eng sind die dunklen Holzhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert aneinandergereiht; sie wirken stolz und behäbig; uneinsehbar! Die kleinen weissumrandeten Fenster mit den lichten Gardinen und den grünen Fensterläden sind meist geschlossen.

    Heute ist sogar Betrieb. Der älteste Dorfbewohner, ein Schafbauer, fährt mit dem Traktor vorbei.

    Da ist jetzt ein Ferienhaus und da ist noch ein Bauer.

    Kleine grasbewachsene "Hauswege" führen zwischen Ställen und Kornspeichern hindurch. Am neuen Dorfbrunnen aus edlem Granitstein verweilt sie für einen Augenblick; die Wasserleitung rauscht eintönig. Am alten Holzbrunnen hat sie noch bis 1964 die Wäsche gewaschen.

    Der Brunnen ist recht, es ist eine gute Arbeit, aber es passt nicht zum Holz; es ist schade, aber man hat da ja nicht mehr viel zum sagen. Die Jungen, die haben ganz eine andere Einstellung, die machen was sie wollen, soviel ich weiss. Ich muss jetzt gar ehrlich sagen, ich bin stimmberechtigt, aber ich gehe nie. Ich habe es nie betrieben und ich gehe nie. Wenn man einmal in die Versammlungen geht und wenn eine Frau etwas sagt, wird man ausgelacht.

    Drei Gemeinderäte gibt es im Ort, einen Gemeindepräsidenten, den Vize-Gemeindepräsidenten, den Gemeindeschreiber, den Friedensrichter und den Vize-Friedensrichter. Eine Frau in der Dorfpolitik gab es bislang in Geschinen nicht.

    Die Männer werden auch abgeblitzt und eine Dame erst recht. Ja, ja, es ist überall so.

    Gegen den vorgesehenen Parkplatzstreifen direkt vor ihrem Haus hat Emma Weger allerdings erfolgreich protestiert.

    Dann sprech ich mit dem Gemeindepräsident und sag ihm meine Meinung und wenn er es akzeptiert ist es recht und wenn er es nicht akzeptiert ist es mir auch egal.

    Warum und wozu es seit kurzem in dem kleinen Gommer Bergdorf mehrere blitzblau gezogene Parkplatzlinien gibt? Achselzucken. Eine Einnahmequelle? Eher mager, sagt das Dorfgerücht. Die Ausgaben sind teurer als die Einnahmen. Fahren doch die Autos auf ihrer Tour über die Pässe meist an Geschinen vorbei.

    Das ist das Schlimmste, im Sommer ist das sehr schlimm, so viele Autos.

    An dem alten Lärchenholztisch etwas zurückversetzt von der Hauptstrasse sitzt - wie so oft - niemand. Emma Weger trifft sich dort manchmal mit den Dorffrauen nach dem Reinigen der gegenüberliegenden Kapelle. Eine mächtige Bronzefigur gesellt sich zu dem wehrschaften Picknickensembel, die den legendären Dorfriesen Wegerbaschi mit einem beladenen Maultier auf dem Rücken zeigt. Sebastian Weger alias Wegerbaschi, ein gefürchteter Heerführer der Oberwalliser gegen die Franzosen, war übrigens ein direkter Vorfahre ihres Ehemanns. Aufmerksam entfernt sie einen Reisnagel von der Holzbank.

    Wenn sie da sitzen, dann haben sie plötzlich einen Reisnagel im Arsch.

    Von der gegenüberliegenden Kirchturmuhr schlägt es Viertel vor zwölf. Das Mittagessen muss zubereitet werden. Hier wird punkt Zwölf gegessen. Danach grüsst man schon mit güätä aabed . Auf dem Rückweg wirft Emma Weger noch einen Blick auf den verkauften und ausgebauten Stall ihrer Schwiegereltern: "Chalet Basel" .

    Das reut mich noch heute, ja. Wir beide hätten da ein wunderbares Häuschen gehabt, mit Aussicht, jetzt hab ich mehr Einsicht wie Aussicht.

    Geschinen ist ein ehemaliges Bauerndorf und leitet sich aus dem italienischen Cascina - Käserei - ab. Noch bis ins 20. Jahrhundert existierte Naturalwirtschaft; war es landwirtschaftlich autark. Erst 1950 setzen wirtschaftliche Umwälzungen ein: Militäranlagen und ein Kraftwerk wurden gebaut und brachten schließlich Bargeld, das die Landwirtschaft zuvor nicht gab. Mit dem Rückgang der Landwirtschaft blühte der Tourismus auf. Die Kühe auf den Weiden verschwanden zusehends. Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer hat in seiner literarischen Erzählung "Heimgekehrt ins Land der Kuh", eine Ode an die Kuh verfaßt:

    Die Inder beten die Kühe an: wir sollten es. In der Kuh ist vielleicht unser Bestes verschlossen, und nun fehlt uns ihre Weisheit. Aus ihren grossen Augen schaut die Botschaft. Ihre Sprache klagt, aber wir hören nur Muh.
    Schwebten die Kühe einst Klüften entlang, singend, sich in den Wasser spiegelnd, Nahrung aus der Luft saugend? Fern in den Ebenen ging der Mensch, der in Felle gekleidete. Er konnte nicht klettern, nicht fliegen, nichts.
    Ich möchte einschlafen und diesen Traum träumen: Ich klettere über den elektrischen Zaun einer Weide und stelle mich zwischen die Kühe. Grase mit ihnen, grase, bis wir uns so gleichen, dass die Leser, die vorbeigehen, die Kühe grüssen und der Bauer mich melkt.

    Geschinen heute. Geblieben sind die Berggipfel, die Pässe in die anliegenden Länder und Kantone, der Blick ins Tal, die eng aneinander gebauten Häuser im Dorf, der Blick zurück in die Vergangenheit und die Sprache: der Walliser Dialekt, der stark vom übrigen Schweizerdeutsch abweicht. Bezeichnender Weise "Ausserschweizer" nennen die Gommer ihre Eidgenossen, die außerhalb des Wallis leben. -
    Die Zeit scheint in dem kleinen Bergdorf Geschinen still zu stehen und treibt doch voran.