Dienstag, 16. April 2024

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"Im Westen verstehen sie unsere Demokratie gar nicht"

Für die Moskauer Publizistikwissenschaftlerin Galina Woronenkowa hat der Westen die Demokratie in Russland bisher missverstanden. Bislang habe es lediglich einen Demokratisierungsprozess gegeben. Der erhalte neuen Auftrieb durch die Proteste gegen die Wahlfälschungen, sagte Woronenkowa im Deutschlandfunk.

Galina Woronenkowa im Gespräch mit Mario Dobovisek | 04.02.2012
    Mario Dobovisek: Ein Großaufgebot an Demonstranten, Gegendemonstranten und Sicherheitskräften wird Moskau also heute erleben, der Bericht von Gesine Dornblüth. Gestern Nachmittag hatte ich Gelegenheit mit Galina Woronenkowa zu sprechen. Sie leitet das Freie Russisch-Deutsche Institut für Publizistik an der staatlichen Universität in Moskau, und meine erste Frage lautete: Wer beteiligt sich eigentlich an den Demonstrationen?

    Galina Woronenkowa: Na ja, verschiedene Leute, von den Jugendlichen – also ab 16 Jahre alt –, Rentner und Mittelstand auch. Bei der letzten Demo waren es natürlich sehr viele Leute vom Mittelstand.

    Dobovisek: Und was bedeutet das für Russland, wenn der Mittelstand auf die Straße geht?

    Woronenkowa: Mir erscheint das als kleine Erinnerung an die 90er-Jahre.

    Dobovisek: Da hatten wir ja bereits einen Aufbruch in Richtung Demokratie. Was ist heute aus diesem Aufbruch von einst geworden?

    Woronenkowa: Normalerweise verstehen Sie im Westen unsere Demokratie gar nicht, weil bei uns gab es noch keine Demokratie. Es gab nur einen Demokratisierungsprozess, vielleicht darf ich das so sagen.

    Dobovisek: Und wo steht der Demokratisierungsprozess heute?

    Woronenkowa: Sehr weit, weil die Leute auf der Straße sind.

    Dobovisek: Ist das also ein gutes Zeichen für die Demokratie in Russland?

    Woronenkowa: Ich meine, ja, warum nicht.

    Dobovisek: Wohin sollte sich die Demokratie bewegen, zum Beispiel auch durch die Protestbewegung?

    Woronenkowa: Das kann man normalerweise nicht sagen, das ist eine Protestbewegung, das kann man nicht vergleichen mit anderen Ländern. Das war Protest gegen nichtfreie Wahlen. Die Menschen wurden belogen.

    Dobovisek: Das heißt, die Regierung hat die Menschen belogen, und deshalb gehen die Menschen auf die Straße?

    Woronenkowa: Das ist nicht die Regierung, warum denn die Regierung? Es gibt einen Präsident, es gibt eine Regierung, und es gibt auch diese Wahlkommission, das war ein Fehler der Wahlkommission.

    Dobovisek: Und ist das sozusagen ein …

    Woronenkowa: Sie haben einfach die Wahlergebnisse verfälscht.

    Dobovisek: Muss es deshalb Neuwahlen geben?

    Woronenkowa: Sehr viele Leute wollen neue Wahlen.

    Dobovisek: Sie organisieren einen Aufbaustudiengang für junge Russen, die unter anderem auch den journalistischen Alltag in Deutschland kennenlernen können. Wie bringen Sie Ihren Studenten bei, ein guter Journalist zu sein?

    Woronenkowa: Wie in Deutschland auch, wir haben ein gemischtes Programm, das wir gemeinsam mit deutschen Professoren erarbeitet haben.

    Dobovisek: Was zeichnet in Russland einen guten Journalisten aus?

    Woronenkowa: Mir scheint, die Kriterien sind gleich wie in Deutschland auch, dass ist der Mensch, der keine Sperren im Kopf hat, der frei ist natürlich, der unparteilich ist, objektiv, klug und schreiben kann.

    Dobovisek: Wie weit darf Freiheit und Objektivität bei russischen Journalisten gehen?

    Woronenkowa: Das ist ein riesiges Problem, weil die Situation am Medienmarkt bei uns war nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr stark verändert. Normalerweise haben wir fast keine qualitativen Zeitungen, zum Beispiel wie in Deutschland "FAZ" oder "Welt" oder "Süddeutsche Zeitung". Wir haben solche fast nicht …

    Dobovisek: Woran liegt das?

    Woronenkowa: Es ist kompliziert zu sagen. Es liegt an der Umstrukturierung des Medienbereichs insgesamt. Früher hatten wir nur staatliche, und seit 1991 auch private Medien. Und natürlich wollte hier der Besitzer etwas zu sagen haben, das war das erste Problem, und das zweite Problem war, dass sehr lange unsere Medienbesitzer nicht verstanden, dass zum Beispiel eine Zeitschrift oder eine Zeitung ein Wirtschaftselement ist, aber nicht ein Element der Propaganda und Agitation.

    Dobovisek: Wie groß ist dann heute noch der Einfluss zum Beispiel jetzt in der Protestbewegung durch Präsident, durch die Regierung und andere staatliche Organe auf die Medien?

    Woronenkowa: Normalerweise scheint er mir sehr stark auf das staatliche Fernsehen, auf die Zeitungen nicht so viel. Hoffentlich.

    Dobovisek: Wird denn die aktuelle Protestbewegung den Journalismus in Russland verändern können?

    Woronenkowa: Komplett schwer zu sagen, natürlich. Weil diese Bewegung in Richtung Boulevardisierung gefällt mir zum Beispiel gar nicht, weil ich möchte gerne verschiedene Arten der Printmedien haben wie in Deutschland zum Beispiel, und im Fernsehen auch. Aber unser Präsident hat uns versprochen, dass in Zukunft ein öffentliches Fernsehen existieren müsste. Ob sie das jetzt schaffen oder nicht ... Hoffentlich ja, aber wie und in welcher Weise, ist komplett schwer zu sagen

    Dobovisek: Welche Rolle spielen auch bei den aktuellen Protesten neue Medien wie zum Beispiel soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter?

    Woronenkowa: Sehr viel, eine riesige Bedeutung haben sie. Sehr viel Information kommt eigentlich von Facebook.

    Dobovisek: Weil niemand in Russland mehr den öffentlichen etablierten Medien traut?

    Woronenkowa: Kann man so nicht sagen. Es gibt Traditionen, und die Leute glauben auch staatlichen Fernsehkanälen. Aber die Intellektuellen und der Mittelstand zurzeit glauben mehr, scheint mir, an die Neuen Medien.

    Dobovisek: Galina Woronenkowa, Direktorin des Freien Russisch-Deutschen Instituts für Publizistik an der staatlichen Universität in Moskau um 8:25 Uhr im Deutschlandfunk..


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